Gesammelte Werke. Aristoteles
so würde dies nicht richtig sein; denn die Rede und die Meinung sind nicht deshalb des Entgegengesetzten fähig, weil sie selbst etwas annehmen, sondern dadurch, dass bei einem Andern der Zustand sich geändert hat. Weil also die Sache sich so oder nicht so verhält, deshalb gilt die Rede für wahr oder falsch, aber nicht deshalb, weil sie selbst das Entgegengesetzte annehmen kann. Ueberhaupt ändert sich die Rede und die Meinung selbst in keinem Stücke, und deshalb kann sie, da kein anderer Zustand in ihr eingetreten ist, auch nicht das Entgegengesetzte annehmen. Aber die Dinge gelten, weil sie selbst das Entgegengesetzte annehmen, deshalb des Entgegengesetzten fähig; denn sie nehmen die Krankheit und die Gesundheit, die Weisse und die Schwärze an und indem sie jedes von diesen annehmen, sind sie dadurch fähig, das Entgegengesetzte anzunehmen. Sonach dürfte es eine Eigenthümlichkeit der Dinge sein, dass die einzelnen und bestimmten Dinge dadurch, dass sie selbst sich verändern, das Entgegengesetzte annehmen können.
So viel mag über die Dinge, als Kategorie, gesagt sein.
Sechstes Kapitel
Das Grosse zerfällt in das Getrennte und in das Stetige; ferner in ein solches, was aus Theilen besteht, die eine bestimmte Lage gegen einander haben, und in ein solches, wo dies nicht der Fall ist. Ein getrenntes Grosse ist z.B. die Zahl und das Wort; ein stetiges Grosse ist z.B. die Linie, die Fläche, der Körper; und neben diesen auch die Zeit und der Raum. Denn die Theile einer Zahl haben keine gemeinsame Grenze, wo die Theile derselben sich berührten; so berührt z.B., wenn die Fünfen die Theile der Zehn sind, die eine Fünfe in keiner gemeinsamen Grenze die andere Fünfe, sondern beide sind getrennt; auch die Drei und die Sieben berühren sich in keiner gemeinsamen Grenze. Ueberhaupt wird man bei keiner Zahl eine gemeinsame Grenze ihrer Theile auffinden; vielmehr bleiben diese immer getrennt, so dass deshalb die Zahl zu den getrennten Grössen gehört. Ebenso gehört auch das Wort zu den getrennten Grössen. Das Wort ist offenbar eine Grösse, denn es wird nach kurzen und langen Sylben abgemessen, ich meine nämlich das gesprochene Wort. Seine Theile berühren sich in keiner gemeinsamen Grenze; denn es besteht keine solche, an welcher die Sylben sich berührten, vielmehr ist jede für sich getrennt. Dagegen ist die Linie eine stetige Grösse, denn man kann eine gemeinsame Grenze angeben, wo ihre Theile sich berühren, nämlich den Punkt; und bei der Fläche die Linie, denn die Theile der Fläche berühren sich in einer gemeinsamen Grenze. Ebenso kann man bei den Körpern eine gemeinsame Grenze angeben, nämlich die Linie oder die Fläche, wo die Theile eines Körpers einander berühren. Auch die Zeit und der Raum sind von dieser Beschaffenheit; die gegenwärtige Zeit berührt die vergangene und die kommende. Ebenso gehört der Raum zu den stetigen Grössen, denn die Theile eines Körpers haben einen Raum inne und berühren sich in einer gemeinsamen Grenze, und deshalb berühren sich auch die Theile des Raumes, welche die einzelnen Theile des Körpers einnehmen, in derselben gemeinsamen Grenze, in welcher die Theile des Körpers sich berühren. Deshalb dürfte auch der Raum zu den stetigen Grössen gehören, denn seine Theile berühren sich in einer gemeinsamen Grenze.
Ferner ist manches Grosse aus Theilen zusammengesetzt, welche eine bestimmte Lage gegen einander haben, und anderes Grosse aus Theilen, welche keine solche bestimmte Lage haben. So haben die Theile einer Linie eine bestimme Lage gegen einander; denn jeder Theil derselben hat seine bestimmte Lage, und man kann bei jedem Theile unterscheiden und angeben, wo er in der Fläche liegt und mit welchen von den übrigen Theilen er sich berührt. Ebenso haben auch die Theile einer Fläche eine bestimmte Lage gegen einander; denn man kann von jedem in gleicher Weise angeben, an welchem er liegt und welche Theile einander berühren. Das Gleiche gilt von den Theilen eines Körpers und des Raumes. Dagegen wird bei einer Zahl Niemand zeigen können, wie die Theile derselben eine Lage zu einander haben oder wo sie liegen, und welche Theile einander berühren; und eben so wenig wird dies bei der Zeit geschehen können, da kein Theil derselben beharrt; was aber nicht beharrt, wie könnte das wohl eine bestimmte Lage haben? vielmehr könnte man eher sagen, dass die Zeit eine gewisse Ordnung habe, weil ein Theil der Zeit der frühere, der andere der spätere ist. Eben dasselbe gilt für die Zahl, weil die Eins eher gezählt wird als die Zwei und die Zwei eher als die Drei; so dass die Zahl zwar eine gewisse Ordnung hat, aber man schwerlich eine Lage bei ihr annehmen kann. Auch mit dem Worte verhält es sich so, da kein Theil desselben beharrt, sondern er wird ausgesprochen und das Ausgesprochene kann man nicht mehr erfassen; folglich haben auch die Theile des Wortes keine Lage zu einander, weil kein Theil bleibend ist. Sonach besteht manches Grosse aus Theilen, welche eine Lage gegen einander haben, anderes aus Theilen, die keine Lage haben.
