Atheistischer Glaube. Dr. Paul Schulz

Atheistischer Glaube - Dr.  Paul Schulz


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Fragen vor allem zur Persönlichkeitsbildung. Denn natürlich vermittelt Religion eine Grundeinstellung, die mit dem transzendenten Faktor Gott den Menschen grundsätzlich aus der Diesseitigkeit wegführt, nicht nur in der Beurteilung der Realität, sondern auch in der Wertebindung und Handlungsmotivation und sonst allen wichtigen Lebensbindungen. Viele Lebensbeschränkungen und psychologische und soziale Schäden liegen ganz direkt in religiösen Fehlleitungen.

      Eine klärende Auseinandersetzung zwischen säkularem Autonomiebewusstsein und Religion erscheint mit Blick auf die Zukunft unumgänglich. Denn als Bestandteil der Kultur kommen Religion und Religionen aus der geistigen Hinterwelt. Das beweist sich sofort dadurch, dass sie jeweils schon lange in der Geistesgeschichte der Menschen da sind und deshalb unserem modernen Bewusstsein als Tradition vorauslaufen. Dies umso mehr, als religiös-mythische Wahrheiten in und als Vergangenheit definiert sind. Entsprechend bedeutet religio als Rückbindung zugleich auch immer eine starke wesensmäßige Bindung nach hinten und damit den Drang und die Methode, alles aktuelle Geschehen nach hinten anzubinden und auszurichten, alles Neue in die Geltungshoheit des Alten mit einzubeziehen und dort unterzuordnen. Religion ist deshalb in der Kultur die stärkste Identitätskraft nach hinten.

      Dabei ist Religion nirgends einheitlich, nicht nur als Religion gegenüber Religion, sondern als Religion selbst innerhalb ihrer jeweiligen lokalen Untergliederungen. Die Götter- oder Gottvorstellungen sind völlig heterogen. Die Moralprinzipien weichen stark voneinander ab. Die Heilsvorstellungen und Heilsversprechen einschließlich der Todeserwartungen sind völlig verschiedenartig. Die Rituale und Riten sind unterschiedlich. Wahrheit der Religion bedeutet jeweils beliebige Andersartigkeit der Religionen in ihren Wahrheiten.

      Dennoch behauptet jede Religion in ihrer jeweiligen Art einen uneingeschränkten Geltungsanspruch. Von ihm her fordert sie von ihren Anhängern totale Bindungsbereitschaft und Unterordnung unter ihre Glaubenssätze und Moralforderungen auf allen Lebensebenen privat und öffentlich.

      Zum einen: Religion als Bindung des Ich stellt dem menschlichen Ich mit Gott eine absolute Autorität gegenüber, die in ihrer Jenseitigkeit jeder Kritik entzogen ist. Der Mensch ist dieser Autorität total verpflichtet, hat sich ihrem Willen völlig unterzuordnen. Der Mensch kann nur untertänig beten, ansonsten hat er alles Geschehen bereitwillig hinzunehmen. Gott bedingt die tiefste Unterordnung des Menschen, die Auflösung jeder Selbstbestimmung in religiöse Fremdbestimmung17.

      Sodann: Religion als Bindung des Staates und der Gesellschaft leitet alle Macht ab aus der Allmacht des von ihr verkündeten Gottes. Die Verantwortlichen sind Repräsentanten Gottes und damit dessen Stellvertreter mit göttlicher Vollmacht in Pflichten und Rechten. Auch jede sonstige Gemeinschaftsform insgesamt untersteht der göttlichen Absolutheit. Dieser transzendente Machtanspruch dominiert jede gesellschaftliche Souveränität und löst damit jede Selbstbestimmung auf in Fremdbestimmung.

      Schließlich: Religion als Bindung der Kultur umgreift im Zusammenschluss eines riesigen sozialen Raumes unter einer Gottautorität alle Lebensbereiche aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Die gemeinsame religiöse Ausrichtung ist für die Masse der Menschen die wesentliche Identitätsbildung und damit zugleich eine geistige Gleichschaltung bis hin zur Unterdrückung von individuellen Abweichungen. Das Fremdbestimmte wird dabei völlig zum Wesen des Ich-Bewusstseins.

      Natürlich hat es schon in den früheren Aufklärungsepochen Religionskritik gegeben. Der Kampf um Freiheit hat die Menschen auch aufstehen lassen gegen die Götter oder gegen Gott. Religiöse Freiheit, politische Freiheit, Denkfreiheit bildeten schon in frühen Kulturepochen einen engen Zusammenhang.

