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Ziel angekommen. Er parkte den Wagen auf dem Seitenstreifen und sah Olivia bedauernd an.

      »Es tut mir leid.« Er meinte es ernst, und die junge Frau nickte unter Tränen.

      »Ich wollte wirklich kommen. Obwohl ich eigentlich total wütend auf Mama bin.« Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm sie dieses Kosewort in den Mund. »Wissen Sie, warum sie sich nie bei mir gemeldet hat? Warum sie mich nicht wollte?« Olivia wirkte wie ein verzweifeltes kleines Mädchen.

      Daniel konnte nicht anders und streckte die Hand nach ihr aus. Zärtlich streichelte er ihr über die Wange.

      »Christine hat dich sehr geliebt. Ich erinnere mich gut an ihre lebhaften Erzählungen. Wenn sie bei mir war, hat sie immer von dir berichtet, hat erzählt, was deine Großmutter über dich geschrieben hat. Ich hatte fast den Eindruck, dass du bei deiner Mutter lebst, so lebendig und begeistert hat sie gesprochen.«

      Doch die Worte des Arztes vermochten Olivia nicht zu trösten.

      »Wenn es wahr ist, was Sie sagen, warum hat sie sich dann nie bei mir gemeldet?«, schluchzte die junge Frau verzweifelt. Daniel beugte sich vor. Er öffnete das Handschuhfach und suchte und fand eine Packung Taschentücher, die er Olivia in die Hand drückte.

      »Christine war eine sehr stolze Frau. Ich könnte mir vorstellen, dass sie nicht wollte, dass du sie so siehst. So krank, unfähig, ihr Leben in den Griff zu bekommen.«

      Während sie über die Worte des Arztes nachdachte, trocknete sich Olivia die Tränen.

      »Woran ist sie gestorben?«, fragte sie schließlich heiser.

      »Weltschmerz, Depressionen und Trauer darüber, dass ihr Leben anders verlief, als sie es sich wünschte?«, konnte Daniel nur Mutmaßungen anstellen. »Christine war nicht nur stolz, sondern auch sehr sensibel.«

      Olivia nickte und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um ihr aufgewühltes Inneres, ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen.

      »Schon komisch, dass das Schicksal mich ausgerechnet zu Ihnen geschickt hat«, murmelte sie versonnen und betrachtete das Haus zu ihrer linken.

      Es war das Haus ihrer Mutter, das Olivia zu ihrer neuen Heimat auserkoren hatte. Ein wenig enttäuscht stellte sie fest, dass der Garten ungepflegt und verwildert war. Und auch das Häuschen schien nicht im besten Zustand zu sein und wirkte ein wenig schäbig im Vergleich zu seinen edlen Nachbarn. Fast wie ein Schandfleck in der noblen Gegend.

      »Du bist jederzeit bei uns zu Hause willkommen«, versprach Daniel fast feierlich. Wenn er seine Patienten nicht warten lassen wollte, wurde es langsam Zeit, in die Praxis zurückzukehren. »Wenn du Fragen hast, Hilfe brauchst oder einfach Sehnsucht nach Familie und Gesellschaft hast, dann ruf an oder komm vorbei.« Er zog die Brieftasche hervor und reichte Olivia eine Visitenkarte. »Unter dieser Nummer kannst du mich jederzeit erreichen.«

      »Vielen Dank.« Fast zärtlich streichelte sie mit dem Daumen über die geschwungenen Buchstaben, ehe sie das Kärtchen sorgfältig in ihrer bunten Umhängetasche verstaute. »Ich werde mich auf jeden Fall melden. Schon wegen des Wagens.«

      »Mach dir darüber mal keine Sorgen. Den bekommen wir schon wieder flott«, versprach Daniel mit so weicher Stimme, dass Olivia fast schon wieder geweint hätte.

      »Ihr Sohn liegt in der Behnisch-Klinik, nicht wahr?«, wechselte sie schnell das Thema. Es gab nicht viel, womit sie sich für die Freundlichkeit des netten Arztes revanchieren konnte. Da wollte sie wenigstens Danny in der Klinik besuchen.

      »Mach dir mal um Danny keine Sorgen«, schlug Daniel einen heiteren Tonfall an, obwohl er sich durchaus Sorgen machte. Er konnte nur hoffen, dass die Infektion nicht weiter voranschritt. Aber darüber musste er nicht mit Olivia sprechen. Sie hatte im Augenblick Sorgen genug.

      Olivia dachte sich ihren Teil und lächelte tapfer.

      »In Ordnung. Dann geh ich mal.«

      »Soll ich mitkommen?«, erkundigte sich der fürsorgliche Arzt, obwohl die Zeit inzwischen drängte.

