Ehstnische Märchen. Friedrich Reinhold Kreutzwald
Außer den von W. Grimm a. a. O. namhaft gemachten Sammlungen sind verschiedene ehstnische Märchen veröffentlicht worden, namentlich in den Jahrgängen 1846, 1848, 1849, 1852 und 1858 des »Inlands«, im illustrirten revalschen Almanach 1855 und 1856 und anderswo; eine ziemlich genaue Aufzählung derselben wird man in Dr. Winkelmanns nun im Druck befindlicher Bibliotheca Livoniae historica S. 39 f. finden. Am beachtenswertesten sind die von den auch sonst um die Literatur der Ehsten hochverdienten beiden Männern Heinrich Neus in Reval und Friedrich Kreutzwald in Werro mitgetheilten Märchen. Der letztere der beiden genannten Herren erhielt auch von der finnischen Literaturgesellschaft in Helsingfors den ehrenvollen Auftrag, eine umfassende Sammlung von ehstnischen Märchen herauszugeben. Diese Sammlung, welche auf 368 Seiten 43 größere und 18 kleinere Stücke umfaßt, erschien im Jahre 1866 zu Helsingfors im Verlage der Literaturgesellschaft mit Bewilligung der letzteren und des Herrn Kreutzwald hat Herr Löwe, welcher sich während seines Aufenthalts in Ehstland anerkennenswerthe Kenntnisse der ehstnischen Sprache erworben hat, vorliegende Uebersetzung unternommen, die sich durch sich selbst so sehr empfiehlt, daß eine Empfehlung von meiner Seite überflüssig sein dürfte. Die Leser dieser freundlichen Schöpfungen der Volkspoesie werden es nicht minder als ich wünschen, daß baldigst eine Fortsetzung der Uebersetzung erscheine.
Schließlich kann ich die erfreuliche Nachricht mittheilen, daß in kurzer Zeit die Veröffentlichung mehrerer durch die Herren Hurt und Jakobson aus dem Volksmunde aufgezeichneter ehstnischer Märchen in den Schriften der gelehrten ehstnischen Gesellschaft in Dorpat zu erwarten ist.
St. Petersburg, den 8. (20.) Februar 1869.
A. Schiefner.
1. Die Goldspinnerinnen.[1]
Ich will euch eine schöne Geschichte aus dem Erbe der Vorzeit erzählen, welche sich zutrug, als noch die Anger nach alter Weise von der Weisheit-Sprache der Vierfüßer und der Befiederten wiederhallten.
Es lebte einmal vor Zeiten in einem tiefen Walde eine lahme Alte mit drei frischen Töchtern: ihre Hütte lag im Dickicht versteckt. Die Töchter blühten schönen Blumen gleich um der Mutter verdorrten Stumpf; besonders war die jüngste Schwester schön und zierlich wie ein Bohnenschötchen. Aber in dieser Einsamkeit gab es keine andern Beschauer als am Tage die Sonne, und bei Nacht den Mond und die Augen der Sterne.
»Brennend heiß mit Jünglingsaugen
Schien die Sonn' auf ihren Kopfputz,
Glänzte auf den bunten Bändern,
Röthete die bunten Säume.«
Die alte Mutter ließ die Mädchen nicht müßig gehen, noch säumig sein, sondern hielt sie vom Morgen bis zum Abend zur Arbeit an; sie saßen Tag für Tag am Spinnrocken und spannen Goldflachs zu Garn. Den armen Dingern wurde weder Donnerstag noch Sonnabend[2] Abend Muße gegönnt, den Gabenkasten zu bereichern,[3] und wenn nicht in der Dämmerung oder im Mondenschein verstohlener Weise die Stricknadel zur Hand genommen wurde, so blieb der Kasten ohne Zuwachs. War die Kunkel abgesponnen, so wurde sofort eine neue aufgesetzt, und überdies mußte das Garn eben, drall und fein sein. Das fertige Garn verwahrte die Alte hinter Schloß und Riegel in einer geheimen Kammer, wohin die Töchter ihren Fuß nicht setzen durften. Von wo der Goldflachs in's Haus gebracht wurde, oder zu was für einem Gewebe die Garne gesponnen wurden, das war den Spinnerinnen nicht bekannt geworden; die Mutter gab auf solche Fragen niemals Antwort. Zwei oder drei Mal in jedem Sommer machte die Alte eine Reise, man wußte nicht wohin, blieb zuweilen über eine Woche aus und kam immer bei nächtlicher Weile zurück, so daß die Töchter niemals erfuhren, was sie mitgebracht hatte. Ehe sie abreiste, theilte sie jedesmal den Töchtern auf so viel Tage Arbeit aus, als sie auszubleiben gedachte.
