Karin Bucha Paket 1 – Liebesroman. Karin Bucha
die durch ihren Kopf huschen und nicht verweilen. Keinen diesen Gedanken vermag sie zu Ende zu denken.
Gert, den sie liebt, Herrgott! Er weiß nicht, daß sie eine Tochter besitzt. Nie hat sie darüber gesprochen. Er will sie zur Frau nehmen. Aber wird er auch sein Wort halten, wenn er weiß, daß sie ihm eine erwachsene Tochter… Sie lebt! Inka lebt! Und sie ist indessen ein erwachsener Mensch geworden.
Lieber Gott, was soll ich tun? Was soll ich tun? Ihre Augen irren umher. Nirgends finden sie einen Halt. Sie bleiben auf dem Bildschirm des Fernsehapparates haften. Da war noch vor kurzem das Bild Inkas, das Bild ihrer Tochter. Sie lebt, Inka lebt! Und sie liebt Gert Wendhoff, wie sie weiß, noch nie geliebt zu haben.
Freundlich plaudernd kommen die beiden Herren zurück. Auf einmal gibt es keine Spannung mehr zwischen ihnen. Sie haben sich auf dem Arbeitsgebiet gefunden.
Leonore sitzt wie zerbrochen in ihrem Sessel. Gert stellt die Veränderung, die mit ihr vorgegangen ist, zuerst fest.
»Was hast du, Leonore? Wie siehst du aus?«
Aus glanzlosen Augen, in denen noch die Tränen stehen, sieht sie zu ihm auf. Ihr Mund zittert. Er möchte Worte formen und kann es nicht.
Erbarmungswürdig sieht sie aus. Aber sie will es nicht zugeben. Nein! Noch kann sie nicht zu Gert von Inka sprechen. Noch nicht! Erst will sie seine Frau sein. Sie wird alles verschweigen. Jetzt, da sie ihn vor sich sieht, kommt ihr die Stärke ihres Gefühls für ihn erst richtig zum Bewußtsein. Aber sie liebt auch ihr Kind. Nächtelang hat sie nach ihm geweint.
»Leonore!« mahnt er sie geduldig und teilnehmend.
Wie erwachend streicht sie sich über Augen und Stirn und zwingt sich zu einem kläglichen Lächeln.
»Verzeih, Gert, verzeih bitte, mir war plötzlich ganz elend. Ich glaube, das kommt von der Hitze.«
»Aber hier ist es doch angenehm kühl, Leonore.« Schnitzler beobachtet Leonore scharf. Irgend etwas ist mit Leonore geschehen, während sie draußen waren. Aber was?
»Entschuldigt mich einen Augenblick«, sagt sie und zwingt die Stimme zur Festigkeit. »Ich will nur schnell ein Pulver nehmen gegen mein Unwohlsein.«
»Ich hole es dir aus dem Badezimmer.« Hilfsbereit drückt Wendhoff sie in den Sessel, doch Leonore macht sich frei.
»Nein! Nein, danke! Ich gehe selbst.« Und schon ist sie davongelaufen.
Bedrückt bleiben die beiden Herren zurück. Wendhoff reicht dem Gast die Zigarettendose. »Verstehen Sie das, Herr Schnitzler?« fragt er bekümmert. »Leonore wird doch nicht ernstlich krank werden?«
»Merkwürdig, höchst merkwürdig«, erwidert Schnitzler, und in der gemeinsamen Sorge um die Frau, die sie beide lieben, kommen sie sich noch näher.
Nach wenigen Minuten erscheint Leonore wieder. Keiner sieht ihr den Kampf an, den sie soeben in der Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers mit sich und ihrem Mutterherzen geführt hat.
Sie wird eine plötzliche Geschäftsreise vorschützen und heimlich in das Lager fahren. Später dann, nach der Hochzeit, wird sie Inka zu sich holen!
Sie sieht zwar noch blaß aus, aber jetzt glänzen ihre Augen wieder, und ihre Lebhaftigkeit ist wieder da.
Sie bedient die Herren mit frischem Tee lacht und scherzt, und dabei zittert alles in ihr.
Manchmal trifft sie ein besorgter Blick Wendhoffs, dann lächelt sie ihm beruhigend zu. Nur sie weiß, was dieses Lächeln kostet.
*
Inka Hellweg dreht das Telegramm ratlos in ihren Händen, die immer noch die Spuren der harten Fron aufweisen.
Ankomme gegen vierzehn Uhr.
Leonore Breitenstein.
Einmal, zweimal liest sie. Sie wagt nicht, den Kopf zu heben und die Leiterin der Frauenabteilung des Lagers anzublicken.
