Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
sie auch heute abend nach dem Friedhof gebracht werden und bis morgen in der Kapelle bleiben. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht; aber jetzt sieht sie schließlich selbst ein, daß es nicht anders geht …«
»Also heute?«
»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen dem Totenamte in der Kirche beizuwohnen und dann nach ihrer Wohnung zu kommen, zum Gedächtnismahl.«
»Also ein Gedächtnismahl veranstaltet sie?«
»Ja, nur einen kleinen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie uns gestern unterstützt haben, … ohne Ihre Beihilfe hätten uns die Mittel zur Beerdigung gefehlt.«
Lippen und Kinn begannen ihr krampfhaft zu zucken; aber sie nahm sich zusammen und beherrschte sich; sogleich schlug sie wieder die Augen nieder.
Während des Gesprächs betrachtete Raskolnikow sie aufmerksam. Sie hatte ein außerordentlich mageres, blasses, etwas spitzes Gesichtchen, mit kleinem, spitzem Näschen und Kinn und ziemlich unregelmäßigen Zügen. Hübsch konnte man sie eigentlich nicht nennen; aber dafür waren ihre blauen Augen so klar und verliehen, wenn sie sich belebten, dem Gesichte einen so guten, treuherzigen Ausdruck, daß man sich unwillkürlich zu ihr hingezogen fühlte. Außerdem lag in ihrem Gesichte und in ihrer ganzen Gestalt noch eine besonders charakteristische Eigenheit: trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie weit jünger aus, als sie wirklich war, beinahe wie ein Kind, und das trat manchmal bei bestimmten Bewegungen in einer geradezu komisch wirkenden Weise hervor.
»Hat denn Katerina Iwanowna mit einer so kleinen Summe alles bestreiten können, wenn sie sogar noch einen Imbiß zu geben beabsichtigt?« fragte Raskolnikow, eifrig bemüht, das Gespräch im Gange zu halten.
»Der Sarg ist ganz einfach, … und auch alles andere ist ganz einfach, so daß es nicht allzuviel kostet … Ich habe vorhin mit Katerina Iwanowna alles berechnet; es bleibt noch so viel übrig, um ein Gedächtnismahl zu veranstalten, … und Katerina Iwanowna wünscht so sehr, daß eines stattfinden möchte … Da müssen wir wohl … Ihr ist es ein Trost, … das liegt nun einmal so in ihrem Wesen, Sie wissen wohl …«
»Ich verstehe, ich verstehe … Gewiß … Warum mustern Sie denn mein Zimmer so? Meine Mama hier sagt auch, es sehe aus wie ein Sarg.«
»Sie haben uns gestern Ihr ganzes Geld gegeben!« sagte plötzlich, statt auf die Frage zu antworten, Sonja hastig in einem eigenartigen, lauten Flüstertone und senkte dann wieder den Kopf.
Lippen und Kinn zuckten ihr wieder. Raskolnikows ärmliche Behausung war ihr schon längst aufgefallen, und nun waren ihr diese Worte ganz unwillkürlich entschlüpft. Eine Weile schwiegen alle. Dunjas Augen hatten einen merkwürdigen Glanz bekommen; und Pulcheria Alexandrowna blickte Sonja ganz freundlich an.
»Rodja«, sagte sie aufstehend, »wir essen selbstverständlich zusammen zu Mittag. Komm, Dunja … Und du, Rodja, solltest ausgehen, einen kleinen Spaziergang machen und dich dann hinlegen und ein bißchen ausruhen; und dann komm recht früh … Ich fürchte, das Gespräch mit uns hat dich doch angegriffen …«
»Ja, ja, ich werde kommen«, antwortete er eilig und stand auf. »Aber ich habe allerdings noch etwas Notwendiges vorher zu besorgen …«
»Na, ihr werdet doch nicht der eine hier, der andre da Mittag essen?« rief Rasumichin und sah Raskolnikow verwundert an. »Was hast du denn?«
»Ich sage ja, ich werde kommen, gewiß, gewiß … Aber bleib du noch einen Augenblick hier. Sie brauchen ihn ja doch wohl im Augenblick nicht, Mama? Oder entziehe ich ihn euch vielleicht?«
»O nicht doch, nicht doch! Kommen Sie doch auch mit zum Mittagessen, Dmitrij Prokofjitsch, wollen Sie so gut sein?«
»Bitte, kommen Sie!« bat auch Dunja.
Rasumichin verbeugte sich zusagend und strahlte über das ganze Gesicht. Eine wunderliche Verlegenheit überkam alle für einen Augenblick.
»Adieu, Rodja, oder lieber: Auf Wiedersehen! Ich sage nicht gern ›Adieu‹. Adieu, Nastasja … Ach, da habe ich ja doch wieder ›Adieu‹ gesagt!« sagte Pulcheria Alexandrowna.