Jetzt war wieder die Zeit gekommen, wo die Alte ihre Wanderung unternehmen wollte. Gespinnst auf sechs Tage wurde den Mädchen ausgetheilt, und dabei abermals die alte Ermahnung eingeschärft:»Kinder laßt die Augen nicht schweifen und haltet die Finger geschickt, damit der Faden in der Spule nicht reißt, sonst würde der Glanz des Goldgarns verschwinden und mit eurem Glücke würde es auch aus sein!« Die Mädchen verlachten diese mit Nachdruck gegebene Ermahnung; ehe noch die Mutter auf ihrer Krücke zehn Schritte weit vom Hause gekommen war, fingen sie alle drei an zu höhnen. »Dieses alberne Verbot, das immer wiederholt wird, hätten wir nicht nöthig gehabt,« sagte die jüngste Schwester. »Der Goldgarnfaden reißt nicht beim Zupfen, geschweige denn beim Spinnen.« Die andere Schwester setzte hinzu: »Eben so wenig ist es möglich, daß der Goldglanz sich verliere.« Oft schon hat Mädchen-Vorwitz Manches voreilig verspottet, woraus doch endlich nach vielem Jubel Thränenjammer erwuchs.
Am dritten Tage nach der Mutter Abreise ereignete sich ein unerwarteter Vorfall, der den Töchtern anfangs Schrecken, dann Freude und Glück, auf lange Zeit aber Kummer bereiten sollte. Ein Kalew-Sproß,[4] eines Königs Sohn, war beim Verfolgen des Wildes von seinen Gefährten abgekommen, und hatte sich im Walde so weit verirrt, daß weder das Gebell der Hunde noch das Blasen der Hörner ihm einen Wegweiser herbeischaffte. Alles Rufen fand nur sein eigenes Echo,[5] oder fing sich im dichten Gestrüpp. Ermüdet und verdrießlich stieg der königliche Jüngling endlich vom Pferde und warf sich nieder, um im Schatten eines Gebüsches auszuruhen, während das Pferd sich nach Gefallen auf dem Rasen sein Futter suchen durfte. Als der Königssohn aus dem Schlaf erwachte, stand die Sonne schon niedrig. Als er jetzt von neuem in die Kreuz und in die Quer nach dem Wege suchte, entdeckte er endlich einen kleinen Fußsteig, der ihn zur Hütte der lahmen Alten brachte. Wohl erschracken die Töchter, als sie plötzlich den fremden Mann sahen, dessen Gleichen ihr Auge nie zuvor erblickt hatte. Indeß hatten sie sich nach Vollendung ihres Tagewerks in der Abendkühle mit dem Fremden befreundet, so daß sie gar nicht einmal zur Ruhe gehen mochten. Und als endlich die älteren Schwestern sich schlafen gelegt hatten, saß die jüngste noch mit dem Gaste auf der Thürschwelle, und es kam ihnen diese Nacht kein Schlaf in die Augen.
Während die Beiden im Angesicht des Mondes und der Sterne sich ihr Herz öffnen und süße Gespräche führen, wollen wir uns nach den Jägern umsehen, die ihren Anführer im Walde verloren hatten. Unermüdlich war der ganze Wald nach allen Seiten hin von ihnen durchsucht worden, bis das Dunkel der Nacht dem Suchen ein Ziel setzte. Dann wurden zwei Männer in die Stadt zurückgeschickt, um die traurige Botschaft zu überbringen, während die Uebrigen unter einer breiten ästigen Fichte ihr Nachtlager aufschlugen, um am nächsten Morgen wieder weiter zu suchen. Der König hatte gleich Befehl gegeben, am andern Morgen ein Regiment zu Pferde und eins zu Fuß ausrücken zu lassen, um seinen verlorenen Sohn aufzusuchen. Der lange weite Wald dehnte die Nachforschungen bis zum dritten Tage aus; dann erst wurden in der Frühe Fußstapfen gefunden, die man verfolgte und dadurch den Fußsteig entdeckte, der zur Hütte führte. Dem Königssohne war in Gesellschaft der Mädchen die Zeit nicht lang geworden, noch weniger hatte er Sehnsucht nach Hause gehabt. Ehe er schied, gelobte er der Jüngsten heimlich, daß er in kurzer Zeit wiederkommen und dann, sei es im Guten oder mit Gewalt, sie mit sich nehmen und zu seiner Gemahlin machen wolle. Wenn gleich die ältern Schwestern von dieser Verabredung nichts gehört hatten, so kam die Sache doch heraus und zwar in einer Weise, die Niemand vermuthet hätte.
Nicht gering war nämlich der jüngsten Tochter Bestürzung, als sie, nachdem der Königssohn fortgegangen war, sich an den Rocken setzte und fand, daß der Faden in der Spule gerissen war. Zwar wurden die Enden des Fadens im Kreuzknoten wieder zusammengeknüpft und das Rad in rascheren Gang gebracht, damit emsige Arbeit die im Kosen mit dem Bräutigam verlorene Zeit wieder einbrächte. Allein ein unerhörter und unerklärlicher Umstand machte das Herz des Mädchens beben: das Goldgarn hatte nicht mehr seinen vorigen Glanz. — Da half kein Scheuern, kein Seufzen und kein Benetzen mit Thränen; die Sache war nicht wieder gut zu machen. Das Unglück springt zur Thür in's Haus, kommt durch's Fenster herein und kriecht durch jede Ritze, die es unverstopft findet, sagt ein altes weises Wort; so geschah es auch jetzt.
Die Alte war in der Nacht nach Hause gekommen. Als sie am Morgen in die Stube trat, erkannte sie augenblicklich, daß hier etwas Unrechtes vorgegangen sei. Ihr Herz entbrannte in Zorn; sie ließ die Töchter eine nach der andern vor sich kommen und verlangte Rechenschaft. Mit Leugnen