Der Spürsinn des kleinen Doktors. Georges Simenon

Der Spürsinn des kleinen Doktors - Georges  Simenon


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      Jetzt musste er Drouin auf den Fersen bleiben, musste es sich zunutze machen, dass er unter Druck war. Der Ladenbesitzer in Pantoffeln schob ihn hinaus, aber Dollent ließ sich nicht abwimmeln.

      »Pardon, noch eine Frage: Er hat doch gewiss Geld hinterlegen müssen?«

      »Er hatte nicht genug dabei. Er hat mir seine Uhr dagelassen.«

      Herrlich! Mehr, als er hatte hoffen können. Dem kleinen Doktor hüpfte das Herz vor Freude. Wenn nur dieser blöde Fahrradhändler nicht …

      »Dürfte ich sie einmal sehen? Keine Sorge. Ich bin Doktor Dollent aus Marsilly … Hier ist mein Führerschein.«

      Bei einem solchen Kerl halfen keine Mätzchen.

      »Ich suche einen Freund, den ich in Rochefort treffen sollte. Er hat wohl die Fahrräder gemietet, um zu mir zu fahren.«

      »Da hätte er ja mit dem Bus fahren können.«

      »Daran wird er nicht gedacht haben … Wenn ich die Uhr sehen könnte, wüsste ich, ob …«

      »Sind Sie nicht eher ein Freund der kleinen Dame und wollen nur aus Eifersucht …«

      Trotzdem zeigte er ihm die Uhr, ganz vorsichtig, ohne sie aus den Augen zu lassen. Eine prächtige goldene Uhr.

      »Würden Sie bitte das Gehäuse öffnen? Vielleicht steht sein Name …«

      Und wirklich, so war es. Die Götter waren auf seiner Seite. Im Gehäuse standen ein Name und ein Vorname: Jean Larcher, und auch eine Adresse: Boulevard Raspail 67, Paris.

      »Ich danke Ihnen. Das ist er …«

      Er hätte eigentlich noch etwas sagen sollen, aber vor allem musste er verschwinden und die beiden Radfahrer einholen, die gewiss in Richtung Marsilly fuhren. Fuhren sie schnell? Fuhren sie langsam? Das war von größter Bedeutung. Nahmen sie die Landstraße? Da sie die Gegend bestimmt nicht kannten, wagten sie sich womöglich nicht auf die Wege im Moor.

      Es war eine tolle Jagd. Es dämmerte bereits, und unter den Bäumen war kaum noch etwas zu erkennen. Und leider gab es viele Radfahrer, auch solche, die zu zweit unterwegs waren. Der kleine Doktor hatte seine Scheinwerfer eingeschaltet. Er versuchte, die Radfahrer zu erkennen, aber dann kamen ihm Skrupel, und er hielt an, nachdem er sie überholt hatte, wartete auf sie, um sie von vorn zu sehen, sodass man ihn für einen Sonderling halten konnte.

      Zwanzig Kilometer, dreißig! Und kein Drouin (beziehungsweise Jean Larcher), keine junge Frau, jedenfalls nicht die, die er suchte. Als er die Lichter von La Rochelle sah, war es stockfinster, und er geriet in Panik.

      Er war jetzt fast sicher, dass er zu spät kommen würde. Drouin hatte es bestimmt eilig. Am helllichten Tag konnte er nicht handeln, aber er würde auch nicht bis Mitternacht warten.

      Seit einer halben Stunde war es dunkel. Also …

      Der kleine Wagen brummte wütend, denn mehr als fünfundsechzig Kilometer in der Stunde waren nicht drin. Sein Fahrer war wie von Sinnen, und ein paarmal erhob er sich ein wenig von seinem Sitz, was das Auto aber auch nicht beschleunigte.

      Nieul … Marsilly … Linker Hand sein Haus mit dem Gitter, dem Hof, dem im Esszimmer, aber auch im Sprechzimmer brennenden Licht.

