Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe
es blieb mir nichts anderes übrig, als eine neue Mohrrübe abzukratzen, meine Verzweiflung an ihr zu verbeißen. Das kommt davon, wenn man mit soliden Vorsätzen von Hause weggeht! Wie gemütlich hätte ich in dem Augenblick statt auf diesem fatalen Eckstein bei dem Frühstück der Freiwilligen sitzen können! Ich weiß nicht, wie lange ich so brütend da gekauert habe, als ich plötzlich, um zum Himmel zu schauen, meinen Blick aufschlage, aber ihn halbwegs erstarrt ruhen lasse! – – Da saß sie! – Kichernd lehnt sie an dem Eckstein der andern Straßenecke mir gegenüber, eine große, grüne, angebissene Birne in der Hand! ›Guten Morgen, Vetter!‹ lacht sie, ohne sich vom Fleck zu rühren. ›Könntest du mir jetzt vielleicht meinen Korb geben? Ich muß wirklich nach Haus; der Onkel kriegt sonst nichts zu essen!‹ – Ich fahre mit der Hand über die Stirn, ich muß wirklich erst meine Sinne zusammensuchen; ich stoße einen tiefen Seufzer aus – da erhebt sie sich, als schicke sie sich an, wieder fortzurennen. In Todesangst springe ich auf, bin in einem Satz mit dem verdammten Korb an ihrer Seite, hänge ihn ihr an den Arm und sinke nun auf den Eckstein neben ihr, um auch ihn als Sitzmittel zu probieren. – ›Hab ich dich aber gesucht, Gustav!‹ hohnlächelt die Boshafte. ›Gott, wie siehst du aus? Wo hast du denn gesteckt?‹ – › Daimoníê!‹ murmele ich dumpf, während es noch dumpfer auf der unierten Kirche elf schlägt und die Atelierszeit ihrem Ende naht; und so ziehen wir nach Haus, Elise immer kichernd voran, ich hinkend hinter ihr her, meine Rockschöße vorsichtig zusammenhaltend. Eine derangierte Toilette, ein leerer Geldbeutel, müde Beine, ein gräßlicher Nachgeschmack von den fatalen Mohrrüben und das bodenlose Gefühl, mich unendlich lächerlich gemacht zu haben, das waren die Ergebnisse dieses Morgens! Und nun richten Sie, Onkel Johannes!«
»Onkel, laß das Richten nur sein«, sagt Elise. »Er hat sich schon selbst gerichtet. Hat er nicht?«
»Ich glaube auch«, sagt die Tante Berg.
»Ich desgleichen«, gebe ich mein Verdikt ab.
»Das dachte ich wohl«, brummt der denkende Künstler. »Wann hätte je die Unschuld gesiegt?! Abgemacht. Wie wird’s nun mit unserm Spaziergang?«
»Ja, wo wollen wir hin?« ruft Elise, und Gustav meint:
»Ein Vorschlag zur Güte: wir gehen nach dem Wasserhof; da ist bal champêtre! Was meinst du, Lieschen?«
»Kann man da hingehen?« fragt die Tante Berg bedenklich.
»Warum nicht? Sind wir doch dabei!« sagt der denkende Künstler, gravitätisch den Halskragen in die Höhe zupfend. »Übrigens ist heute auch das Atelier mit seinen Schwestern da; ebenso der Professor Frey mit seinen sechs Nichten, und…«
»Nach dem Wasserhof!« rufe ich elektrisiert. »Tante Berg, man kann dahin gehen!«
Und wir gehen hin. –
Wer kennt nicht den Wasserhof? Hat ihn nicht Goethe im ›Faust‹ unsterblich gemacht? »Der Weg dahin ist gar nicht schön.« Welcher Weg um diese Stadt ist schön? Es lebe der Wasserhof! Da gibt es Schatten und kühle Lauben am Tage, Musik, bunte Lampen und fliegende Johanniswürmer am Abend; da gibt es Kellner mit einst weißen Servietten, die in der rechten Hosentasche stecken; da gibt es vor allem einen – prächtigen Tanzplatz im Grünen!
