Das Netzwerk. Markus Kompa
sie nie zu Gesicht. Im aktuell anlaufenden Wahlkampf nun waren die Auftragsbücher voll. Ein täglicher Ausstoß von zweitausend Qualitätskommentaren war ein realistisches Ziel. Ein neuer Großkunde war sogar bereit, für fünftausend ein anständiges Honorar zu bezahlen. Aber auch in dieser Branche war es schwierig, kurzfristig gutes Personal zu finden. Sogar für unqualifiziertes Personal bot Hegemann & Friends Arbeit: So tippten dort schlichte Gemüter fotografierte Zahlen ein, um auf diese Weise online die Eingabe authentischer Menschen vorzutäuschen. Danach bewerteten Sie die Produkte der Kunden in Verbraucherportalen positiv mit fünf Sternchen. Manchmal verlangten die Kunden auch, dass konkurrierende Anbieter nur einen Stern erhielten. Der Preis war der gleiche. Um bei Amazon glaubwürdig kommentieren zu können, ohne von den dortigen Admins als Fake entlarvt zu werden, sponserten Hegemanns Kunden sogar Testkäufe von Produkten, welche die Mitarbeiter dann freundlicherweise behalten durften.
Doch Hegemanns Miet-Trolle stellten nur das Fußvolk von Connys digitaler Armee. Die Veteranen von Connys Streitkräften waren die »Wikinger«. Zu dem Zeitpunkt, als die Wikipedia noch ein kleines Nerd-Projekt gewesen war, hatte sich Conny bereits in die Community der Wikipedia-Aktiven eingeklinkt. Denn wer in der Wikipedia Inhalte platzieren wollte, benötigte innerhalb der Gruppe ein Standing. Dieses erwarb man sich durch Fleiß, langjährige Projektzugehörigkeit, offline-Freundschaften und perfekte Beherrschung der Insider-Kommunikation. Die deutsche Wikipedia-Community bestand überwiegend aus männlichen Nerds um die Dreißig, meist Singles, die oftmals wegen Krankheit langzeitarbeitslos waren und online ihr vermeintliches Expertentum auslebten. Als eine der wenigen attraktiven Frauen wurde Conny bei den Wikis schnell die Femme fatale, deren Wort galt. Wenn Conny beim Bearbeiten eines Artikels eine andere Meinung hatte und einen Edit War vom Zaun brach, waren Minuten später Connys Guardian Angels zur Stelle, die grundsätzlich für sie Partei ergriffen und hartnäckigen Gegnern das Leben schwer machten. Neben ihren tatsächlichen Wikipedia-Freunden kommandierte Conny natürlich auch ein streitfreudiges Regiment an sogenannten Sockenpuppen. Das waren inszenierte Pseudo-Accounts, die sich alle Wikipedianer anlegten, damit wenigstens irgendjemand der eigenen Meinung beipflichtete. Mit den Sockenpuppen ließen sich außerdem Abstimmungen manipulieren. Was der von der Wikipedia angestrebte »neutrale Standpunkt« genau war, sah jeder anders, vor allem bei politischen oder religiösen Themen. Da die Manipulation mit Sockenpuppen gegen die Wikipedia-Regeln verstieß, hatte die Community einen internen Geheimdienst aufgebaut, der solche Betrügereien aufspüren sollte. Eine Handvoll Wiki-Admins war mit der Checkuser-Berechtigung ausgestattet, die Zugang zu professionellen Tools erlaubte, um Fakes zu identifizieren. So konnte man etwa an der IP-Nummer erkennen, wer vom gleichen Anschluss aus editierte. Oft verrieten sich Sockenpuppen auch durch identische Rechtschreibfehler und gleiche Ausdrucksweisen, die automatisch mit auch im Geheimdienst üblichen Stilometrie-Tools abgeglichen wurden. Verdächtige Nutzer wurden auf Schreibgewohnheiten oder identische Tageszeiten gerastert. Da sich jeder Wikipedianer, der etwas auf sich hielt, mindestens eine Sockenpuppe hielt, hatten die Checkuser allerhand zu tun. Conny steuerte sechzehn Nutzer, die von der Wikipedia-Community über viele Jahre hinweg als echt anerkannt worden waren. Jede ihrer Sockenpuppen hatte ein bestimmtes Profil. So war »Herbert« scheinbar ein pensionierter siebzigjähriger Lehrer aus Darmstadt. Herbert formulierte als Philologe zurückhaltend und akademisch. Eine Software sorgte dafür, dass Herbert automatisch noch immer ein scharfes »ß« verwendete, wo nach der Rechtschreibreform schon lange ein Doppel-S gesetzt werden musste. »Ingo« war hingegen ein aggressiver Hitzkopf aus Hannover, schrieb jedes »dass« grundsätzlich nur mit einem »s« und ließ dank der Software jegliches Komma weg. Ingo ging mit seinen Gesprächspartnern rüde um, sperrte schnell andere Nutzer, kassierte selbst befristete Sperren und gab den reumütigen Sünder. »Denise« war ein Küken, das ebenso wie Conny die männliche Community um den Finger wickelte und sich den Neid der optisch weniger vorteilhaften Wikipedianerinnen zuzog. Connys erfolgreichster Charakter »Heidrun« hingegen bediente die Netzfeministinnen, die sich in einem subjektiven Stellungskrieg gegen die Männerwelt profilierten, sich aber in erster Linie gegenseitig wegen des »einzig richtigen Feminismus« bekriegten. Heidrun war deshalb so beliebt, weil sie statt sich ständig zu zanken möglichst allen Feministen Recht gab und nur gegen die gemeinsamen Feinde schoss. Vor allem ihre Gefechte mit einem gewissen »Boris« brachten Heidrun großen Respekt und Solidarität bei den Netzfeministinnen ein. Auch der so schrecklich frauenfeindliche Boris war in Wirklichkeit ein von Conny inszeniertes Fake, das regelmäßig für Aufmerksamkeit sorgte. Auf diese Weise profilierte sie nicht nur ihre Avatare, sie erhielt auch bezüglich jeder Strömung per Direktmail vertrauliche Informationen zugesteckt und wusste stets, was lief. Inzwischen hatte sie ihre Freunde und Sockenpuppen in praktisch allen wichtigen inoffiziellen Kanälen, in denen innerhalb der zerstrittenen Wikipedia-Community Intrigen geschmiedet wurden. An der Authentizität von Connys sechzehn Wiki-Admins, die sich allesamt täglich um das Projekt verdient gemacht hatten, gab es in der größtenteils anonymen Community keinen Zweifel, obwohl sich diese Admins nie auf Offline-Treffen sehen ließen. Einmal war Conny ein Berliner Admin mit Checkuser-Berechtigung auf die Schliche gekommen, doch Conny hatte dieses Problem auf ihre Art gelöst: Sie hatte den übereifrigen Wikipedianer, der noch nie eine Frau berührt hatte, aufgesucht, verführt und ihm dann sanft auf die Finger geklopft. Ihm Schreibverbot in der Wikipedia zu erteilen, wäre für sie keine Option gewesen.