      Zu spät! Wenn im Sprechzimmer Licht brannte, bedeutete das …

      Er ließ den Wagen auf der Straße stehen und vergaß den Motor abzustellen. Er eilte die Treppe hinauf. Die Tür öffnete sich. Anna, die ganz verstört wirkte, sagte:

      »Ach, da sind Sie ja endlich. Ich habe überall herumtelefoniert. Es ist eine arme Dame hier, die …«

      »Ich weiß.«

      Anna sah ihn so erstaunt an, dass er sich korrigierte:

      »Das heißt, ich habe es geahnt, als ich Licht sah.«

      »Sie ist hundert Meter vom Haus entfernt, genau an der Ecke, von einem Auto angefahren worden. Ich habe ja immer gesagt, die Ecke dort …«

      Er hörte nicht hin. Er wusste, er musste schleunigst in sein Sprechzimmer. Schon zog er die Jacke aus, öffnete die Tür, und als er sie wieder schloss, brummte er, ohne die Frau auch nur anzusehen:

      »So etwas Dummes. Hätten Sie nicht noch eine halbe Stunde länger warten können?«

      IV Der kleine Doktor hatte recht

      Eine Kugel?«, fragte er, während er sich vergewisserte, dass die Vorhänge zugezogen waren.

      Sie schüttelte den Kopf. Sie war blass, sicherlich mehr vor Erregung als vor Schmerzen. Sie hielt sich ein Taschentuch an die Schulter, das schon blutdurchtränkt war.

      »Ein Messerstich? … Das ist ja eine richtige Marotte!«

      Mit einem kläglichen Lächeln antwortete sie:

      »Er hatte keinen Revolver. Und hätte er einen gehabt, er hätte wohl kaum schießen können. Er hatte Angst davor.«

      »Ziehen Sie Ihre Bluse aus.«

      Er tat so, als beachtete er sie gar nicht, und steckte sofort den Gaskocher an, um Wasser heiß zu machen, legte Watte, Gaze, Verbandszeug bereit.

      »Werden Sie die Wunde nähen müssen?«

      »Das weiß ich noch nicht. Sie ist nicht sehr tief. Wo ist er? Er hat doch hoffentlich nicht den Zug genommen?«

      Er drehte sich um und war ein bisschen verlegen, als er sie mit entblößtem Oberkörper sah – ein herrlicher Oberkörper, dem die zwei Zentimeter breite Wunde an der Schulter nichts von seiner Schönheit nahm.

      »Er will vor morgen früh mit dem Fahrrad in Bordeaux sein.«

      »Geht dann ein Schiff von dort ab?«

      »Ja, er hat das heute Nachmittag in Rochefort in der Zeitung gelesen. Die Veuzit sticht nach Chile in See. Wenn man ihn nicht an Bord lässt, wird er als blinder Passagier mitfahren … Und sobald das Schiff auf hoher See ist … Die Veuzit ist übrigens kein französisches Schiff.«

      »Tue ich Ihnen weh?«

      »Nicht sehr.«

      »Halten Sie die Watte auf die Wunde, während ich meine Instrumente hole.«

      Aber nicht deswegen ging er in die Küche, sondern wegen Anna, die dort die schon kalte Suppe aß.

      »Hören Sie, Anna, es ist heute Abend niemand gekommen … Verstehen Sie? Sie haben diese Dame nicht gesehen … Ich möchte aber, dass Sie das Gästezimmer im zweiten Stock richten … Man kann nie wissen …«

      Als er zurückkam, sah ihn seine Patientin verängstigt an, und er versuchte schnell, sie zu beruhigen.

      »Befürchten Sie nichts … Ich habe nicht telefoniert … Wenn unser Freund Larcher es fertigbringt, die hundertachtzig Kilometer mit dem Fahrrad zu fahren …«

      »Sie kennen seinen Namen?«

      »Natürlich.«

      Er war nicht wenig stolz darauf. Er legte die Klammern bereit.

      »Sie brauchen keine Angst zu haben. Es wird nicht einmal eine Narbe geben.«

      »Wie haben Sie seinen Namen erfahren?«

      »Ich könnte auch in wenigen Minuten seine ganze Geschichte erfahren, ohne mich an die Polizei zu wenden. Dazu bräuchte ich nur am Boulevard Raspail 67 anzurufen. Vermutlich hätte ich dann einen Papa und eine Mama an der Strippe, die mit ihrem Sohn nichts mehr zu tun haben wollen.«

      »Die wissen von nichts. Sie glauben, Jean sei Praktikant in Algier. Er ist Ingenieur.«

      »Und Sie?«, fragte er plötzlich.

      Im selben Augenblick tat er ihr weh, aber sie lächelte trotzdem schwach.

      »Das wissen Sie nicht?«

      »Ich


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