Atheistischer Glaube. Dr. Paul Schulz

Atheistischer Glaube - Dr.  Paul Schulz


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      Der entscheidende Versuch eines endgültigen Auszuges aus dem traditionellen Deutschtum der alten wilhelminischen Welt und damit der originäre Kulturkonflikt unserer Zeit überhaupt wurde in den sechziger Jahren von außen ausgelöst durch die Hippie-Bewegung aus Amerika. Viele Jugendliche protestierten dort damals gegen die Lebensbedingungen, die ihnen durch ihre Elterngeneration mittels traditioneller Erziehung überkommen und damit wie selbstverständlich aufgezwungen waren. Sie wehrten sich gegen den Leistungszwang, gegen die Arbeitshektik; gegen die moralischen Normierungen, gegen die hierarchischen Abgrenzungen; sie wehrten sich gegen den Wohlstandskonsum und die Regeln des Luxuslebens.

      Ein Protest also gegen den gesamten westlichen Lebensstil, speziell gegen seinen Zwang, immer mehr haben zu müssen. Das Vorhandene reicht nie aus. Deshalb ist alles Streben darauf ausgerichtet, immer mehr zu erreichen, immer mehr zu besitzen. Glück, selbst persönliches Glück, ist so immer wesentlich mit immer noch mehr verbunden.

      Um den von ihnen kritisierten Verhältnissen ihrer Eltern zu entfliehen, machten sich Hunderttausende von Jugendlichen auf die Suche nach einem anderen Lebensstil. Sie wollten frei und ungebunden sein, den Tag genießen. Sie wollten Lust, Freude, Schönheit empfinden, wollten aber auch weinen dürfen, traurig und gefühlvoll sein, anderen menschlich nahe sein, Konflikte friedlich lösen, Vertrauen, Geborgenheit, Liebe spüren. In dem Sinne gaben sie auch ihren sexuellen Bedürfnissen freien Lauf.

      Es konnte gar nicht ausbleiben, dass sie bei ihrem Auszug aus der westlichen Lebensart die alten fernöstlichen Lebensweisheiten entdeckten, und so hielt in diese Jugendbewegung die alt­asiatische Lebenskunst voll Einzug, nämlich die persönlichen Bedürfnisse auf ein Minimum zurückzunehmen, um so weit wie möglich von Konsum- und Produktionszwängen frei zu werden.

      Denn eben das faszinierte die Jungen ja gerade: Alle materiellen Lebensbedürfnisse so zu vereinfachen, dass man sich mehr und mehr aus der Konsum-Produktions-Spirale losreißt, um die technischen Bedürfnisse auf ein Minimum zu beschränken, um in naturbezogener Weise zu leben, im Weniger Genüge zu haben, im Unmittelbaren sich selbst zu finden. Viele Jugendliche pilgerten in fernöstliche Länder, gleichsam auf der Suche nach den kulturgeschichtlichen Quellen des einfachen Lebens.

      So machten sie die Blume zum Symbol ihrer Hoffnung auf ein einfaches, schönes, freies Leben. Als Blumenkinder wollten sie den Auszug wagen, ihr Glück probieren. LSD manifestierte ihre Bewusstseinserweiterung zur flower power. Schließlich wurde das Rockfestival in Woodstock 196913 so zu einer weltweiten Demonstra­tion der neuen Jugendkultur mit ihrer Vorstellung von einem Glück, in dem sich das Weniger als völlig genug erwies.

      Gescheitert sind sie schließlich mit ihrem Auszug aus unserer Welt und Kultur. Natürlich – so haben viele Alte selbstzufrieden gesagt –, denn so einfach, wie es sich die Hippies gemacht haben, so einfach ist es eben nicht, die Zwänge unserer Gesellschaft zu überwinden, schon gar nicht gegen den Widerstand der Alten.

      Dennoch bewirkte gerade dieser Aufbruch der Jugend den kulturellen Wandel in unserer liberalen modernen Welt. Es ist keine Frage, dass die freiheitlichen Ideen dieser Jugend auf Europa entscheidenden Einfluss gewonnen haben, zunächst auf die junge Generation selbst, aber darüber hinaus dann auch auf die gesamte Gesellschaft. War das Phänomen der Aussteiger und der Trip nach Poona14 auch eher nur eine kurze Mode, so war dennoch bei vielen, selbst bei Managern bis hinauf in die Top-Etagen, ein oft überraschend kritisches Bewusstsein über ihre Arbeitssituation entstanden mit der Frage, ob denn das Statusleben, das sie führten, wirklich das lebenswerte Leben sei. Müsste man sein Leben nicht ändern, vielleicht sogar selbst den Auszug aus dieser Gesellschaft wagen?

