Marathon Woman. Kathrine Switzer
Strecke vorbeigekommen waren.
Schneller als wir uns vorgestellt hatten, kamen wir wieder über den Hügel am Campus, von wo aus wir in einiger Entfernung Arnies blaues Auto auf dem Parkplatz sehen konnten, wir mussten nur noch eine halbe Meile weiterlaufen. Die 26 Meilen und 385 Yards schienen wie im Flug vorbeigegangen zu sein, und doch waren wir den ganzen Tag gelaufen. Ich war überhaupt nicht müde.
»Du wirst es schaffen«, sagte Arnie. »Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Du wirst es schaffen!«
Ich fühlte mich, als hätte man einen Stecker rausgezogen, ich war beinahe enttäuscht. Das sollte der Moment der Wahrheit sein, der Sieg, die Bestätigung? Ich hatte mir vorgestellt, dass die Ankunft auf dem Parkplatz an diesem grauen Nachmittag wie der Einlauf ins Olympiastadion sein würde. Stattdessen war es eine Ernüchterung.
»Du siehst gut aus, stark!« sagte Arnie.
»Hey, Arnie, es geht mir gut. Vielleicht waren es nicht sechsundzwanzig Meilen, vielleicht war der Kurs zu kurz?«
Arnie regte sich furchtbar auf, er explodierte fast. »Es waren sechsundzwanzig Meilen, vielleicht sogar mehr. Ich habe die Strecke mit dem Auto ausgemessen!« In den folgenden Jahren haben wir natürlich alle erkannt, dass das Ausmessen von Laufstrecken mit dem Auto immer ungenau ist. Viele Jahre lang sind Läufern ihre Rekorde und Zeiten wegen dieser nicht genau ausgemessenen Strecken aberkannt worden. Was den legendären Ultramarathonläufer Ted Corbitt und andere gewissenhafte Seelen dazu brachte, Methoden der genauen und zur Beurkundung geeigneten Streckenvermessung zu erfinden.
»Okay, gut, warum hängen wir nicht noch fünf Meilen ran, einfach um ganz sicher zu sein?«, fragte ich. »Wenn wir fünf Meilen länger laufen, dann weiß ich genau, dass uns in Boston nichts aufhalten kann.«
»Du könntest noch fünf Meilen länger laufen?«, fragte Arnie verwundert.
»Klar. Es geht mir großartig. Wie geht es dir?«
»Naja. Wenn du noch kannst, dann kann ich auch noch.« Er klang nicht so ganz überzeugt, aber er war gewillt, sich auf das Abenteuer einzulassen.
Wir liefen an dem geparkten Auto vorbei, sahen es lange an. Wir bogen an der Ecke ab, liefen weiter. Natürlich fühlten wir uns sofort danach bleischwer. Das passiert immer, wenn man am Ziel ist und noch weiterläuft. Es wurde jetzt spät, die Sonne war untergegangen, und alles wirkte verlassen. Und so verdammt grau. Würde es nie Frühling werden? Jetzt war ich es, die versuchte, munter zu sein und eine Unterhaltung in Gang zu bringen, denn Arnie wirkte niedergeschlagen. Schließlich war es meine Idee gewesen. Nach ungefähr drei Meilen wurde Arnie seltsam, er nörgelte herum, erzählte Unsinn, fluchte vor sich hin. Ich hatte Arnie noch nie fluchen hören! Er war so ein katholischer Miniheiliger, der einen Rosenkranz bei sich hatte, niemals trank, peinlich berührt war, wenn jemand einen schmutzigen Witz erzählte. Ich muss gestehen, ich hatte mich schon hin und wieder gefragt, wie seine Frau schwanger geworden war.
Meine Alarmglocken schrillten, als Arnie Richtung Straßenmitte abdriftete. Ich zog ihn an den Rand zurück. »Hey, alles in Ordnung?«, fragte ich ihn. Er sah mich überrascht an, als hätte ich ihn aufgeweckt.
Ein Auto kam uns entgegen, umfuhr uns in einem großen Bogen. Arnie rastete aus, nahm eine riesigen Stein vom Straßenrand und schleuderte ihn dem Auto hinterher. »Du mieses Schwein!«, brüllte er. »Verdammter Idiot. Du wolltest mich überfahren! Du Ochse. Ich bringe dich um!« Mit seinem dünnen grauen Haar, das ihm zu Berge stand, und den stechenden Augen sah er aus wie eine Vogelscheuche.
»Shit! Arnie, komm schon. Es ist alles in Ordnung.« Ich versuchte, ihn von der Straße zu ziehen, aber er schüttelte mich ab, in seinen Augen stand nackte Angst. »Sie – versuchen – uns – umzubringen!«, fauchte er, als verstünde er nicht, dass ich mir der Lebensgefahr, in der wir schwebten, nicht bewusst war.