Leonore Breitenstein. Das ist ihre Mutter! Sie kann sich die Frau nicht vorstellen, die ihre Mutter ist. Sie kennt nur ein Leben unter vielen, ein Gemeinschaftsleben, an dem jeder Anteil an den Ereignissen des anderen nimmt und doch einsam, todeinsam sein kann. So wie sie es war und noch ist.
»Freuen Sie sich nicht, Ihre Mutter endlich gefunden zu haben?« dringt die Stimme der Leiterin in ihre Gedanken ein.
»Doch – ich freue mich«, sagt Inka, aber es klingt wie etwas Auswendiggelerntes.
Die Leiterin, eine Frau, die viel Verständnis für die Nöte der ihr übergebenen jungen und alten Menschen hat, versucht in dem gesenkten Gesicht zu lesen. Sie weiß, man muß behutsam mit ihnen umgehen. So vieles ist auf sie eingestürzt, so vieles, an das sie sich langsam gewöhnen müssen. Vor allem, daß sie in Freiheit leben, daß sie ihren Tagesablauf selbst bestimmen können, sofern er nicht gegen die Lagerordnung verstößt.
Es ist ein schönes, feingezeichnetes Gesicht, umrahmt von schwarzen Locken, die gelöst bis auf die schmalen Schultern fallen. Sie hat es dem Lagerfriseur nicht geopfert. Als sie jetzt die dichtbewimperten Lider erhebt, erschrickt die Leiterin vor der tiefen Traurigkeit dieser wunderschönen samtenen Augen.
»Verzeihen Sie, aber ich habe gar keine Erinnerung mehr an meine Mutter«, sagt der junge, vom Leid gezeichnete Mund. Und dann huscht der Schatten eines Lächelns darüberhin. »Aber ich freue mich auf sie.«
Mutter! In wieviel Nächten hat sie sich nach weichen Mutterarmen, nach einer Liebkosung gesehnt. Und nun ist es Wirklichkeit? Eine überwältigende Wahrheit.
Inka muß allein sein. Sie muß das alles in sich verarbeiten. Die Leiterin nickt ihr freundlich zu.
*
Einige Stunden später sitzt Leonore auf demselben Stuhl, auf dem Inka vor ihr gesessen hat. Indessen dröhnt der Lautsprecher über das Lager:
»Inka Hellweg wird in die Verwaltung gebeten! Inka Hellweg wird in die Verwaltung gebeten!«
Inka taumelt aus ihrer Versunkenheit empor. Das gilt ihr. Ihr Herz scheint auszusetzen. Die Spannung, die sie aufrecht erhalten hat, scheint noch in ihr zu wachsen, schier bis zur Unerträglichkeit.
Sie geht langsam über den Platz.
Behutsam öffnet sie die Tür zu dem Raum. Sie muß die Augen schließen, weil die Sonnenstrahlen durch das Fenster direkt in ihr Gesicht treffen.
Sie hebt die Lider. Verschwommen gewahrt sie eine schlanke Frau, schön, elegant. Ein feiner Duft strömt ihr entgegen, und dann öffnen sich zwei Arme.
»Inka… mein Kind, mein Mädelchen!«
Inka stürzt vorwärts, mitten hinein in die sehnsüchtig geöffneten Arme. Sie läßt sich herzen und küssen. Ihre Tränen vermischen sich mit denen ihrer Mutter.
»Mutter! Mutter!« Immer stammelt Inka das eine Wort, unter wildem Schluchzen und heißen Freudentränen.
*
Leonore und Tochter Inka sitzen Hand in Hand auf der Bank im Zimmer der Verwaltung. Taktvoll hat die Leiterin den Raum verlassen.
Alles hat Leonore vergessen, daß es eine große Liebe gibt zu Gert Wendhoff, den sie bald heiraten wird, daß sie um den Besitz dieses Mannes kämpfen will. Nur das Glück ist in ihr, das geliebte und wiedergefundene Kind bei sich zu haben, den Druck der schmalen, hartverarbeiteten Hand zu spüren.
Es ist ein stilles, wortloses Glück. Mit geschlossenen Augen, weich in Leonores Arm gebettet, liegt Inka, und zum ersten Male fühlt sie die Geborgenheit und die Wärme, die von den schützenden Armen ausgeht.
»Wie schön das ist!« flüstert Inka, unter der Wucht ihrer Empfindungen erschauernd. »Das wird nun immer so sein. Wir werden immer zusammen sein. Oh, Mutti!«
Noch fester legt Leonore den Arm um ihr Kind, noch inniger wird der Druck ihrer Hand.
»Immer, Inka«, bestätigt Leonore, und gleichzeitig durchfährt sie ein heißer Schreck. Mein Gott, wenn sie einmal wählen