      Doch der Umbruch wirkte viel tiefer. Im Frühjahr 1968 tobten wochenlang Studentenunruhen in Paris und führten in schweren Straßenschlachten zum linken Widerstand gegen die Obrigkeit. Diese anfängliche Jugendrevolte schwappte schon bald nach West-Deutschland rüber und wurde hier zum Aufbruch der 68er-Revolution15. Uns interessiert hier ihr zentraler Ausgangspunkt: Wer damals in der 68er-Bewegung an welcher Stelle auch immer mit dabei war – mittendrin, am Rand oder auch im Kon­tra – erlebte etwas Außergewöhnliches. Im Alltag jedes Einzelnen bewegte sich etwas völlig Neues! Fast überall entstand Widerspruch, brachen Proteste aus, wurde demonstriert. Wogegen war eigentlich egal, nur eines galt: Raus aus dem, was bisher gültig war. Weg von dem, was bisher das Leben bestimmte. Kontra zu allem und zu allen, die kritiklos am Gegebenen festhielten. War etwas noch nicht angestoßen, dann konnte sich jeder aufgefordert fühlen, für Provokation zu sorgen, damit es angestoßen wurde.

      In dem Augenblick, in dem innerhalb der protestierenden Jugend radikale Dogmatiker auftraten und damit die antiautoritäre Bewegung in Staatsfeindlichkeit umfunktioniert wurde mit menschenverachtenden Aktionen, verloren die fröhlichen 68er ihre Unschuld. Vom ersten Steineschmeißen bis hin zu brutalen Terroraktionen mit Ermordungen wurde eine berechtigte Geisteshaltung des Protestes auf antidemokratischen Umsturz hin radikalisiert und instrumentalisiert. Die notwendige Kritik an diesem Umsturz kann überhaupt nicht die Begeisterung über die Befreiungskraft der frühen 68er-Bewegung aufheben. Sie hat Entscheidendes bewegt.

      Die Faszination der frühen 68er lag in der Freiheit, völlig anders zu denken als bisher. Sie lag in der unbegrenzten Dynamik des Aufbruchs, des Vorwärts in eine andere Richtung. Nahezu jeder, der wie auch immer mitlief, konnte etwas einbringen von dem, was er für sein Leben nicht wollte, gegen die Eltern, gegen die Lehrer, gegen die Ärzte, gegen die Politiker, gegen Autoritäten insgesamt. Damit gegen autoritäre Erziehung, gegen die verlogene Sexualmoral, gegen die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse – eine unglaubliche Bereitschaft allerorts, einen Neuanfang zu fordern und zu wagen.

      Deshalb war vor diesem frühen humanen Ansturm geistig nichts sicher. Viele alte Fassaden kamen zum Einsturz, die überholte Frauenrolle, das reaktionäre Vater- und Familienbild, das bigotte Eheleben. Die Gesellschaft veränderte sich an vielen Stellen von Grund auf, wurde offener. Diese 68er wurden – und werden es zu Recht heute noch – zum Symbol gemacht – selbst für Veränderungen, die von ihnen gar nicht ausgingen. Sie waren eben generell die geistige Befreiung. Als solche Befreiungskräfte wirken sie unbewusst weiter im kritischen Ich-Bewusstsein des Einzelnen bis in unsere Gesellschaft heute. Dass es heute keine Autoritäten mehr gibt, die sich nicht erklären müssen, ist unbestreitbar ihr Verdienst.

      Gegenwärtig spitzt sich ein neuer Kultur-Konflikt zu. In unserer Gesellschaft, aber auch darüber hinaus global, zieht wie ein Gewitter eine Auseinandersetzung der säkularen Welt mit der Religion und den Religionen herauf. Das ist überraschend, denn über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war das Religiöse bereits weithin totgesagt. Jetzt aber sind Religion und Religionen viel schärfer als ein wesentlicher Bestandteil der Kultur erkannt, ja, geradezu als die integrierende Kraft des kollektiven Bewusstseins. Die Auseinandersetzung mit der Religion, speziell mit Gott als der höchsten Autorität und Fremdbestimmung des Menschen wurde nur partiell geführt, nur von wenigen Pastoren und einigen mutigen Laienchristen. Warum?

      Anders als im DDR-Deutschland, wo die Kirche gegenüber dem Staat in den Untergrund gehen musste und dort nicht nur von den Gläubigen allein als Hort des geistigen Widerstandes empfunden wurde, stand die Kirche im BRD-Deutschland wieder einmal dem Staat sehr nahe und verhielt sich machtkonform. Gott war staatstragende Kraft, ihre Religion systemimmanentes Wertesystem – und ist es heute noch mehr als je, obwohl unsere Verfassung die Trennung von Staat und Kirche, von Staat und Religion zwingend vorschreibt. Wer gesellschafts- und autoritätskritisch war, trat in den 70er Jahren aus der Kirche aus.

      Es geht dabei um zwei völlig unterschiedliche Problembereiche, die klar auseinandergehalten werden müssen:

      – zum einen um die institutionalisierte Religion, um den Missbrauch der Religion durch kirchliche oder weltliche Amtsträger und Machthaber16. Die Religion wird immer wieder gezielt benutzt, um auf die Menschen, auf Gesellschaft und Institutionen Einfluss zu gewinnen und auszuüben. Sie werden damit manipuliert und abhängig gehalten. Keineswegs nur in Deutschland. Auch in Europa, in Amerika, sogar in Russland, wo die Kirche neu Einfluss gewinnt. Besonders im islamischen Machtbereich, allzumal von deren theokratischen Zentren her.


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