Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch). Richard von Schaukal

Die Geschichten von Hans Bürgers Kindheit (Über 100 Kunstmärchen in einem Buch) - Richard von Schaukal


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deren ich sie beobachten konnte, hat man sie nicht mehr als dreimal geöffnet. Und wir erfuhren auch niemals, was sie, was der finstere Hof zwischen den hohen Wänden, der der Kirche und der des Gebäudes der Finanzlandesdirektion, eigentlich bargen. Aber vor der verschlossenen Tür, die zumal im heißen Sommer einen recht müden, alten, verstaubten Eindruck machte, saß im Winter, der lange währte, tagtäglich der Kastanienmann an seinem kleinen, dünnbeinigen Kessel, das heißt er saß nur, wenn er nicht die Hände reibend umherging. Über ihm, an dem Vorsprung des Finanzgebäudes, hing, solang ich's denken mag, eine Ankündigungstafel: Leo Wattrich, Schriftenmaler. Sie war lang, breit und in jeder Hinsicht bemerkenswert. Die Buchstaben waren körperhaft gemalt, ich glaube fast, sie warfen Schatten. Man sah gleich, daß er's konnte, das Schriftenmalen. Sonderbar schien es uns nur, daß sein Name noch einmal, klein, aber deutlich genug, in der rechten unteren Ecke angebracht war, so zwar, daß kein Zweifel obwalten konnte, wer den Namen und die sonstigen Mitteilungen, als da sind »Verfertigt in jeder Schrift« usw. hingemalt hatte. Einmal in den Jahren ward die alte Tafel durch eine neue ersetzt, die offenbar schöner und dem Fortschritt entsprechender gemeint und ausgeführt war. Sie hatte keinen weißen Grund mehr, stak hinter Glas und schien schwerer. Aber sie gefiel uns nicht.

      Wenn man sich aus einem der fünf Fenster etwas vorneigte, konnte man auch die Tabakniederlage erblicken, die die Überschrift »Tabak-Haupt-Verschleiß« trug. Das Wort, halblaut buchstabiert, fiel nicht gut ins Ohr. Aber es hatte doch etwas Übermenschliches, besser Unmenschliches. Und dazu gehörte ein riesenhaft gewachsener Mann mit einem angemessen großen Schnurrbart, der nach acht Uhr früh mit großen Schritten, begleitet von einer kleinen ängstlich und gebückt, aber überaus rasch neben ihm hertrippelnden Frau, in die Niederlage eilte und des Abends nach halb acht Uhr in derselben stummen Begleitung sie verließ. Daß er ein Graf wäre, hörten wir, verbanden aber mit dem Worte keinen deutlichen Begriff. Nur machte es ihn noch merkwürdiger.

      Und endlich gab's die Spritzer. Der niedrigen Hofpforte genau gegenüber war ein Hydrant. Sonst sahen wir ihn kaum, aber wenn die Spritzer kamen, ward er lebendig. Und wenn sich sein Becken dann, sobald der Deckel mit dumpfem Hall entfernt und der Schlauch mit den schönen messingnen Rundkerben angeschraubt war, mit Wasser füllte, war er der Beherrscher der Gasse. Die Spritzer kamen in der warmen Jahreszeit täglich gegen ein Uhr nachmittag, vor unserer Speisestunde. Sie brachten einen rumpelnden Faßwagen mit und füllten das rote Faß mit dem Schlauch brausend aus dem Hydranten. Wenn das Wasser gurgelnd aus der Öffnung quoll und unaufhaltsam überlief, ward oben der Deckel zugeklappt, und nun rasselte der Schubwagen die holprige Gasse hinunter. Wir aber verließen befriedigt das Fenster. Meist saß auch schon der Vater am Tisch, und wir hatten es nur mit Herzklopfen gegen zürnende Mahnrufe erreicht, so lang am Fenster auf dem gepolsterten Lehnstuhl zu knien. Wie langweilig war, mit diesem Schauspiel verglichen, das Essen!

       II

       Das alte Haus war erfüllt von einem eigentümlichen warmen, süßen Geruch. Der kam von der Drogen- und Chemikalienhandlung. Sie nahm das Erdgeschoß ein, bis auf einen kleinen, seinen Besitzer häufig wechselnden Laden, der, flurtief und außer der Eingangstür ohne Öffnung gegen die Straße, rechts vom zweiflügeligen Haustor lag und, da er keine Verbindung mit dem dunklen Flur besaß, dem Hause fremd blieb. Den schmalen Flur schloß hinten die abends von einem Hausknecht im Beisein der ersten Handlungsgehilfen mit großen Schlüsseln gesperrte schwere Tür, die, tagsüber offen, in einen kurzen, finsteren Vorraum führte, von dem man links durch eine Glastür über Holzstufen ins Geschäft, geradeaus in den mit Glas überdachten Vorhof trat, wo seitlich eine enge, steile Treppe in den unergründlichen, stockdunkeln Keller hinabging. Vor der Kellertreppe hing stets eine trübleuchtende Laterne. Aus dem gedeckten Vorhof kam man in den offenen Hinterhof, den ein mit einer Schubtür verschließbares hölzernes Vorratshaus hinten beschränkte. Seine Rückwand war die Feuermauer des alten Theaters. Sie trug etwas über der Höhe des ersten Stockwerks ein vergittertes Fenster, durch das man einst auf unerklärliche Weise in den geheimnisvollen Nachbarraum hatte hineinschauen können. Nun hatten längst innerhalb des verwilderten Gemäuers – das Theater war einmal abgebrannt und an anderer Stelle dem Geschmack der neuen Zeit gemäß, gemein-prächtig wieder errichtet worden – verwehte Samen Wurzeln geschlagen, und schon als ich ein Kind war, ragte dort ein Baum bis zum Gitterfenster empor und bewegte melancholisch seinen verstaubten Wipfel gefangen im Wind.