Auch bei Facebook hatte Conny eine Privatarmee von Sockenpuppen aufgestellt. Ihr inszeniertes Beziehungsgeflecht an langjährigen Scheinidentitäten überschnitt sich teilweise mit ihren Wikipedia-Sockenpuppen. Weil sie jedoch die Gefahren von Facebook für ihre Privatsphäre bereits sehr früh erkannt hatte, installierte sie dort ausschließlich Fakes. Mit Faszination verfolgte sie die Tricks, mit denen Hacker naive Zeitgenossen dazu brachten, Rückschlüsse auf ihre echte Identität oder verbreitete Passwörter wie die Namen von Haustieren preiszugeben. Während Conny etliche Identitäten auf Facebook laufen hatte, suchte man die wahre Conny in Social Media nach wie vor vergeblich. Wer ihre Freunde waren, ging niemanden etwas an.
Ihr aktuellstes Projekt war die ebenfalls mit Felix diesmal allerdings hochkonspirativ aufgezogene Agentur »Call Carlo«. So hatte Conny mit Hilfe von Insidern und Hackern die Software eines Meinungsforschungsinstituts manipuliert, das von mehreren Call-Centern aus scheinbar zufällig ausgewählte Personen befragte. Ein nicht unerheblicher Teil der Call-Center-Anrufe wurde jedoch auf die Leitungen von zwölf besonders vertrauenswürdigen Personen umgeleitet, die alle die gleiche käufliche Meinung hatten. Damit kein Auswerter mehrfach an den gleichen Carlo-Mitarbeiter geriet, glich ein Programm die Profile der Anrufer ab, die sich im Call-Center ins System einloggen mussten. Pro Umfrage lieferte Conny zwischen dreihundert und sechshundert Gespräche, was die Ergebnisse signifikant beeinflusste. Während die Social-Media-Trolle in der Branche ein offenes Geheimnis waren, lief Call Carlo nur unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit und über Strohleute. Zwar war alles nach dem Need-to-know-Prinzip organisiert, so dass keiner vom anderen wusste, denn alle arbeiteten im Homeoffice. Da aber niemand wissen konnte, ob einer der Call-Center-Kunden oder einer der Berufsmeiner eines Tages von der Fahne gehen und auspacken würde, war das Projekt ohnehin nur auf Zeit angelegt. Zu Conny gab es nicht die geringste Spur, und Felix würde dicht halten. Insgeheim vermutete Conny, dass das Meinungsforschungsinstitut selbst hinter dem Auftrag steckte, um seine Hände, sollte der irgendwann auffliegen, in Unschuld waschen zu können. Doch das war ihr, solange sie für ihre Arbeit bezahlt wurde, herzlich egal.
Da sich Conny den größten Teil ihres Tages im Internet bewegte, gehörten auch ihre ernsthaft gepflegten Twitter-Accounts zum festen Inventar der Online-Szene. Hieraus resultierten vor allem online-Bekanntschaften zu Hackern, die sich als nützlich erwiesen. Vielen Nerds fehlte es an Sozialkompetenz und Geschäftssinn. Conny hingegen wusste die Leute miteinander zu vernetzen und Projekte einzutüten. Mit nun beinahe dreißig Jahren war ihr klar, dass ihr verschlepptes Studium ohne Abschluss enden würde. Doch in ihrem Abi-Jahrgang war niemand, der es finanziell auch nur annähernd so weit gebracht hatte wie sie. Connys Berliner Penthaus-Wohnung mit neuer, aus dem Stand bezahlter Luxusküche und einem Dachgarten, in dem sie sich ungestört nackt sonnen konnte, hätten jeder Managerin den Neid ins Gesicht getrieben.
Bevor sie ihre Koffer auspackte, wollte sie noch schnell einige ihrer Wiki-Avatare bespielen. Die Netzfeministinnen warteten bestimmt schon sehnsüchtig auf Heidrun, um in ihrer Filterblase Bestätigung zu finden. Mit dem obligatorischen Whisky setzte sich Conny an einen der Rechner,