TRUDGE - SCHLEICHENDER TOD. Shawn Chesser
immer durch seinen Körper, und seine Sinnesorgane waren auf die Wahrnehmung jedes Anblicks, Geräusches und Geruchs eingestellt. Entferntes Sirenengeheul drang aus verschiedenen Richtungen zu ihm; der Geruch von Rauch lag in der Luft. Darüber hinaus wurde ihm bewusst, dass er den ganzen Nachmittag keine Flugzeuge gehört hatte. Da Cades zu Hause nur ein paar Meilen vom Flughafen entfernt lag, waren häufig darüber fliegende Flugzeuge ganz normal. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass weit mehr als nur die plötzliche Verwandlung seines Nachbarn in einen Mörder und Kannibalen passiert sein musste, was ein Kribbeln in ihm verursachte. Als Cade seinen Vordereingang hinaufstapfte, merkte er, dass er noch immer den Eispickel festhielt. Was für einen Anblick hätte er den Beamten geboten, wenn er welche getroffen hätte. Er ließ sich schwerfällig auf die Treppe fallen und angelte in seiner Tasche nach seinem Handy. Als er anzurufen versuchte, hörte er lediglich atmosphärische Störungen. Da er auch mit dem Festnetz in seinem Haus das gleiche Problem hatte, begann er sich Sorgen zu machen und sein sechster Sinn ließ seine Alarmglocken in den schrägsten Tönen schrillen. Zum ersten Mal, seit seine Familie weg war, schaltete Cade den Fernseher an und wählte einen der regionalen Nachrichtensender. Die zuletzt gezeigten Bilder kamen vom Pioneer Courthouse Square, auch als Portlands Wohnzimmer bekannt. Es ging um eine spontane Kundgebung, die an diesem Morgen stattgefunden hatte. Die schwarz gekleideten Anarchisten mit Piercings und Tattoos waren aufgewühlt. Sie demonstrierten gegen die Regierung und alles, was ihnen nicht gefiel. Den von den Protestlern getragenen Schildern und Plakaten nach zu urteilen, glaubten sie, dass der mutierte H1-N1-Virus, von dem berichtet worden war, vom Menschen verursacht wurde. Abgesehen von einem kleinen Restzweifel waren sie überzeugt, dass die Regierung diesen Virus auf die arglos mitlaufenden Menschen losgelassen hatte. Nach ihrer Theorie wäre die Regierung gezwungen, einzugreifen. Dem ›einfachen Mann‹ sollten mehr Macht und Kontrolle gegeben werden, wenn irgendwann der Kriegszustand ausgerufen wurde. Sie befürchteten, dass die Verfassungsschützer und die FEMA für die Realisierung waren, um die Rechte der amerikanischen Bevölkerung einzuschränken. In anarchistischen Kreisen war der Verfolgungswahn tief verwurzelt. Cade stellte mit Unbehagen fest, dass Polizei und Nationalgarde stärker vertreten waren als sonst bei solchen Versammlungen üblich. Während der Reporter seinen Zuhörern von dem Schaden berichtete, den die gleichen Rowdys im vergangenen Jahr bei der Konferenz der Weltgesundheitsorganisation angerichtet hatten, öffnete sich plötzlich eine riesige Lücke inmitten der mehr als hundert Anarchisten, die den Gerichtsplatz besetzten. Es sah aus, als hätte ein Kampf innerhalb der Menschenansammlung begonnen. Als sich die Menschenmenge teilte, erhoben sich zwei Gestalten vom Boden und begannen, jeden in Reichweite an sich zu reißen und zu beißen. Dieser Filmbeitrag dauerte vier bis fünf Minuten. Während dieser Zeit schlossen sich noch zahlreiche andere den ersten beiden Angreifern an. Panik breitete sich in der restlichen Menge aus. Polizei und Gardisten standen wie vor den Kopf geschlagen, als das blutige Handgemenge eskalierte. Die Gardisten feuerten erste Warnschüsse über die Köpfe des wilden, außer Kontrolle geratenen Menschengewühls. Ihre Schüsse wurden von den Neuinfizierten kaum beachtet. Cade stand wie versteinert von dem Vorfall am Bildschirm, als die Truppen begannen mit ihren M4-Gewehren in die drängende Gruppe von Kämpfern, Infizierten und Unschuldigen zu schießen. Neu verwandelte Untote griffen nun Soldaten und die am Rand stehenden gaffenden Schaulustigen an. Der Pioneer Courthouse Square wurde zum Krisenherd des Ausbruchs in Portland. Innerhalb von Minuten gab es so viele Verwundete und Tote, dass sie nicht nur in die nächsten Krankenhäuser in der Stadtmitte, sondern auch in die Vororte transportiert werden mussten. Wie Cade später erfuhr, führte dies zu Satellitenzentren der Infektion, die sich infolgedessen schneller und außerhalb des Kampfzentrums verbreiteten. Das aufgezeichnete Filmmaterial endete und der Sender zeigte einen kurzen Beitrag, der von Gewalt und Kannibalismus am Alamo in San Antonio handelte. Auch dort gab es zig Tote und Hunderte von Verletzten. Neue Nachrichten kamen in Windeseile herein. Ganz plötzlich wechselte der Sender zu einer Liveübertragung in einem nahe gelegenen Krankenhaus. Die kleine brünette Reporterin von Kanal 8 war gerade am Providence Hospital angekommen und berichtete live. Die Notaufnahme hinter ihr war überfüllt und voller Hektik. Krankenschwestern, Ärzte und anderes Personal sichteten oder kümmerten sich um die Verletzten. Im Hintergrund wichen vier Krankenhausmitarbeiter nicht von der Seite einer Krankentrage und kümmerten sich um einen Mann mit schrecklichen, kreuz und quer verlaufenden Fleischwunden im Gesicht. Eine Person führte ununterbrochen Herzdruckmassagen durch. Drei Mal schrie einer der vier Mitarbeiter: »Alle weg.