      Vom Hofe eilten die Handlungsgehilfen täglich unzählige Male über eine hölzerne Freitreppe zu einem an unsere Wohnung stoßenden Vorratsraum hinauf. Auf diesen Hof ging das einzige kleine Fenster des großen Kinderzimmers. Von ihm aus erlebten wir die Jahreszeiten. Wir sahen den gefangenen Baum im Herbst sich entblättern und im Frühling sich belauben, sahen aufs verblechte Dach des Holzhauses den ersten Schnee fallen und ihn, der sich den Winter über bald erweichte und bald zu schweren Massen sammelte, die manchmal abgefegt werden mußten, unter den stärkeren Strahlen der nie erblickten Sonne endlich weichen; durch dieses Fenster kamen die stille Melancholie des Sonntagnachmittags herein und der wehmütige Klang des abendlichen Ave-Maria-Läutens; an diesem Fenster verbrachten wir Stunden ungestörter Betrachtung aller der merkwürdigen Verrichtungen des innern Geschäftslebens. Dort unten im Hofe tönten den Tag durch die dumpfen Stöße eines schweren Schlegels, der, von einem Knecht gehandhabt, in einem großen Mörser wohlriechende Stoffe zerstampfte; dort standen die ungeheuren Gefäße aus dickem, grünen Glas, die, mit gewaltigen Zetteln beklebt, helle Flüssigkeiten bargen und eröffnet oft einen betäubenden Rauch verströmten; dort, auf hohen, alten Kisten mit verrosteten Vorhängeschlössern, wogen mehr oder minder behutsame Hände mit messingblinkenden Waagen gehäufte Pulver und Brocken, die aus mächtigen Papiersäcken auf die bebenden Schalen geschüttet wurden. Immer wieder ging die in einer Hemmangel knautschende Tür, die an der Holzstiege in die hintern Räume des großen Verkaufsladens führte, und hundertmal fuhren unsere kleinen Köpfe über dem mit weißer Leinwand bezogenen harten Fensterpolster auf, um neugierig hinabzublicken, wo sich die verkürzten Gestalten und die unbedeckten Häupter in seltsamer Unablässigkeit hin und her bewegten. Manchmal schaute man, sich geradezu auf den Rücken wendend, empor. Oben hing ein Freigang, dessen bretternes Gefüge man nicht mit den Blicken durchdringen konnte, dessen von Schritten dröhnendes Schwingen man aber mit sonderlicher Lust so nah entrückt über sich empfand. Dort wohnte die Judenfamilie, ein schmutziges Märchen.

       III

       Vom Hausflur stieg man rechter Hand auf einer dunkeln steilen Holztreppe zum ersten Stockwerk empor. Täglich hat Großmutters schwerer Atem die immer mühsamere Arbeit getan. Und wie sie selbst schon längst unter der Erde liegt, ausgelöscht ihre große Liebe, die sie, fremd und fern allen andern, ganz uns gegeben hat, so ist auch – wer sollte das glauben – das Haus hinweggenommen aus der Welt, nein, von seinem Platz nur im Sichtbaren; denn die Welt, das ist das Menschenherz mit seinen Erinnerungen und Träumen, die Welt, das sind die Künstler, die eines Menschenherzens tiefsten Inhalt weitergeben, lebendig, ewig, an die Fremdesten ...

      Hinter der letzten Stufe erhob sich eine verglaste Tür, die, wie die elektrische Klingel und das »Vexierschloß«, eine Errungenschaft der neueren Zeit war. Früher war's ein hohes, hölzernes Gattertor gewesen, an dem eine im Schüttern des zugeschlagenen Flügels stark mitscheppernde metallene Schelle befestigt war.

      Nun stand man im »Gang«. Einst war er offen gewesen; über die niedrige Mauer rechts war stürmend oft der Wind hereingestürzt. Auch diese Seite war nun längst eine hohe Fensterwand, und auf der Bank darunter standen viele Blumentöpfe, im Sommer wohl auch ein oder das andre Vogelbauer. Gegenüber dem Stiegenaufgang hatte die Wand eine Tür, auch sie die zahme Nachfolgerin einer andern niedrigen, die bloß einen Schranken vorstellte. Aber man hatte darauf sitzen und sich hin und her bewegen können. Die Tür öffnete sich über eine Stufe auf eine Holzbühne, die, gegen den Lichthof links mit einem eisernen Geländer abgegrenzt, zu winkeligen Vorratsräumen führte. Ging man, sich links wendend, im Gang an der Blumenbank vorbei geradeaus, stieß man nach wenigen Schritten auf die Wohnungstür mit Guckloch, Klingel und Metallschild. Links aber sah man durch ein vergittertes Fenster in die kleine Küche hinein, deren Boden mit grauen und gelben Steinfliesen belegt war.

      Der Flur war schmal und düster. Links lag ein Vorzimmer, das sein spärliches Licht einzig den Milchglasscheiben der Speisezimmertüre dankte. Eine niedrige


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