Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe - Wilhelm  Raabe


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an seiner Stelle zu lassen. Ich habe vorhin von den beiden Augen, die heute noch nach zweihundertsechsunddreißig Jahren aus dem dunkeln Grunde vorleuchten, geträumt. Wie würde dieses junge schöne Weib sich wundern, wenn es in dieser Stunde, plötzlich mit Leben begabt, aus seinem Rahmen hervortreten könnte! Du hast wohl recht, Sever, über Korruption und Sultanismus zu zürnen; was könnten diese Wände, diese Pfeiler berichten, wenn sie mit Zungen begabt würden! Aber ich habe auch recht, Sever, wenn ich mich an das treue Grün, die süßen Blumen halte, die über allem Moder, aller Verwesung zusammenschlagen. – Wie fällt das Sonnenlicht durch die alten bunten Fenster in diesen Bankettsaal, der jetzt zu einer Kirche geworden ist! Hier glüht’s auf einem rosigen Kindergesichtchen, dort auf dem weißlockigen Greisenhaupt. Wie lebendig glänzen die weißen Tücher auf den Köpfen der Frauen des Volkes, wie abgewittert, gespensterhaft schimmern dagegen die Goldverzierungen am buntgemalten Plafond!

      Unter der andächtigen Menge sucht mein Auge die Gestalten der Freunde, und es findet sie.

      Auf der ersten Bank vor der Kanzel erblicke ich den Leutnant Bart, den Vetter Kaltenborn mit all seiner Verwandtschaft und seinem Hausgesinde. Gerade unter der Kanzel haftet mein Auge am längsten; gerade unter der Kanzel, neben dem alten Legionär sitzt das Ännchen, mit halb geschlossenen Augen. Sie wird nicht viel von dieser Waldpredigt verstehen; obgleich sie einfach dem einfachen Sinn und Geist der Zuhörer angemessen ist. Es sind heute wieder zu viel Menschen um die Annie, das verwirrt und betäubt jetzt allzusehr diese arme Kinderseele, welche mit der ganzen Not des Jahrhunderts beladen ist. Gleich einem verschüchterten Vogel zusammengeduckt, sitzt das Ännchen auf seinem Platze, und es wird dann erst wieder aufleben, wenn alle die Gesichter, welche es jetzt umgeben, wieder verschwunden sind, wenn der Wald die heute auf dem Trautenstein Versammelten zur neuen, schweren, gewohnten Wochenarbeit zurückgefordert haben wird. Fort spinnt sich die Predigt, dann kommt von neuem die Orgel, das Vaterunser und der Segen wird gesprochen – es erhebt sich die kleine Gemeinde, – der Saal wird leer, endlich ist nur noch der Kollaborator Wolkenjäger und das Ännchen darin zu finden. Während das Volk unten in der Schenkstube, welche der Vetter Kaltenborn hält, zu Mittag ißt, oder die Vorkommnisse der vergangenen Woche bespricht, stehen der Kollaborator und das Ännchen vor dem alten Bilde am Pfeiler, welches vorhin schon einmal erwähnt wurde.

      Ein rosiger Finger deutet auf das verdunkelte Gemälde und eine sanfte Stimme sagt:

      »Das ist die schöne Dame, für welche dieses Haus gebaut wurde.«

      Der lateinische Schulmeister nickt und sagt:

      »Sie hieß auch Anna, – Anna von Rhoda –«

      »Rhoda?!« das Ännchen zuckte seltsam zusammen und griff mit der Hand nach der Stirn; ich achtete aber nicht darauf, eben hatte ich meinen Standpunkt dem Bilde gegenüber geändert und stand nun in starrer Verwunderung. Auch ich mußte mit der Hand nach der Stirn greifen – welch eine Ähnlichkeit entdeckte ich! Je starrer ich auf die alte schwarze Leinwand sah, desto bestimmter, klarer trat das geisterhafte, schöne, unheimliche, rührende Gesicht hervor, – die Annie, – das Ännchen, – der Findling vom Schlachtfelde zu Talavera! …

      Sever, Sever, was hat das Ännchen mit der Anna zu thun, welcher vor zweihundert Jahren der Trautenstein gebaut wurde?

      »Was starrst Du so die schöne Donna an, Herr Schullehrer?« fragte das Ännchen.

      »Und was riefest Du eben so seltsam fragend Rhoda, lieb Annie?«

      »Ich? … ach, ich weiß nicht … laß uns fort … schau nicht so das Bild an – ich fürchte mich vor ihm – laß uns fort, – laß uns in den Wald, ich will Dir ein schönes Vogelnest zeigen, welches ich heut am frühen Morgen gefunden habe.«

      Ängstlich faßte das Ännchen meine Hand und zog mich fort aus dem Betsaal, wo einst Anna von Rhoda mit dem wilden Herzog ihre Feste gefeiert hatte.