« Sie traten zurück, als die Paddles auf den Brustkorb des Mannes gesetzt wurden, um ihm einen Elektroschock zu versetzen. Sein Herz aber begann nicht erneut zu schlagen. Nach kurzer Zeit zogen sie ein dünnes weiches Tuch über ihn. Die Reporterin berichtete weiter von der großen Anzahl an Patienten, die durch den ›Kampf am Platz‹ – wie das Ereignis von den Medien tituliert wurde – an Bisswunden und Hirntraumata litten. Cade schaute aufmerksam zu, als die Kamera nach links schwenkte und den zuckenden, mit einem Tuch bedeckten Mann auf der Trage heranzoomte. Er setzte sich auf, das Tuch rutschte herunter und enthüllte seinen Körper – blass und vom Eintritt des Todes gezeichnet. Schwerfällig drehte er nur seinen Kopf, seine leblosen starr blickenden Augen konzentrierten sich auf die Reporterin. Cade wollte schreien und die Frau im Fernsehen warnen, aber er wusste, dass dies zwecklos wäre. Bevor der Kameramann reagieren konnte oder es jemand in dem geschäftigen Traumazentrum bemerkte, hatte die Leiche zwei nackte Füße auf den avocadogrünen Linoleumboden gestellt und legte die kurze Strecke zu der ahnungslosen Moderatorin zurück. Da sie sich wunderte, dass der geschockte Kameramann ihr nicht mehr ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, hörte sie mitten im Satz auf zu sprechen und starrte ihn an. Der Zombie riss seinen Mund auf und verbiss sich während der Liveübertragung in ihrem Nacken. Ein dunkelroter Blutschwall schoss heraus und spritzte vor die noch laufende Kamera. All das war innerhalb weniger Sekunden passiert. Die Sicherheitskräfte des Krankenhauses jagten den Angreifer und zwangen ihn zu Boden. Er schlug wild um sich, fauchte, stöhnte und schnappte. Die Wachen und Krankenpfleger hatten alle Hände voll zu tun. Die soeben wieder zum Leben erwachte Leiche brachte genügend Kraft auf, um zwei der Männer, die alles gaben, um sie zu bezwingen, Bisswunden zuzufügen. Während das Gerangel im Hintergrund stattfand, lag die Reporterin im Vordergrund des Bildes – das Gesicht nach unten, mit weit von sich gestreckten Gliedmaßen und verblutete. Diese grausliche Szene wurde live übertragen und auf Tausenden Fernsehern ausgestrahlt. Das Bild auf der Mattscheibe wechselte von der Liveübertragung zu den kreidebleichen, fassungs- und sprachlosen Moderatoren im Studio. Ein Reporter sagte stammelnd ein paar Worte über seine getötete Kollegin, bevor er mit seinen Händen über sein Gesicht fuhr und sich sichtlich beruhigte. Sofort schaltete der Sender auf Werbung. Es war erstaunlich, dass der Kameramann es nicht geschafft hatte, die Nachrichtenreporterin zu warnen, bevor ihr grausames Sterben von der Kamera erfasst und live übertragen worden war. Cade durchsuchte weitere Nachrichtensender und stellte fest, dass sich auch in anderen Städten Gewalt ausbreitete. Voller Erstaunen beobachtete er, dass die Personen wie angewurzelt und von Angst überwältigt dastanden, während sie von den Infizierten überrollt wurden. Ihre Kampf- oder Fluchtreflexe waren von dem unglaublichen Szenario ausgeschaltet worden, das ihre Augen und ihr Verstand noch immer zu erfassen versuchten.
Kapitel 2
Southeast Portland
In dieser Nacht schlief Cade überhaupt nicht. Er war krank vor Sorge um seine Ehefrau und seine Tochter. In den ersten paar Stunden nach Sonnenuntergang sah er aus dem Fenster von Ravens Schlafzimmer im Obergeschoss. Die Anzahl der Untoten, die seine Straße auf und ab schlenderten, hatte zugenommen. Nachdem er alle Vorhänge geschlossen und Lampen ausgeschaltet hatte, versuchte er zu schlafen. Jedes Mal, wenn er seine Augen schloss, sah er seine toten Nachbarn. Schließlich stand Cade auf, zog sich an und ging nach unten. Obwohl er es gar nicht wollte, zog es ihn zum Fernseher. Er schaltete ihn an und schaute die ganze Nacht. Bis jetzt war der Satellit nicht ausgefallen. Beim Sammeln von Informationen wollte er sich nicht auf Portlands Nachrichtensprecher verlassen, da diese seit dem Tod ihrer Kollegin pausenlos und übernervös brabbelten und zu Übertreibungen neigten.
Zuerst waren die Nachrichtensender der Kabelkanäle keineswegs besser. CNN, FOX und MSNBC berichteten, dass der Ausbruch dem von SARS oder H1-N1 ähnelte. Ihre Vorstellungen von nützlichen Informationen umfasste auch die Verwendung von Mundschutz, Plastikfolien und Isolierband zum Schutz gegen den durch Tröpfcheninfektion übertragenen Krankheitserreger. Bei allen anderen Newssendern verhielt es sich genauso. Spekulationen, Mutmaßungen und