      Die erste entscheidende Religionskritik geht zurück auf die frühe klassische Philosophie der griechischen Antike, auf die ionisch-attische Aufklärung seit 550 vor Christus. Die großen Naturphilosophen damals18 entdeckten für sich die weltliche Vernunft und versuchten mit ihr gegen die religiös-mythische Tradition die Welt und das Leben ohne Götter zu erklären. Noch mehr. Mit ihren Beobachtungen der Natur kamen sie zu der Meinung, dass nicht die Götter die Menschen, sondern die Menschen die Götter geschaffen hätten. Das führte zur Kritik des olympischen Götterhimmels und langfristig zur totalen Auflösung der griechischen Götterwelt überhaupt. Diese erste radikale Religionskritik der Menschen ist eng verbunden mit dem Namen des Philosophen Xenophanes von Kolophon19.

      Eine entsprechende Bedeutung hatte die Religionskritik in der französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Auch hier spitzte sich der Denkdruck zu auf die Frage, ob die Welt mit Gott oder ohne Gott zu interpretieren sei. Hat der Geist die Materie geschaffen oder die Materie den Geist? Die Dominanz in diesem Streit erlangten die frühen französischen Materialisten20 Lamettrie, Denis Diderot und Paul d’Holbach, eher noch geistreiches Feuilleton, aber von starker Wirkung als Impuls der französischen Aufklärung. Die erste wissenschaftliche Religionskritik begann dann 1841 mit Ludwig Feuerbach21.

      Schließlich entwickelte sich eine immer konsequentere Forschung ohne Gott. Sie setzte sich zunehmend frei von aller religiösen Bevormundung, zum Beispiel auch vom – noch immer gültigen – Antimodernisteneid22, mit dem Papst Pius X. 1910 den katholischen Forschern und Lehrern eine Beteiligung an der gottfeindlichen modernen Forschung und der Verbreitung ihrer Ergebnisse verbot. Jeder dem Katholizismus in Forschung und Lehre Zugehörige muss sich demnach den entscheidenden Erkenntnissen der modernen Wissenschaften nicht nur im Einzelnen, sondern von den Glaubensdogmen her gegen die Vernunft verweigern. Heute aber umfasst diese Forschung der Vernunft weltweit alle Gebiete einschließlich der Biogenetik mit dem Ziel, aus rein menschlichem Wissen Leben herzustellen.

      In unseren Tagen nun ist der Atheismus plötzlich hochaktuell.Über 30 Prozent der in Deutschland lebenden Staatsbürger sind konfessionsfrei23, das heißt, nahezu ein Drittel unserer Bürger fühlt sich keiner Religion zugehörig. Keineswegs alle sind Atheisten. Bei weitem nicht. Es sind auch Agnostiker, Freidenker, Humanisten, Pantheisten und immer wieder Indifferente. Doch alle haben sich von Kirche und Religion erklärtermaßen losgesagt.

      Auch heute geht es dem Atheismus natürlich um Religionskritik24. Solange die Religion und vor allem die institutionalisierten Religionen eine derartig private und öffentliche Präsenz haben, ist Religionskritik – auch in immer erneutem scharfen Widerspruch – notwendig. Dennoch ist Religionskritik heute eher ein begrenzter Aufgabenbereich im Atheismus.

      Dagegen geht es mir primär um die Präsentation der befreienden Kraft des Atheismus selbst. Es geht mir zuallererst darum, was das Denken ohne Gott für den Menschen positiv bewirken kann – völlig unabhängig von jeder Religion. Auf mein Leben als Atheist übt die Religion keinen Einfluss aus. Deren Glaubenssätze, hunderttausendmal verworfen, haben überhaupt nichts zu tun mit dem autonomen Selbstverständnis eines Atheisten.

      Deshalb: Dem Atheismus heute fällt die Aufgabe zu, mit und für die Menschen für die Zukunft ein sicheres Selbstverständnis zu entwickeln, ein Selbstverständnis ohne Gott:

      – Es ist großartig und menschenwürdig, befreit zu sein von einem Glauben an Dinge, die nicht glaubbar sind, und sich auf seinen Verstand verlassen zu können.

      – Es ist großartig und menschenwürdig, befreit zu sein von allen Vorschriften des Göttlichen und selbstverantwortlich leben zu können.

      – Es ist großartig und menschenwürdig, befreit zu sein von Ängsten vor irgendwelcher religiösen Macht und das Leben – mit allem Risiko – frei gestalten zu können.

      Erst ein Mensch, der sich aus der Bevormundung Gottes und der Religion befreit, wird ein autonomer Mensch.

      Befreiung aus der Bevormundung der Eltern, aus der Bevormundung der Kultur, aus der Bevormundung der Religion, das bedeutet: Befreiung als Prinzip der Ich-Werdung. Der Mensch findet erst zu sich selbst, indem er sich aus den Zwängen der vielschichtigen Fremdbestimmung von Erziehung, Kultur und Religion befreit.

      Ich meine dabei ganz bewusst: Befreiung


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