»Komm schon, Arnie. Noch eine Meile, eine einzige, und wir haben es geschafft.« Ich hakte ihn ein, führte ihn. Er sah so grau aus wie sein Sweatshirt. Seine Augen waren ausdruckslos. Leer. Doch hoppelnd lief er mit mir weiter, mit Beinen, weich wie bei einer Gummipuppe, unsere Ellenbogen waren eingehakt. Dann sahen wir das Auto. Und wahrhaftig, ich konnte den tosenden Beifall der Menge im Olympiastadion hören. »Wir schaffen es, Arnie, wir schaffen es!«, gurrte ich ständig und mein Herz schlug höher. Dann waren wir bei seinem alten, verdreckten Wagen mit dem Plastik-Jesus auf dem Armaturenbrett, und ich schlang meine Arme um ihn und klopfte ihm auf den Rücken. »Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft, Boston, wir kommen!« Arnie wurde in meinen Armen ohnmächtig.
Ich schwankte unter dem plötzlichen Gewicht, hielt ihn unter den Achseln fest und setzte ihn auf den Bordstein, wo sein Kopf auf die Knie sackte. Ich versuchte, einen kleinen Freudentanz hinzulegen, während ich sang: »Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft«, aber ich konnte meine Füße nicht mehr heben. Ich war wie eine Betrunkene, die ihre Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle hat, aber nicht aufhören kann, zu lächeln. Nie zuvor habe ich eine so tiefe Freude empfunden. Mir schien, als läge auf der Motorhaube des alten Autos meine glänzende Goldmedaille. Arnie blickte hoch, schloss die Augen wieder und sagte: »Du kannst den Boston Marathon laufen.«
Jeder Student, der an der Comstock Avenue wohnte, kannte Arnie, schließlich war er unser Briefträger, und fast jeder hatte schon mal einen ganzen Packen Briefe für alle Hausbewohner entgegengenommen und bei der Gelegenheit ein paar freundliche Worte mit ihm gewechselt. Er liebte seine Arbeit, weil jeder sich freute, ihn zu sehen. Was die Post betraf, ging es auf dem College nicht anders zu als in der Army. Jeder wartet auf den Brief eines geliebten Menschen. Sie riefen: »Hey, Arnie, wie geht es dir?«, und Arnie reichte die Post durch die Tür, antwortete bereitwillig, redete, plauderte über die Wetteraussichten.
Am Montag nach unserem Lauf, den ich auf etwa einunddreißig Meilen schätzte, fragten mich einige Kommilitonen: »Hey, was ist denn mit Arnie los?«
»Keine Ahnung. Was soll mit ihm los sein?«, sagte ich.
»Naja, als er heute die Post brachte, sagte er völlig unvermittelt, Frauen hätten ein verborgenes Potenzial an Ausdauer und Durchhaltevermögen.«
Ich lachte nur. Und als ich zwischen zwei Vormittagsvorlesungen ins Wohnheim zurückkam, unterhielten sich einige Mitbewohnerinnen über ein Gespräch mit ihm. Eine sagte: »Mir hat er erzählt, sie habe ihn in Grund und Boden gerannt. Was meint er damit?«
Ich stellte mir Arnie vor, der wie Archimedes aus dem Bad sprang, die Eingangstüren jedes Hauses in der Comstock Avenue aufriss und schrie: »Heureka! Frauen haben ein verborgenes Potenzial an Ausdauer und Durchhaltevermögen!« Nur, dass ich diese Vorstellung nicht lustig fand, denn jetzt mussten wir darüber noch mehr Stillschweigen bewahren. Ich war überzeugt, dass der sicherste Weg zum Versagen der war, allen zu erzählen, dass wir es in Boston versuchen würden. Dann würde jeder von mir etwas erwarten und egal, wie es ausging, es würde nie gut genug sein. Diesen Druck wollte ich nicht, und Arnie wusste das, aber er konnte sich nicht zusammenreißen.
»Ich bin einfach so stolz auf dich. Ich muss den Leuten einfach erzählen, wie gut du bist«, sagte er.
»Okay. Aber das war es dann auch jetzt. Jetzt bloß kein Wort mehr von Boston.« Er willigte ein.
Danach machten wir weiter wie immer, und am Dienstag holte mich Arnie nicht vor dem Huey Cottage ab, sondern kam herein und setzte sich mit mir an einen Tisch in der Lobby. Wir konnten sowieso nicht laufen, weil wir immer noch so lädiert waren. Ich kam kaum die Treppen runter und hatte Blutblasen unter den Zehennägeln. Die Dinger waren prall, lila und schwarz, die Nägel hoben sich und schmerzten höllisch.
»Hier, du musst das Anmeldeformular für Boston ausfüllen«, sagte Arnie und schob mir ein Blatt zu, auf dem »American Marathon Race under the Auspices of the Boston Athletic Association« prangte. Arnie hatte mehr als ein Dutzend dieser Formulare, da er als langjähriger Präsident der Syracuse Harriers in Boston auf der Mailingliste stand und alljährlich einen Stapel von Anmeldeformularen für die Klubmitglieder erhielt.
»Ich kümmere mich um deine Reiseerlaubnis, aber du musst das Formular ausfüllen und dir von der Krankenstation ein ärztliches Gesundheitszeugnis