Karin Bucha Paket 1 – Liebesroman. Karin Bucha
Inka ist Leonores Tochter, die Tochter jener Frau, der er so unendlich viel verdankt. Alles überhaupt, was er bis jetzt geworden ist.
Hat Leonore vielleicht gespürt, daß geheime Fäden zwischen ihnen hin und her laufen, ihnen selbst nicht bewußt, nur ihm eben jetzt, im Augenblick?
Über seine Züge legt sich die Verschlossenheit wie eine Maske. Langsam dreht er sich dem Fenster wieder zu, sieht hinaus auf den Strom, der unaufhaltsam dem Meer zufließt. Ebbe und Flut wechseln sich ab. Ist es nicht genau wie im Leben? Gefühle kommen und gehen? Kann man überhaupt zweimal lieben? Er liebt Leonore! Oder – hat sich sein Gefühl für sie gewandelt?
Ohne Inka mehr zu beachten, geht er aus dem Zimmer. Wieder steht Inka allein, den Tränen nahe. Sekundenlang war ihr, als müsse ihr das Herz stillstehen. Ein Funke war aus seinen hellen Augen auf sie übergesprungen und hat sie wie ein Blitz getroffen. Sie zittert jetzt noch und weiß nicht, was sie tun soll.
Mein Gott! Sie birgt das Gesicht in den Händen. Ich liebe Gert. Ich liebe den Mann meiner Mutter!
Aber er? Er hat sie allein gelassen. Wohin soll sie sich flüchten mit diesem neuen, sie beherrschenden Gefühl, das sie glückselig und zugleich tiefunglücklich macht.
Selbst wenn sie sich getäuscht haben sollte: sie liebt Gert. Ihre Widerspenstigkeit, ihre Schroffheit ihm gegenüber waren nichts als ein Schutz gegen ihr eigenes Herz. Sie will ihn nicht lieben. Sie darf ihn nicht lieben. Sie würde ihre Mutter todunglücklich machen.
*
Im Haus Blankenese ist Ruhe eingekehrt, seitdem Leonore abgereist ist. Es ist eine Ruhe, die irgendwie mit Spannung geladen ist. Gert und Inka gehen sich aus dem Weg. Gert muß seine Mahlzeiten allein einnehmen. Inka frühstückt sehr zeitig morgens und fährt dann ins Geschäft, und am Abend hat sie immer etwas vor. Sie wirft sich den Vergnügungen hemmungslos in die Arme. Überall ist sie mit dabei, handelt es sich darum, die letzten schönen Tage auf dem Wasser auszunutzen, oder ob man sich zu einem Tänzchen zusammenfindet oder einen Kinobesuch beabsichtigt. Nie fehlt Inka, und immer ist Jürgen Bergen an ihrer Seite. Man munkelt schon von einer bevorstehenden Verlobung, dabei ist es nur eine gute Freundschaft, die die beiden jungen Menschen verbindet.
Jürgen hat indessen als Assistenzarzt im Marie-Luisen-Krankenhaus seine erste Anstellung gefunden. Und da er seinen Beruf sehr ernst nimmt, kann er sich weniger an den Unterhaltungsabenden beteiligen.
Sehr erfreut ist Inka, als er sie eines Tages auffordert, ihn im Krankenhaus aufzusuchen. Mit größtem Interesse läßt sie sich über Treppen und Gänge führen und alles zeigen. Auch in manches Zimmer darf sie blicken, hinter dessen Tür der Tod lauert, gegen den die Ärzteschaft einen heldenhaften Kampf führt.
Von solchem Besuch kehrt sie immer sehr still und traurig zurück, und sie lernt Jürgen mit anderen Augen betrachten. Hier ist er nicht der ulkige, vor Übermut schäumende Kamerad, hier ist er ernsthafter Helfer der leidenden Menschheit. Sie bekommt Hochachtung vor ihm.
Er liebt Inka, und nie spürt sie seine heimliche Liebe mehr, als wenn sie an seiner Seite Kranke besucht. Aber nie spricht er darüber. Er ahnt, daß Inkas Herz nicht frei ist. Er
beobachtet sie scharf. Manchmal ist sie von ausgelassener Lustigkeit, dann wieder von niederdrückender Schwermut. Es ist ein stetiges Klettern in Höhen und Herabsinken in Tiefen.
Eines Tages taucht Wendhoff am Frühstückstisch auf, unvermutet und für Inka völlig überraschend. Verwirrt sieht sie zu ihm auf.
»Hast du noch eine Tasse Kaffee für mich?«
»Aber ja, bitte!«
Sie springt auf und holt eine Tasse herbei, die sie ihm gefüllt reicht. Er trinkt schweigend. Die Stille bedrückt Inka.
»Hat Mutti noch nicht geschrieben?« fragt sie.