Sie war nahe daran, auch Sonja eine Verbeugung zu machen; aber sie brachte es doch nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer.
Aber Dunja wartete, bis die Reihe, herauszugehen, an sie kam, und als sie hinter der Mutter an Sonja vorbeiging, machte sie ihr eine freundliche, höfliche und ordnungsmäßige Verbeugung. Die arme Sonja wurde verlegen und verbeugte sich hastig und erschrocken; auf ihrem Gesichte spiegelte sich sogar eine Art von schmerzlicher Empfindung wieder, als ob Dunjas Höflichkeit und Freundlichkeit ihr drückend und peinlich wären.
»Adieu, Dunjetschka!« rief Raskolnikow, als diese schon auf dem Flur war. »Gib mir doch die Hand!«
»Ich habe sie dir doch gegeben; hast du das schon vergessen?« antwortete Dunja freundlich und drehte sich mit dem Oberkörper noch einmal nach ihm um.
»Nun, das schadet ja nichts; so reich sie mir noch einmal!«
Er drückte kräftig ihre feinen Fingerchen. Dunja lächelte ihm zu, errötete, entriß ihm schnell ihre Hand und lief der Mutter nach; auch sie fühlte sich auf einmal ganz glücklich.
»Nun schön!« sagte er zu Sonja, als er in sein Zimmer zurücktrat, und blickte sie mit klaren Augen an. »Gott gebe den Toten eine sanfte Ruhe; aber die Lebenden mögen leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Das ist doch das Richtige!«
Mit Erstaunen sah Sonja, wie sein Gesicht plötzlich hell geworden war; er schaute sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an; alles, was ihr verstorbener Vater über sie erzählt hatte, kam ihm wieder ins Gedächtnis.
»Herrgott, Dunja!« begann Pulcheria Alexandrowna, sowie sie auf die Straße hinaustraten. »Ich bin ordentlich froh, daß wir weggegangen sind; es ist mir gleich leichter ums Herz. Hätte ich wohl gestern auf der Eisenbahn gedacht, daß ich mich darüber freuen würde!«
»Ich kann Ihnen nur wiederholen, liebe Mama: er ist noch sehr krank. Sehen Sie das denn nicht? Vielleicht haben gerade die Sorgen, die er sich um uns gemacht hat, seine Gesundheit zerrüttet. Man muß mit ihm Nachsicht haben und kann ihm vieles, vieles verzeihen.«
»Aber du hast keine Nachsicht mit ihm gehabt!« unterbrach Pulcheria Alexandrowna sie hitzig und mit einer Art von Eifersucht. »Weißt du, Dunja, ich habe euch beide vorhin angesehen: du bist sein vollständiges Ebenbild, und noch nicht einmal so sehr im Gesicht als in der Seele; beide habt ihr so etwas Melancholisches, Finsteres und Aufbrausendes; beide seid ihr hochmütig und beide hochherzig … Das ist doch gar nicht denkbar, daß er ein Egoist sein sollte, Dunja, nicht wahr? … Aber wenn ich daran denke, was uns heute abend noch bevorsteht, dann wird mir himmelangst!«
»Beunruhigen Sie sich nicht, Mama; es wird geschehen, was eben geschehen muß.«
»Aber bedenke nur, Dunja, in welcher Lage wir jetzt sind! Was sollen wir anfangen, wenn Pjotr Petrowitsch sich von uns lossagt?« rief die arme Pulcheria Alexandrowna mit unüberlegter Offenheit.
»Wenn er das wirklich tut, dann haben wir an ihm nichts verloren!« antwortete Dunja schroff und geringschätzig.
»Wir haben ganz gut daran getan, daß wir jetzt weggegangen sind«, fuhr Pulcheria Alexandrowna, sie unterbrechend, hastig fort, um abzulenken. »Er hat einen eiligen Gang vor, um etwas zu besorgen; da mag er sich ein bißchen Bewegung machen und wenigstens ein bißchen Luft schöpfen, … bei ihm ist es ja schrecklich dumpf, … aber wo kann man wohl hier in Petersburg frische Luft atmen? Hier ist es auch auf den Straßen gerade wie in einem Zimmer, das nie gelüftet wird. Herrgott, was ist das nur für eine Stadt! … Halt, halt! Tritt auf die Seite, du wirst dich noch totquetschen lassen; da wird etwas getragen! Ein Klavier tragen sie, wahrhaftig, … wie sie sich durchdrängen … Vor diesem jungen Mädchen habe ich auch große Bange.«
»Vor was für einem jungen Mädchen, Mama?«
»Nun, ich meine diese Sofja Semjonowna, die eben zu Rodja kam …«
»Warum haben Sie denn Bange vor der?«
»Es ahnt mir so etwas, Dunja. Magst du es mir nun glauben oder nicht, gleich wie sie hereinkam, in demselben