Zum Kontinent des eisigen Südens. Erich von Drygalski
Friedrich Graf von Baudissin vom Reichsmarineamt als auch Dr. Friedrich Schmidt vom Königlich Preußischen Kultusministerium, die schon an der Planung und Organisation der Deutschen Tiefsee-Expedition mit der »Valdivia« (1898–1899) beteiligt waren, setzten sich nun auch von Amts wegen für die Expedition ein.
Mittels einer Immediateingabe an S. M. Kaiser Wilhelm II. sollten im Juli 1898 maßgebende Kreise des Deutschen Reichs für die Ausrüstung einer Südpolarexpedition interessiert werden. Die Zeit drängte, denn gerade war eine private britische Antarktisexpedition (1898–1900) unter der Leitung des Norwegers Carsten Borchgrevink aufgebrochen, um erstmals auf antarktischem Boden bei Kap Adare im Victoria Land zu überwinterten. Deutschland sollte aber unbedingt bei der Wiederaufnahme der antarktischen Forschungen mit vertreten sein, galt sie doch der letzten Region der Erdkugel, die noch nicht unter den Großmächten aufgeteilt war. Durch eine große Werbeveranstaltung im Krollschen Theater zu Berlin, zu der Drygalskis Doktorvater und Mentor Ferdinand Frhr. von Richthofen als Präsident der Berliner Gesellschaft für Erdkunde und Prinz Arenberg von der Deutschen Kolonialgesellschaft am 16. Januar 1899 eingeladen hatten, konnten etliche Mitglieder des Reichstags für die Aussendung einer Expedition in die unbekannte Südpolarregion gewonnen werden, denn sie passte gut in den Kontext der auf Expansion ausgerichteten Kolonialpolitik und des Ausbaus der Überseegebiete.
Der persönlichen Initiative des Staatsministers des Reichsamts des Innern, Dr. Graf von Posadowsky-Wehner, ist es zu verdanken, dass im April 1899 1,5 Mio. Mark für die Entsendung einer Expedition im Jahr 1901 bereitgestellt wurden. Aus politischer Sicht galt es, bei der Erforschung der Antarktis nicht zurückzubleiben, denn es handelte »sich um eine nationale Pflicht bei einer internationalen Aufgabe«, »wo Deutschland nicht zurückbleiben dürfe.« (Drygalski 1904, S. 9). Nationale Argumentationen waren damals an der Tagesordnung, als die deutsche Flotte rasant auf- und ausgebaut wurde mit dem Ziel, die Kolonialpolitik zu stützen und ein ernsthafter Rivale der britischen Seemacht zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt würde eine erfolgreiche deutsche Expedition durch herausragende Leistungen in Wissenschaft und Seemannschaft das Ansehen im Ausland weiter heben.
In England waren die Vorbereitungen längst nicht so weit fortgeschritten. Erst mit Datum vom 22. April 1899 verschickte Markham einen Spendenaufruf zur Unterstützung der National Antarctic Expedition. Viel Zeit für die Einleitung konkreter Maßnahmen war ihm nicht mehr gegeben, denn vom 28. September bis 4. Oktober 1899 sollte in Berlin unter Richthofens Leitung der VII. Internationale Geographenkongress stattfinden, auf dem wiederum eine ganze Sektion der Polarforschung gewidmet war. Hier bekam Markham die Gelegenheit, seine Ideen über ein gemeinsames Vorgehen in der Antarktis zu präsentieren. Gemäß den damals vorherrschenden imperialistischen Vorstellungen teilte Markham die unbekannte Region um den Südpol in vier Quadranten ein, wobei England aufgrund seiner früheren Forschungsaktivitäten der Victoria- und Rossquadrant auf der australischen Seite zwischen 90° W bis 90° W als Arbeitsgebiet zufielen und Deutschland der Weddell- und Enderbyquadrant auf der Seite von Kap Horn und Kap der Guten Hoffnung zwischen 90° O bis 90° W. Man verständigte sich darauf, dass England die pazifische Seite und Deutschland die indisch-atlantische Seite übernahm, damit die gegenseitige Ergänzung beider Expeditionen in wissenschaftlicher Hinsicht aufs Beste gewährleistet sei. Diese nationalistisch geprägte Aufteilung der Arbeitsgebiete wurde von den Wissenschaftlern, ohne zu hinterfragen, als notwendig akzeptiert.