Seine Züge nehmen einen grüblerischen Ausdruck an. »Doch, Kartengrüße, auch an dich gerichtet.« Er lächelt bitter. »Leider hast du mir bisher noch keine Gelegenheit gegeben, sie dir zu übermitteln.«
Sie beobachtet ihn kritisch. »Du sagst das so eigentümlich.«
»So?« Er nimmt einen kräftigen Schluck des vorzüglichen Kaffees und setzt die Tasse behutsam ab. »Ich mache mir so meine Gedanken über die Kartengrüße.«
Sie ruckt mit der Schulter. »Verstehe ich nicht.«
Er beugt sich etwas nach vorn und legt beide Hände auf den Tisch neben sein Gedeck.
»Kannst du dir vorstellen, daß Mutti hier in Hamburg ist?«
»In Hamburg?« wiederholt sie erstaunt. »Aber sie ist doch zur Erholung gefahren.«
»Hat sie uns erzählt. Ihre Karten sind aber alle in Hamburg abgestempelt. Hier stimmt etwas nicht.«
»Komisch!« erwidert sie und denkt über seine Worte nach. Welchen Grund sollte Mutti haben, in Hamburg zu sein und nicht im Hause zu wohnen? Sollte es eine ernstliche Auseinandersetzung zwischen ihr und Gert gegeben haben? Aber dann wäre bestimmt Gert gegangen, wie sie ihn kennt. Niemals hätte er Mutti vertrieben. Das muß einen anderen Grund haben.
»Ja, sehr komisch. Vielleicht übernimmt hier in Hamburg einer ihrer Bekannten die Karten?«
»Das könnte möglich sein.«
Lange schweigen sie. Inka trinkt hastig ihren Kaffee und schluckt den Rest des Brötchens hinunter. Zögernd nur erhebt sie sich und bleibt noch ein paar Sekunden stehen. Etwas an seiner Haltung, an seinen verbitterten Zügen gefällt ihr nicht. Draußen geht ein häßlicher Herbsttag nieder. Es prasselt gegen die Scheiben und läuft in kleinen Rinnsalen herunter. Die kahlen Bäume biegen sich unter der Kraft des Windes.
»Scheußliches Wetter«, sagt sie leise. Da wird er munter.
»Warte, Inka.« Er springt empor. »Ich ziehe schnell etwas über und fahre dich in die Stadt. Du wirst naß bis auf die Haut.«
»Ich habe einen Schirm, der schützt mich genügend.«
»Nein, nein«, beharrt er.
Dann sitzt sie neben ihm im Wagen, den er geschickt und sicher durch den morgendlichen Verkehr steuert. Sie betrachtet seine Hände, schöngeformte Hände, gepflegt, schmal und kraftvoll. Eine Sehnsucht, kaum zu bezähmen, das Gesicht in diese Hände zu legen und sich auszuweinen, überkommt sie. Sie dreht das Gesicht hastig seitwärts und preßt den Mund zusammen.
»Ich habe in letzter Zeit sehr viel gearbeitet«, unterbricht er die sich zur Last auswirkende Stille. »Willst du dir meine Pläne einmal ansehen? Ich muß einmal mit einem Menschen darüber sprechen. Die Einsamkeit ist nicht mehr zu ertragen.«
Erschreckt, zutiefst gepackt von seinen Worten, in denen helle Verzweiflung steckt, dreht sie ihm den Kopf wieder zu.
»Wenn du es willst, sehr gern«, sagt sie hastig, und ihr eben noch kummervolles Herz beginnt rasch und freudiger zu schlagen.
»Also gut, Inka. Dann erwarte ich dich heute abend. Oder hast du etwas Besseres vor?«
Sie sieht nur sein scharfgeschnittenes Profil. Als ob es jemals etwas Besseres für sie gäbe, als in seiner Gesellschaft zu sein.
»Nein, ich komme pünktlich heim.«
Den ganzen Tag über geht Inka wie auf Wolken daher. Sie hört sich die Wünsche der Kundschaft, einer eleganten, verwöhnten Kundschaft mit sehr viel Verständnis für kostbaren Schmuck und Edelsteine, an, dabei liegt ein Schimmer von Glück über ihrem sonst so ernsten Gesichtchen.
Endlich ist es soweit. Immer noch herrscht dieses häßliche Novemberwetter, als Inka auf die Straße tritt. Wie schön es dagegen heute morgen war, als Gert sie ins Geschäft brachte!
»Hallo Inka!«
Sie fährt leicht zusammen. Da steht Muttis schwarzer Mercedes. Wendhoff hat das Fenster heruntergekurbelt und winkt ihr zu.
Vorsichtig über Pfützen steigend, huscht sie zu dem wartenden Wagen und läßt sich dankbar in das Polster