»Lieschen, heute morgen hast du mir einen Korb gegeben; ich will dir das verzeihen, wenn du mir jetzt keinen anhängen willst: Mein Fräulein, darf ich um den ersten Walzer bitten?«
»Laß uns erst ankommen, Vetter!« sagt Lieschen, die auf dem ganzen Wege stets die Vorderste wäre, wenn nicht Gustav gleichen Schritt mit ihr hielte. – –
Da sind wir! Heda, da sitzt schon der alte Meister Frey mit der langen Pfeife hinter einer Flasche Wein, behaglich dem lustigen Treiben zuschauend und lächelnd das schwarze Käppchen auf den langen weißen Haaren hin und her schiebend. Schon aus der Ferne winkt er uns, als wir uns durch die Menge drängen, und ruft uns sein »Willkommen« entgegen. Hurra, da ist das »Atelier mit seinen Schwestern«, wie Gustav sagt, und die sechs Nichten des Professors. Eine lustige Gruppe: lange Haare, schwarze Sammetröcke, Kalabreser mit gewaltigen Troddeln, dann wieder weiße Kleider, bunte Bänder, Strohhüte und Gustav und Elise natürlich sogleich mitten dazwischen. Beim heiligen Vocabulus, ist das nicht der lange Oberlehrer Besenmeier, der da, aptus adliciendis feminarum animis, der dicken Frau Rektorin Dippelmann einen Stuhl erobert? Wahrlich, er ist’s, und da ist der Rektor selbst, der Ruten und Beile so vollständig abgelegt hat, daß ihn in diesem Augenblick jeder Sekundaner ohne böse Folgen um – Feuer für seine Zigarre bitten könnte. Wen haben wir hier? Darf ich meinen Augen trauen? Der königliche Professor der Gottesgelehrtheit, Hof-und Domprediger Dr. Niepeguck!? – Wirklich, er ist’s; mit Frau und Kindern steuert er durch die Menge. »Weg die Dogmatik!« lautet das Studentenlied: warum sollte der alte Hallenser das an einem solchen prächtigen Abend nicht auch noch einmal in – das Doppelkinn summen dürfen? Wie die Universität vertreten ist! Professoren, Privatdozenten und Studenten von allen Fakultäten und Verbindungen! Dacht ich mir’s doch, da sind auch die »unmoralischen Menschen«, die Freiwilligen! Natürlich durften sie nicht fehlen! –
»Guten Abend, Cäcilie, Anna! Guten Abend, Elise, Johanne, Klärchen, Josephine! Das ist ja prächtig, daß ihr auch da seid!« schwirrt und summt das durcheinander.
»Gott, wo bleibt mein Tänzer! Der abscheuliche Mensch wird mich doch nicht ‘sitzen’ lassen?!«
»Auf keinen Fall, mein Fräulein!« sagt der Auskultator Krippenstapel, sein ambrosisches Haupt über die Schulter der erschrockenen Sprecherin streckend und etwas von »nur Personalarrest« murmelnd.
»Lieschen, keinen Korb – bitte!« ruft Gustav, ein Paar wundersame Handschuh anziehend und eine Rosenknospe ins Knopfloch steckend.
»Nun, Vetter, – wenn’s denn nicht anders sein kann – so komm schnell, die Musik fängt schon an.«
»Höre, Peter van Laar«, sagt Gustav schon im Rennen zu einem wohlbeleibten Kunstjünger, »wenn du mich wieder auf den Fuß trittst wie neulich, stecke ich dich morgen mit der Nase in dein Terpentinfaß! Komm, Lieschen!« –
Prr – davon sind sie: »Mutwillige Sommervögel.«
Ich habe unterdessen mit der Tante Helene Platz am Tische des Meister Frey genommen, der eben unter schallendem Gelächter eine Schnurre aus seinem italischen Wanderleben beendet. Der Domprediger redet über die Wirkungen des Weißbiers auf seine Konstitution, während Petrus und Paulus, seine Sprößlinge, sich unter dem Tisch wälzen und balgen und die Frau Domprediger sich darüber aufhält, daß die Kellner sich mit der Hand schneuzen.
»Es ist immer noch besser als in die Serviette!« sagt der Rektor Dippelmann, eine Prise nehmend und in der Zerstreuung die Dose der Tante Helene anbietend. An ein und demselben Punkt werden nun zwei Gespräche angeknüpft: die Weiber plumpsen in die große Wäsche und der Domprediger mit dem Rektor Dippelmann in die – Theologie.
»Kommen Sie, Wachholder«, sagt der Professor Frey, »wir wollen lieber den Kindern beim Tanzen zusehen! Mir wird wässerig und schwül zugleich.«
Da ich wirklich etwas Ähnliches in mir spüre, nehme ich den Vorschlag mit Freuden an, und wir wandeln durch die Gänge mit den bunten Lampen und Laubgewinden dem Tanzplatz zu. Da ist ein lustiges Treiben.
»Welche prächtigen Reflexe!« ruft der alte Maler ganz enthusiasmiert. »Sehen Sie, Wachholder, da kommt der Berg, aus dem ich Ihnen trotz seiner sporadischen Bummelei und Liederlichkeit doch noch einen echten Künstler mache. Nun, fanello«, wendet er sich an den Herbeieilenden, »ich hoffe, Ihr werdet meine Mädchen nicht ›dörren‹ lassen – wie sie sagen!«
Der denkende Künstler grinst auf eine unbeschreibliche Weise:
»Wir tun unser möglichstes, Herr Professor. Sehen Sie nur den Peter Laar! Segelt er nicht wie ein wahrer Fapresto mit Fräulein Julie dahin? Hier können Sie sich doch wahrlich nicht beklagen, daß er keine Fortschritte mache. Sehen Sie nur, wie er weiterkommt. Sehen Sie, wie – buff! Dacht ich’s doch! Da bohrt er den Auskultator Krippenstapel mit seiner Donna zu Grund! Alle Wetter! Das gibt Skandal! Da muß ich retten!«
»Herr!«