      »Nein, danke, das schaffe ich schon.« Olivia stieg aus und holte ihr Gepäck. Sie winkte Daniel Norden noch einmal zu und marschierte dann tapfer den Gartenweg hinauf in eine ungewisse Zukunft.

      *

      Tatjana war zutiefst erschrocken, als sie in der Praxis angerufen und von Dannys Unfall erfahren hatte. Mit wehenden Fahnen hatte sie Frau Bärwalds Bäckerei verlassen – sie arbeitete dort neben ihrem Studium, um sich ein wenig Geld zu verdienen – und war in die Klinik geeilt.

      »Was machst du denn für Sachen?«, fragte sie besorgt und fast ein wenig vorwurfsvoll, nachdem sie ihren Freund mit einem Kuss begrüßt hatte. Dannys Arm war inzwischen bandagiert und mit einer Schiene fixiert.

      »Ich? Ich?«, schimpfte Danny ungehalten, das Gesicht vor Schmerz verzogen. »Wenn mir diese dumme Pute nicht die Motorhaube auf die Hand geknallt hätte, wäre gar nichts passiert.«

      »Na, die Ärzte sehen das aber anders.« Tatjana hatte sich bei Daniel Norden genau über die Einzelheiten informiert.

      »Bist du etwa auch gegen mich?«, funkelte Danny seine Freundin wütend an.

      Nicht auf den Mund gefallen, hatte Tatjana wie üblich einen entsprechenden Kommentar auf den Lippen. Doch sie war klug und besonnen genug, um ihn sich im letzten Moment zu verkneifen.

      »Keiner hier ist gegen dich«, versuchte sie, ihn zu besänftigen, und wackelte mit der Tüte vor seiner Nase herum, die sie noch schnell in der Bäckerei für ihn gepackt hatte. »Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.«

      Doch Danny war nicht in der Stimmung, sich aufheitern zu lassen.

      »Keinen Hunger«, erwiderte er düster und drehte beleidigt den Kopf weg.

      »Du meine Güte, man könnte ja meinen, du liegst auf dem Sterbebett«, seufzte Tatjana und zog sich einen Stuhl heran. Sie konnte sich diesen Kommentar erlauben. Mit jungen Jahren hatte sie bei einem Autounfall nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihr Augenlicht verloren. Doch sie hatte nicht aufgegeben und sich tapfer zurück ins Leben gekämpft. Die Behinderung hatte ihre übrigen Sinne geschärft, sie zäh und unnachgiebig gegen sich selbst gemacht. Tatjana lebte fast so wie eine Sehende und bediente sogar in Frau Bärwalds kleinem Café. Nach einer Operation hatte sie einen Teil ihrer Sehkraft zurückerhalten. Doch ihre Unnachgiebigkeit gegen die Willkür des Schicksals war geblieben. »Jetzt reiß dich mal zusammen! Das wird schon wieder.«

      »Du redest dich leicht!«, brauste Danny kurz auf. Dann sank er matt zurück in die Kissen. Der Schmerz verbrauchte all seine Energie.

      Ungerührt saß Tatjana am Bett.

      »Das tue ich nicht und das weißt du genau. Ich bin selbst kein unbeschriebenes Blatt.«

      »Dann solltest du ja eine ungefähre Ahnung davon haben, wie ich mich fühle. Ein bisschen Empathie wäre wirklich schön.«

      »Empathie ist schön und gut.« Langsam wurde Tatjana wütend. Sie hatte den langen Weg nicht auf sich genommen, um sich Vorwürfe machen zu lassen. »Aber wenn du dich nicht zusammenreißt und den sterbenden Schwan gibst, nützt das auch nichts«, entfuhr es ihr im Eifer des Gefechts.

      Danny schnaubte verletzt, und fast sofort bereute Tatjana ihre Worte. Beschwichtigend legte sie die Hand auf seinen gesunden Arm.

      »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich sanft. »Eigentlich bin ich gekommen, um dir eine Freude zu machen. Nicht, um mich mit dir zu streiten«, erklärte sie versöhnlich. »Wie lange musst du denn hierbleiben?«, fragte sie, als Danny nicht reagierte.

      Mit geschlossenen Augen lag er im Bett und rührte sich nicht.

      »Keine Ahnung«, brummte er endlich missmutig. »Morgen früh werden sie ein neues Blutbild machen, und dann sehen wir ja weiter.«

      Tatjana nickte. Im selben Moment knurrte ihr Magen laut und vernehmlich. In der Eile hatte sie keine Zeit gehabt, Mittag zu essen, was für ihren Körper eine Art Höchststrafe war. So gut es ging, versuchte sie, ihren Hunger zu unterdrücken.


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