Anschließend ging Drygalski auf seinen Expeditionsplan ein und erläuterte das Arbeitsprogramm. Nach den Vorträgen gab es eine wohlwollende Diskussion, an der sich namhafte Persönlichkeiten mit zahlreichen Anregungen beteiligten. Unter anderem empfahl Nansen aufgrund seiner Erfahrungen während der »Fram«-Drift, dass Drygalskis Expedition nicht mit zu viel Forschungsaufgaben überschüttet werden solle. Wenn man zu viel Verschiedenes erforschte, würde die Arbeit nicht genau genug gemacht. Es sollten stattdessen mehrere Expeditionen ausgesendet werden, die kleinere Gebiete bearbeiteten. Als einziger Streitpunkt ergab sich im Meinungsaustausch die unterschiedliche Auffassung über die Mitnahme von Hunden, die von Markham kategorisch abgelehnt, von Drygalski jedoch befürwortet wurde. Als es keine Wortmeldungen mehr gab, legte Drygalski mit dem folgenden Antrag den Grundstock für die Verwirklichung einer internationalen Kooperation nach dem Vorbild des Polarjahres:
»Der Kongress nimmt von der für die Erforschung des Südpolargebiets in den erstatteten Berichten vorgeschlagenen Arbeitstheilung Kenntniss und theilt die Erwartung, dass dadurch eine zweckmäßige Grundlage für die internationale Kooperation bei den physisch-geographischen, geologischen, geodätischen und biologischen Forschungen gegeben ist. Für die meteorologisch-magnetischen Arbeiten erklärt der Kongress nähere Vereinbarungen für wünschenswerth und ernennt dazu eine internationale Kommission, deren Aufgabe es ist:
1. den Umfang und die Forschungsmittel für die magnetisch-meteorologischen Arbeiten der Expeditionen selbst zu erörtern;
2. die Organisation gleichzeitiger und korrenspondirender Beobachtungen an geeigneten Orten ausserhalb des Südpolargebietes zu erwirken.«
Durch die Verabredung einer koordinierten Erforschung der Antarktis wurden die jahrzehntelangen Bestrebungen der darüber gealterten Protagonisten Neumayer (1826–1909) und Markham (1830–1916) endlich von Erfolg gekrönt. Beide ähnelten sich sehr, denn sie gehörten einer älteren Generation an, deren Vorstellungen in Bezug auf die Ausrüstung von Polarexpeditionen nicht mit der Zeit gegangen waren. Markham plante eine traditionelle Marineexpedition unter der Leitung eines jungen Offiziers, der sowohl über das Schiff als auch über die Expedition an Land das Kommando hätte. In Deutschland wurde eine besondere Lösung geschaffen, indem die Expedition unter der Flagge des Reichsministeriums des Innern segeln sollte und Drygalski als Vertreter des Deutschen Reiches absoluter Expeditionsleiter würde, dem auch der Kapitän unterstellt sei, soweit nicht Schiff und Mannschaft in Gefahr wären. Unter diesen Vorgaben liefen die Vorbereitungen weiter.
Am 24. März 1900 informierte William Speirs Bruce (1867–1921) Drygalski, dass er dabei sei, unter der Schirmherrschaft der Scottish Geographical Society eine Scottish National Antarctic Expedition vorzubereiten und dass er mit der britischen und deutschen Expedition zu kooperieren wünsche. Bruce hatte schon im Südsommer 1892/93 auf einem Walfänger die Nordspitze der Antarktischen Halbinsel kennengelernt und während seiner Überwinterung auf Franz-Josef-Land (1896/97) als Mitglied der Jackson-Harmsmith-Expedition (1894–1897) wertvolle Polarerfahrung gesammelt.
Im selben Monat wurde das britische Polarschiff »Discovery« von den Dundee Shipbuilders auf Kiel gelegt und schließlich am 30. Juni 1900 der Marineoffizier Robert Falcon Scott (1868–1912) offiziell zum britischen Expeditionsleiter bestellt. Weitere Expeditionsmitglieder waren Leutnant Albert Armitage als Navigator, der während Jacksons Expedition astronomische, meteorologische und magnetische Beobachtungen durchgeführt hatte, und der Arzt Reginald Koettlitz als Botanist und Bakteriologe, der die Expedition auf Franz-Josef-Land vor Skorbut bewahrt hatte. Beide waren versierte Hundeschlittenführer und Skifahrer und verfügten durch ihre Überwinterung in der Arktis bei 80° N über unschätzbare Erfahrungen, auf die Scott bei Bedarf zurückgreifen konnte.
Drygalski hatte die Fähigkeit zu delegieren, sodass er ab April 1900 sukzessive Wissenschaftler und Schiffsoffiziere in die konkreten Vorbereitungen einspannte. Nachdem die deutsche Expedition nicht nur eine vielversprechende neue Route beschreiten sollte, sondern auch wissenschaftliches Neuland, mussten erst gewisse Grundlagen dafür geschaffen werden. Zunächst arbeitete sich der Arzt Hans Gazert in bakteriologische Studien ein, die durch den Begründer der modernen Bakteriologie, Robert Koch, ein aktuelles Forschungsgebiet war. Außerdem kümmerte sich Gazert um den Proviant und die sportliche Ausrüstung. Friedrich Bidlingmaier studierte am Meteorologisch-magnetischen Observatorium auf dem Telegrafenberg bei Potsdam die neuesten Messmethoden. Daneben stellte er das Programm für die Internationale Meteorologische Kooperation vom 1. Oktober 1901 bis 31. März 1903 auf, in dem festgelegt wurde, dass um 12 Uhr mittags GMT Luftdruck, Lufttemperatur, Windrichtung und -geschwindigkeit, Art und Stärke der Bewölkung, sowie die Zugrichtung der Wolken in ein eigens für diesen Zweck angefertigtes Büchlein eingetragen werden sollten. Hierzu wurde auch die Mitwirkung deutscher Kriegs- und Handelsschiffe, die südlich von 30° S unterwegs waren, veranlasst. Das Messprogramm der Internationalen Magnetischen Kooperation betraf nur die Antarktisexpeditionen, die zwischen 1. Februar 1902