Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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Palaste. Am Himmel war auch nicht das kleinste Wölkchen zu sehen, und das Wasser hatte eine fast blaue Farbe, was bei der Newa nur selten vorkommt. Die Kuppel des Domes, die sich von keinem Punkte aus besser präsentiert, als wenn man auf dieser Brücke etwa zwanzig Schritt von der Brückenkapelle entfernt steht, leuchtete förmlich, und bei der reinen Luft war sogar jede einzelne kleine Verzierung deutlich zu erkennen. Der Schmerz von dem Peitschenhiebe hatte nachgelassen, und Raskolnikow hatte den Hieb bereits vergessen; ein unruhiger und nicht ganz klarer Gedanke beschäftigte ihn jetzt ausschließlich. Er stand und schaute lange mit starrem Blick in die Ferne; diese Stelle war ihm sehr bekannt. Als er noch die Universität besuchte, war er häufig, wohl hundertmal, namentlich auf dem Rückwege nach Hause, gerade an dieser Stelle stehengeblieben, um unverwandt dies wahrhaft großartige Panorama zu betrachten und sich fast jedesmal über ein unklares, undefinierbares Gefühl, das ihn bei diesem Anblicke überkam, zu wundern. Eine sonderbare Kälte wehte ihn immer von diesem großartigen Panorama an; nach seiner Empfindung lag eine Art von stummem, dumpfem Hauche über dieses prächtige Bild hingebreitet. Er wunderte sich jedesmal über diesen finstern, rätselhaften Eindruck, den es auf ihn machte, und verschob den Versuch, dieses Rätsel zu lösen, da er seiner eigenen Empfindung mißtraute, auf eine spätere Zeit. Jetzt erinnerte er sich auf einmal deutlich an diese Fragen und Zweifel, die ihn früher beschäftigt hatten, und es schien ihm, daß ihm diese Erinnerung nicht so ganz zufällig gekommen sei. Schon allein der Umstand kam ihm befremdend und wunderlich vor, daß er genau an derselben Stelle stehengeblieben war wie früher, als glaube er wirklich, daß er jetzt noch über denselben Gegenstand wie früher nachsinnen und sich für solche Themen und Bilder interessieren könne, wie sie ihn vor noch gar nicht so langer Zeit interessiert hatten. Dieser Gedanke brachte ihn beinahe zum Lachen und preßte ihm gleichzeitig schmerzlich die Brust zusammen. Ganz unten in einem Abgrunde, in einer kaum absehbaren Tiefe, lagen jetzt für ihn sein ganzes früheres Leben und seine früheren Interessen, Aufgaben, Probleme und Eindrücke und dieses ganze Panorama und er selbst und alles, alles … Es schien ihm, als fliege er aufwärts in eine ungewisse Ferne und als entschwinde alles seinen Augen. Bei einer unwillkürlichen Bewegung mit der Hand fühlte er plötzlich in seiner Faust das Zwanzigkopekenstück, das er krampfhaft festhielt. Er öffnete die Hand, starrte die Münze an, holte aus und schleuderte sie ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Es war ihm, als hätte er in diesem Augenblicke wie mit einer Schere sich selbst von allen und von allem losgeschnitten.

      Als er nach Hause kam, war es schon Abend; er mußte also im ganzen gegen sechs Stunden umhergewandert sein. Auf welchem Wege und wie er heimgegangen war, dafür hatte er keine Erinnerung. Er zog die Kleider aus und legte sich, am ganzen Leibe zitternd wie ein abgehetztes Pferd, auf das Sofa, deckte sich mit seinem Mantel zu und versank sofort in Bewußtlosigkeit.

