Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
was seine Haltung etwas gebückt erscheinen ließ. Er war elegant und bequem gekleidet und machte einen recht stattlichen Eindruck. In der Hand hatte er einen hübschen Spazierstock, den er bei jedem Schritte auf das Trottoir aufschlagen ließ; seine Hände steckten in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit den starken Backenknochen wirkte ganz angenehm, und die Gesichtsfarbe war frisch und gesund, wie es bei einheimischen Petersburgern nicht der Fall zu sein pflegt. Das noch sehr dichte Haar war ganz hellblond und nur äußerst wenig mit Grau meliert, und der breite, dichte Bart, der schaufelförmig herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine Augen waren blau; ihr Blick hatte etwas Kaltes, Starres, Überlegendes; die Lippen zeigten eine frische Röte. Überhaupt hatte er sich vorzüglich erhalten und sah viel jünger aus, als er wirklich war.
Als Sonja die Kanalstraße erreichte, waren sie die beiden einzigen Passanten auf dem Trottoir. Bei seinen Beobachtungen hatte er bereits ihre Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Sonja ihr Haus erreicht hatte, bog sie in den Torweg ein; er folgte ihr und schien einigermaßen erstaunt zu sein. Auf dem Hofe wandte sie sich nach rechts, nach derjenigen Ecke, wo sich die zu ihrer Wohnung hinaufführende Treppe befand. »Na, so was!« murmelte der unbekannte Herr und begann hinter ihr her die Stufen hinaufzusteigen. Erst jetzt bemerkte ihn Sonja. Sie ging bis zum zweiten Stockwerk in die Höhe, bog in eine Außengalerie ein, die sich auf der Hofseite entlangzog, und klingelte an der Wohnung Nr. 9, an deren Tür mit Kreide angeschrieben stand: »Kapernaumow, Schneider«. »Na, so was!« sagte der Unbekannte noch einmal, verwundert über dieses eigentümliche Zusammentreffen, und klingelte daneben, bei Nr. 8. Die beiden Türen waren nur etwa sechs Schritte voneinander entfernt.
»Sie wohnen bei Kapernaumow«, sagte er und sah Sonja lachend an. »Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben Ihnen, bei Madam Gertruda Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!«
Sonja blickte ihn aufmerksam an.
»Wir sind also Nachbarn«, fuhr er in sehr heiterem Tone fort. »Ich bin erst seit vorgestern in der Stadt. Nun, vorläufig adieu, auf Wiedersehen!«
Sonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet, sie schlüpfte hinein und ging in ihre Stube. Sie schämte sich, und ein seltsames Angstgefühl überkam sie.
Rasumichin befand sich, während sie zu Porfirij gingen, in einem Zustande besonderer Aufregung.
»Das ist prächtig, Bruder!« wiederholte er einmal über das andre. »Und ich freue mich, ich freue mich!«
›Worüber freust du dich denn nur?‹ fragte sich Raskolnikow im stillen.
»Das habe ich ja gar nicht gewußt, daß du auch etwas bei der alten Frau versetzt hattest. Und … und … ist das schon lange her? Ich meine: wann bist du zuletzt dagewesen?«
›Ist das ein naiver Tropf!‹ dachte Raskolnikow.
»Wann ich zuletzt da war?« antwortete er, indem er stehenblieb und nachdachte. »Zwei Tage vor ihrem Tode mag es gewesen sein, daß ich da war. Übrigens, die Sachen auszulösen ist jetzt bei diesem Gange nicht meine Absicht«, fügte er hastig und mit einer geflissentlich herausgekehrten Besorgtheit um die Sachen hinzu. »Ich habe ja wieder nur einen einzigen Rubel in meinem Besitze … infolge des Streiches, den ich gestern im Fieber begangen habe.«
Das Wort »Fieber« sprach er mit besonderem Nachdruck.
»Nun ja, ja, ja!« stimmte ihm Rasumichin eilig zu, wobei aber unklar blieb, worauf sich seine Zustimmung eigentlich bezog. »Also das ist der Grund, weshalb damals … das Gespräch von dem Morde so auf dich wirkte, … und weißt du, auch im Fieber hast du immer von Ringen und Ketten phantasiert! … Na ja, ja … Das ist ja klar, nun ist alles klar.«
›Holla!‹ dachte Raskolnikow. ›Dieser Gedanke hat sich bei ihnen also doch festgesetzt! Der gute Mensch hier würde sich für meine Unschuld ans Kreuz schlagen lassen, und doch ist er froh, daß es sich, wie er meint, aufgeklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen geredet habe! Wie fest sich dieser Gedanke bei ihnen allen eingenistet hat!‹
»Werden wir ihn auch zu Hause antreffen?« fragte er laut.