Diese genannten Gegenstände allein gelten eigentlich als Grössen; alles andere gilt nur nebenbei als gross; denn nur in Hinsicht auf jene Grössen nennt man es gross; so nennt man z.B. das Weisse gross, weil es eine grosse Fläche bedeckt, und eine Handlung oder eine Bewegung gross, wenn sie eine lange Zeit umfasst; denn keines von diesen Dingen wird an und für sich gross genannt. Wenn z.B. Jemand von einer Handlung angeben will, wie gross sie ist, so bestimmt er sie der Zeit nach, indem er sie einjährig oder sonst wie nennt; und wenn Jemand angeben will, wie gross ein Weisses sei, so bestimmt er es nach der Oberfläche; so gross wie diese ist wird er auch sagen, dass das Weisse sei. Sonach gelten nur die oben genannten Gegenstände als eigentlich und an sich gross; alles andere dagegen gilt nicht an sich selbst als gross, sondern wenn es geschieht, nur nebensächlich so.
Ferner hat das Grosse kein Gegentheil; denn bei den bestimmten Grössen steht offenbar denselben nichts als Gegentheil gegenüber; z.B. dem Zweielligen oder Dreielligen oder der Fläche oder einem anderen solchen; ihnen steht nichts als Gegentheil gegenüber; man müsste denn behaupten wollen, das Viele sei das Gegentheil von dem Wenigen und das Grosse das Gegentheil von dem Kleinen. Allein diese gehören nicht zu dem Grossen, sondern mehr zu den Beziehungen, denn kein Gegenstand wird an sich gross oder klein genannt, sondern nur in Vergleich zu einem anderen; so nennt man z.B. einen Berg klein und ein Hirsenkorn gross, weil dieses grösser und jener kleiner ist, als die andern seiner Gattung. Deshalb ist hier eine Beziehung auf Anderes vorhanden, da, wenn Etwas an sich gross oder klein genannt würde, der Berg wohl nicht klein und das Hirsenkorn nicht gross genannt werden würde. Ebenso sagt man, dass in einem Dorfe viel Menschen seien und in Athen wenige, obgleich deren hier vielmal mehr sind all dort; und dass in einem Hause viel Menschen, und in dem Theater wenige seien, obgleich diese um vieles mehr sind, als jene. Auch das Zweiellige und das Dreiellige und jedes andere solches bezeichnet ein Grosses, aber das Grosse und Kleine bezeichnet kein Grosses, sondern mehr eine Beziehung; denn man betrachtet es nur in Bezug auf ein anderes als gross oder klein; offenbar gehören sie also zu den Beziehungen. Aber mag man sie als Grössen annehmen oder nicht, so haben sie doch kein Gegentheil; denn wie möchte man ein Gegentheil von Etwas angeben, was nicht an und für sich genommen werden kann, sondern nur auf Anderes bezogen wird? Wenn ferner das Grosse und das Kleine Gegentheile sein sollen, so folgte, dass ein und dasselbe Ding des Entgegengesetzten fähig wäre, und dass es sein eigenes Gegentheil wäre. Denn es kommt vor, dass dasselbe Ding zugleich gross und klein ist, denn in Bezug auf dieses ist es klein und in Bezug auf jenes andere ist ebendasselbe gross. So ergiebt sich, dass dasselbe Ding in demselben Zeitpunkte sowohl gross, wie klein ist und also gleichzeitig das Entgegengesetzte annimmt. Allein nichts kann zugleich das Entgegengesetzte, wie das Ding annehmen; dies kann nehmlich das Entgegengesetzte annehmen, allein es ist doch nicht zu gleicher Zeit krank und gesund, und ebenso ist es nicht zu gleicher Zelt weiss und schwarz; ebenso giebt es von den übrigen Kategorien keine, die gleichzeitig das Entgegengesetzte annähme. Auch ergäbe sich, dass das Grosse und das Kleine jedes sein eigenes Gegentheil wäre. Denn wenn das Grosse das Gegentheil des Kleinen ist, ein und dasselbe Ding aber zugleich gross und klein ist, so würde es sein eigenes Gegentheil sein. Allein es ist unmöglich, dass etwas sein eigenes Gegentheil sein kann, und demzufolge ist also das Grosse nicht das Gegentheil des Kleinen und das Viel nicht das Gegentheil des Wenigen. Daher würden sie, auch wenn man sie nicht für Beziehungen, sondern für Grössen erklären wollte, doch kein Gegentheil haben.
Am meisten scheint das Gegentheilige bei dem Raume vorhanden zu sein; denn man setzt das Oben als das Gegentheil von dem Unten, indem man in Bezug auf die mittlere Gegend etwas Unten nennt, weil die Mitte von den Enden der Welt am meisten absteht. Auch scheint man die