      Tief in der Nacht kam er von einem fürchterlichen Geschrei wieder zu sich. O Gott, was war das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen Töne, ein solches Geheul, Gewinsel, Zähneknirschen, solche Tränen, Schläge und Schimpfwörter hatte er noch nie gehört und gesehen. Eine solche Bestialität und Raserei hatte er überhaupt nie für menschenmöglich gehalten. Erschreckt richtete er sich auf und setzte sich in seinem Bette; das Herz drohte ihm jeden Augenblick vor Qual auszusetzen. Das Prügeln, Wimmern und Schimpfen wurde immer ärger. Da unterschied er auf einmal zu seinem höchsten Erstaunen die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, winselte und jammerte, wobei sie die Worte so eilig und hastig hervorstieß, daß sie nicht zu verstehen waren; sie flehte um etwas, doch wohl, daß man aufhören möchte, sie zu schlagen; denn sie wurde ganz unbarmherzig auf der Treppe geprügelt. Die Stimme des Schlagenden war von Ingrimm und Wut so schrecklich entstellt, daß sie nur wie ein heiseres Röcheln klang; aber trotzdem redete auch er immerzu etwas und ebenso schnell, unverständlich, hastig und halb erstickt wie die Wirtin. Plötzlich fing Raskolnikow an wie Espenlaub zu zittern: er hatte diese Stimme erkannt: es war Ilja Petrowitschs Stimme. Ilja Petrowitsch war da und schlug die Wirtin! Er stieß sie mit den Füßen, er stieß ihren Kopf gegen die Stufen – das hörte man ganz deutlich an dem Geräusch, an dem Geheul, an dem Aufschlagen! Wie ging das zu? Hatte sich die Welt umgedreht? Man hörte, wie sich in allen Stockwerken eine Menge Menschen auf der Treppe ansammelte; Stimmen wurden laut, Ausrufe ertönten; es war ein Gelaufe und Herumtrampeln; Türen wurden zugeschlagen; alles rannte zusammen. ›Aber was hat sie nur getan? Was hat sie nur getan? Und wie ist so etwas nur möglich?‹ fragte er sich und glaubte allen Ernstes, daß er verrückt geworden sei. Aber nein doch, er hörte alles nur zu deutlich! … ›Also, wenn’s so ist, werden sie im nächsten Augenblick auch zu mir kommen; denn … jedenfalls ist das alles wegen derselben Sache … wegen der gestrigen Sache, … o Gott!‹ Er dachte daran, die Tür zuzuriegeln; aber er vermochte den Arm nicht zu heben, … und es wäre ja auch nutzlos gewesen. Die Angst legte sich auf seine Seele wie ein Eisklumpen; sie peinigte ihn und machte ihn ganz starr. Aber siehe da, nachdem dieser entsetzliche Lärm wohl zehn Minuten gedauert hatte, wurde er endlich allmählich schwächer. Die Wirtin stöhnte und ächzte nur noch, Ilja Petrowitsch aber drohte und schimpfte noch immer. Nun schien auch er ruhiger zu werden; jetzt hörte man ihn gar nicht mehr. ›Sollte er wirklich weggegangen sein? O Gott!‹ Ja, nun ging auch die Wirtin fort, immer noch unter Stöhnen und Weinen, … jetzt schlug auch die Tür zu ihrer Wohnung zu … Nun gingen die Menschen, die auf der Treppe gewesen waren, auseinander und begaben sich in ihre Wohnungen; man hörte noch erregte Ausrufe, sie stritten sich, riefen einander zu; bald steigerten sie ihre Wechselrede bis zum Geschrei, bald ließen sie sie zum Geflüster herabsinken. Es mußten wohl sehr viele Leute dagewesen sein; gewiß war beinahe das ganze Haus zusammengelaufen. ›Aber mein Gott, ist denn das alles möglich? Und warum, warum war er hierhergekommen?‹

      Raskolnikow fiel kraftlos auf das Sofa zurück; aber er konnte die Augen nicht mehr schließen; etwa eine halbe Stunde lang lag er so da, in einem so qualvollen Zustande und in einem so unerträglichen Gefühle grenzenloser Angst, wie er das noch niemals durchgemacht hatte. Auf einmal erhellte ein greller Lichtschein sein Zimmer: Nastasja kam mit einem Lichte und mit einem Teller Suppe herein. Sie blickte ihn aufmerksam an, und als sie sah, daß er nicht schlief, stellte sie das Licht auf den Tisch und ordnete daneben, was sie mitgebracht hatte: Brot, Salz, einen Teller und einen Löffel.

      »Du hast gewiß seit gestern nichts gegessen. Treibst dich den ganzen Tag herum, wo du doch Fieber hast!«

      »Nastasja, warum hat die Wirtin Schläge bekommen?«

      Sie sah ihn mit einem prüfenden Blicke an.

      »Wer hat denn die Wirtin geschlagen?«

      »Jetzt eben, … vor einer halben Stunde, hat es Ilja Petrowitsch getan, der Stellvertreter des Revieraufsehers, auf der Treppe … Warum hat er sie so geschlagen, und warum ist er überhaupt hergekommen?«

      Nastasja betrachtete ihn schweigend und mit gerunzelter Stirn; so sah sie ihn lange an. Ihm wurde ihr forschender Blick unangenehm, ja geradezu beängstigend.

      »Nastasja, warum antwortest du nicht?« fragte er zuletzt schüchtern und mit schwacher Stimme.

      »Das kommt vom Blute«, erwiderte sie endlich leise, wie wenn sie zu sich selbst spräche.

      »Blut? … Was für Blut?« murmelte er. Er wurde ganz blaß und rückte an die Wand.

      Nastasja blickte ihn immer noch schweigend an.

      »Niemand hat die Wirtin geschlagen«, antwortete sie dann in scharfem, entschiedenem Tone.

      Er sah sie an und konnte kaum Atem holen.

      »Ich habe es doch mit eigenen Ohren gehört, … ich habe nicht geschlafen, … ich habe aufrecht gesessen«, entgegnete er noch schüchterner. »Ich habe es lange mit angehört. Der Stellvertreter des Revieraufsehers war gekommen. Es war ein großer Auflauf auf der Treppe, die Leute aus allen Wohnungen …«

      »Kein Mensch ist hergekommen. Das ist das Blut, das in dir herumtobt. Wenn das keinen Ausweg hat und zu Klumpen gerinnt, davon kommt dann solch unsinniges Gerede … Willst du nicht etwas essen?«

      Er antwortete nicht. Nastasja stand noch immer neben ihm, blickte ihn unverwandt an und ging nicht weg.

      »Gib mir zu trinken, liebe Nastasjuschka!«

      Sie ging nach unten und kam nach zwei Minuten mit Wasser in einem weißen Tonkruge zurück; aber was weiter vorging,


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