»Ganz bestimmt, ganz bestimmt«, erwiderte Rasumichin. »Du wirst sehen, Bruder, er ist ein prächtiger Mensch. Ein bißchen plump; das heißt, er hat gewandte Formen, aber ich meine plump in anderer Hinsicht. Ein gescheiter Kerl, sogar sehr klug und gescheit, nur hat seine ganze Art zu denken etwas Eigentümliches. Mißtrauisch, skeptisch, prosaisch ist er, … er betrügt einen gern, das heißt, er betrügt einen nicht eigentlich, sondern führt einen an. Na, und in seinem Amte verwendet er die alte Methode der Beweisführung aus materiellen Gründen … Aber er versteht seine Sache, gründlich versteht er sie. Er hat im vorigen Jahre in eine Mordsache Licht gebracht, wo fast alle Spuren schon verloren waren. Er wünscht sehr, aber sehr, dich kennenzulernen!«
»Ja, weshalb wünscht er denn das so sehr?«
»Das heißt, nicht etwa daß … Siehst du, in der letzten Zeit, als du krank warst, hat es sich so gemacht, daß ich oft und viel mit ihm über dich sprach … Na, er hörte zu, … und als er erfuhr, daß du Jura studiertest und äußerer Umstände halber das Studium nicht zu Ende führen könntest, da sagte er: ›Wie schade!‹ Daraus schloß ich, … das heißt aus allem zusammen, nicht daraus allein; und gestern hat Sametow … Siehst du, Rodja, ich habe dir gestern in meiner Betrunkenheit, als wir zusammen nach deiner Wohnung gingen, allerlei hingeschwatzt, … und da fürchte ich, Bruder, daß du dem zuviel Bedeutung beimißt, siehst du wohl …«
»Was meinst du denn? Daß sie mich für verrückt halten? Da haben sie vielleicht recht.«
Er lächelte gezwungen.
»Ja, ja … oder vielmehr: nein, wollte ich sagen … Na, alles, was ich gesagt habe … (auch über etwas andres), das war alles dummes Zeug, wie es einem so die Trunkenheit eingibt.«
»Warum entschuldigst du dich denn noch? Die ganze Geschichte ist mir zum Ekel geworden!« rief Raskolnikow mit übermäßiger Gereiztheit, die zum Teil erkünstelt war.
»Ich weiß, ich weiß, ich kann dir das nachfühlen. Sei überzeugt, daß ich dir das nachfühlen kann. Ich schäme mich, darüber auch nur ein Wort zu verlieren …«
»Wenn du dich schämst, dann sprich nicht davon!«
Beide schwiegen. Rasumichin war höchst vergnügt, und Raskolnikow fühlte das mit Widerwillen. Auch beunruhigte ihn das, was Rasumichin soeben über Porfirij erzählt hatte.
›Vor dem muß ich auch den kranken Bettler spielen‹, dachte er erblassend und mit starkem Herzklopfen, ›und zwar recht natürlich. Das natürlichste wäre allerdings, wenn ich gar keine solche Rolle spielte, mir fest vornähme, es nicht zu tun! Nein, fest vornehmen … das würde wieder nicht natürlich herauskommen … Nun, wir wollen sehen, wie der Hase läuft, … wir werden es ja bald sehen … Ob es wohl gut oder schlecht ist, daß ich hingehe? Die Motte fliegt von selbst in die Kerze hinein. Das Herz klopft mir so stark; das ist nicht gut!‹
»Hier in diesem grauen Hause wohnt er«, sagte Rasumichin.
›Das wichtigste ist‹, überlegte Raskolnikow weiter, ›ob Porfirij es weiß oder nicht weiß, daß ich gestern in der Wohnung dieser Hexe war … und nach dem Blute gefragt habe. Darüber muß ich sofort ins klare kommen; gleich beim ersten Schritte, wenn ich hereinkomme muß ich das aus seiner Miene entnehmen; sonst … Erfahren will ich das, und wenn ich darüber ins Unglück stürze!‹
»Weißt du was?« wandte er sich auf einmal mit schlauem Lächeln an Rasumichin. »Ich habe heute die Beobachtung gemacht, daß du dich schon vom Morgen an in einer außerordentlichen Aufregung befindest. Habe ich recht?«
»Wieso in Aufregung? Ich bin in gar keiner Aufregung!« rief Rasumichin mit einer Grimasse.
»Nein, Bruder, es ist dir wirklich anzumerken. Auf deinem Stuhle saßest du vorhin in einer Weise, wie du es sonst nie tust, nur so auf einer Ecke, und dann zucktest du immer so wunderlich. Fortwährend sprangst du ohne jeden Anlaß auf. Bald sahst du ärgerlich aus, und dann machtest du auf einmal wieder ein Gesicht so süß wie der süßeste Bonbon. Sogar rot wurdest du; namentlich als du zum Mittagessen eingeladen wurdest, da wurdest du furchtbar rot.«
»Ach,