      Sever, Sever, weshalb gleicht das Bild der toten Anna dem lebendigen Ännchen? O, was wollt’ ich dem geben, der mir diese Frage beantworten würde! Was hilft’s, daß ich mir vorrede, es sei Zufall; mit dem besten Willen vermag ich nicht daran zu glauben.

      Welche Wunder werd’ ich noch hier finden, so tief, tief, tief im Walde? – – – – – – – – – – – – – – – –

      Ich habe den Leutnant Bart auf die Ähnlichkeit des Bildes im Betsaal mit seinem Pflegekinde aufmerksam gemacht. Er hat diese Ähnlichkeit nicht herausgefunden; er hat lächelnd den Kopf geschüttelt und die Achseln in die Höhe gezogen und gemeint, es möge wohl Augentäuschung bei mir sein, das alte Bild gleiche nicht im mindesten seiner lieblichen Annie. Das Geschlecht der Rhoda habe wohl bis vor kurzem noch draußen im platten Lande existiert; aber seine Annie gehöre gewißlich nicht dazu. Auch der Vetter Kaltenborn hat mir nicht recht in meiner Meinung geben wollen: einem weißen wilden Rosenstock, nicht aber dem uralten, halbvermoderten Gesicht, von welchem er nicht begreifen könne, wie es der Herr Pastor im Kirchensaale hängen lasse, möge das Ännchen gleichen – hat er gesagt.

      Es giebt nur ein Wesen auf dem ganzen Trautenstein, welches mit mir die Ähnlichkeit erkennt, das ist Susanna Reußner, die Magd, deren Bräutigam im Jahre Achtzehnhundertneun unter den Schillschen Husaren gefangen und von den Franzosen als Räuber unter dem Hochgerichte erschossen worden war, gleich Deinem Bruder Robert, mein Sever. Vor sieben Jahren war sie noch ein ausgelassenes, lustiges, hübsches Ding; was ist sie nun heute? Ach, wo ist das Rot der Wangen, der Glanz der Augen geblieben? Sie ist alt und still geworden vor der Zeit und lacht niemals, wenn auch alle anderen lachen auf dem Trautenstein. In dunkler Tracht schleicht sie müde einher und gedenkt fort und fort des toten Reiters, den ihr das feindliche Kriegsgericht nahm. Sie hat manch ein trauriges Lied, das singt oder summt sie, wenn sie sich allein oder unbelauscht glaubt. Gestern abend habe ich ihr aber doch eins vom Türmers-Töchterlein abgelauscht. Es lautet:

      Sie neigt sich herab übers Turmgeländ,

       So eisig die Stirn, so glühend die Händ’;

       Der Vater das Sünderglöcklein zieht,

       Durch die Gassen hallt das Totenlied –

       Jetzt holen sie ihn aus dem Kerker.

      Die Trommel wirbelt, – Choralgesang!

       Wie so hell tönt der Sünderglocke Klang!

       Ihr Auge ist starr, ist thränenleer,

       Wie ist das verödete Herz so schwer –

       Und sie führen ihn vor das Rathaus.

      Die Sonne so hell, die Luft so weich;

       Ist die blühende Welt nicht ein Himmelreich?

       Klein Vogel neben ihr zwitschert und singt,

       Und die Arme-Sünderglocke klingt –

       Sie haben den Stab ihm gebrochen.

      Sie neigt sich, sie beugt sich, sie schauet herab,

       Sie lächelt, sie lacht: Schön Schätze! im Grab,

       Im Grabe ha’n wir uns wieder;

       Was wollen die traurigen Lieder? –

       Und sie schleifen ihn zur Richtstatt.

      Tief unter ihr dehnt sich das Häusermeer,

       Der Markt so voll und die Straßen so leer!

       Dumpf rauscht es, dumpf wogt es, die Trommel erschallt,

       Und leise das Sünderglöcklein hallt –

       Der Ring ist geschlossen.

      Sie neigt sich, sie beugt sich, sie faltet die Händ’;

       O Schätzel, o Schätzel, jetzt ist es am End’!

       O Schätzel, o Schätzel! – Ein wilder Schrei,

       Die Trommel die wirbelt – vorbei, vorbei –

       Sie fanden im Grabe sich wieder.

      Diese arme nachdenkliche Susanne hat mit mir erkannt, daß das Ännchen dem Bilde des »Fräuleins« oben im Kirchensaal gleiche. Ihr Auge haftet oft forschend auf dem bleichen, schönen Gesichte des


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