Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


Скачать книгу
eine Million gibt! Diese ganze Million beiseite zu schieben lediglich mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit beim Aufbau des Systems, das ist allerdings die leichteste Lösung der Aufgabe. Das ist von einer verführerischen Übersichtlichkeit, und das Denken spart man dabei ganz. Und das ist die Hauptsache: man spart dabei das Denken! Das ganze geheimnisvolle Problem des Lebens läßt sich dann auf zwei Druckseiten abtun!«

      »Na, nun ist er aber in Zug gekommen; jetzt schlägt er gehörig die Trommel! Wenn er nun aufhören soll, muß man ihm die Hände festhalten!« rief Porfirij lachend. »Stellen Sie sich das nur vor«, wandte er sich an Raskolnikow, »ebenso ging es gestern abend zu, und immer sechs Stimmen zugleich, und überdies hatte er die Streitenden vorher mit Punsch bewirtet – können Sie sich davon eine Vorstellung machen? – Nein, Bruder, du irrst dich: ›die Gesellschaft‹ ist bei den Verbrechen allerdings ein sehr wesentlicher Faktor; das kannst du mir glauben.«

      »Das weiß ich selbst, daß sie ein wesentlicher Faktor ist; aber beantworte mir mal diese Frage: wenn ein Mann von vierzig Jahren ein zehnjähriges Mädchen mißbraucht, hat ihn dann ›die Gesellschaft‹ dazu genötigt?«

      »Nun, wenn man es genau nimmt, trägt vielleicht auch daran ›die Gesellschaft‹ mit die Schuld«, bemerkte Porfirij mit auffälligem Ernste. »Ein Verbrechen an einem kleinen Mädchen läßt sich sehr wohl auf ›die Gesellschaft‹ als Ursache zurückführen.«

      Rasumichin wurde ordentlich wütend.

      »Na«, schrie er, »wenn du willst, so werde ich dir sofort beweisen, daß die weiße Farbe deiner Wimpern einzig und allein daher kommt, daß der Moskauer Glockenturm Iwan Welikij zweihundertfünfzig Fuß hoch ist, und ich will dir das klar, genau, progressiv und sogar mit liberaler Nuance beweisen. Dazu mache ich mich anheischig. Nun, willst du wetten?«

      »Ich nehme die Wette an! Wir wollen doch mal hören, wie er das beweisen wird!«

      »Ach, er tut ja immer nur so, der Kerl!« rief Rasumichin, vom Stuhle aufspringend, mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Es lohnt sich gar nicht, mit dir über etwas zu reden! Das ist alles bei ihm Verstellung; du kennst ihn bloß noch nicht, Rodja! Auch gestern nahm er für die Verfechter dieser Ansicht Partei, nur um sie alle zum Narren zu halten. Und was er gestern für Zeug zusammengeredet hat, o Gott, o Gott! Und die hatten ihre helle Freude an ihm! … Solche Verstellung ist er imstande vierzehn Tage lang durchzuführen. Im vorigen Jahre – ich weiß nicht, wie er dazu kam – redete er uns ein, er wolle Mönch werden; zwei Monate lang blieb er bei dieser Behauptung! Vor kurzem wollte er uns weismachen, er würde sich verheiraten; es wäre alles schon zur Hochzeit bereit. Sogar einen neuen Anzug ließ er sich machen. Wir gratulierten ihm schon. Keine Braut, nichts war da; alles Flunkerei!«

      »Das ist wieder eine Verdrehung von dir! Den Anzug hatte ich mir schon vorher machen lassen. Eben dieser neue Anzug brachte mich erst auf den Gedanken, euch alle hinters Licht zu führen.«

      »Sind Sie wirklich ein solcher Meister in der Kunst, sich zu verstellen?« fragte Raskolnikow lässig.

      »Sie glauben es wohl nicht? Warten Sie nur, ich werde Sie auch noch einmal anführen – ha-ha-ha! Nein, wissen Sie, ich wollte Ihnen noch etwas im Ernste sagen. Wir reden hier über Streitfragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleine Mädchen usw.: dabei ist mir jetzt ein Aufsatz von Ihnen eingefallen, der mich übrigens schon immer interessiert hat. ›Über das Verbrechen‹ oder wie Sie ihn betitelt haben; ich habe die Überschrift vergessen, ich besinne mich nicht darauf. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst zu lesen.«

      »Meinen Aufsatz? In der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst?« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe allerdings vor einem halben Jahre, als ich die Universität verließ, durch die Lektüre eines Buches angeregt, einen solchen Aufsatz geschrieben; aber ich habe ihn damals der Wissenschaftlichen Wochenschrift und nicht der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst eingereicht.«

      »Aber erschienen ist er in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst.«

      »Die Wissenschaftliche Wochenschrift ging ein; darum wurde er nicht gedruckt …«

      »Ganz richtig; aber die Wissenschaftliche Wochenschrift wurde bei ihrem Eingehen mit der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst verschmolzen, und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten in der letzteren. Haben Sie das nicht gewußt?«

      Raskolnikow wußte wirklich nichts davon.

      »Aber ich bitte Sie! Sie können doch von der Zeitschrift ein Honorar für Ihren Aufsatz verlangen! Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie leben so zurückgezogen, daß Ihnen nicht einmal Dinge, die Sie direkt angehen, bekannt sind. Was ich Ihnen gesagt habe, ist eine Tatsache!«

      »Hurra, Rodja! Ich habe auch nichts davon gewußt!« rief Rasumichin. »Ich gehe noch heute in den Lesesaal und lasse mir die Nummer geben! Vor zwei Monaten ist es gewesen? Weißt du das Datum, Porfirij? Nun, das tut nichts; ich werde den Aufsatz schon finden. Das ist ja famos! Und davon sagt er einem nichts!«

      »Woher haben Sie denn erfahren, daß der Aufsatz von mir war? Er war doch nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«

      »Das habe ich nur zufällig erfahren, und erst in diesen Tagen. Vom Redakteur; ich bin mit ihm bekannt … Der Aufsatz hat mich außerordentlich interessiert.«

      »Soweit ich mich erinnere, erörterte ich den Seelenzustand des Verbrechers während seiner ganzen Beschäftigung mit dem Verbrechen.«

      »Jawohl, und Sie behaupten, daß die eigentliche Ausführung des Verbrechens immer von einem Krankheitszustande begleitet sei. Sehr originell, in der Tat; aber … was mich interessierte, war eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein Gedanke, den Sie am Ende Ihres Aufsatzes äußern, aber leider nur andeuten, ohne ihn klar auszuführen … Kurz, wenn Sie sich erinnern, es wird dort darauf hingedeutet, daß es auf der Welt Individuen gibt, die allerlei Exzesse und Verbrechen begehen können, … das heißt, nicht bloß können, sondern ein Recht dazu haben, und daß für sie die Gesetze nicht geschrieben sind.«

      Raskolnikow lächelte über diese gewaltsame, absichtliche Entstellung seines Gedankens.

      »Wie? Was ist das? Ein Recht, Verbrechen zu begehen? Aber doch nicht, weil ›die Gesellschaft‹ daran schuld wäre?« erkundigte sich Rasumichin ganz erschrocken.

      »Nein, nein, nicht eigentlich deswegen«, antwortete Porfirij. »Der Kern der Sache ist, daß in Herrn Raskolnikows Aufsatze alle Menschen in gewöhnliche und außerordentliche eingeteilt werden. Die gewöhnlichen sind zum Gehorsam verpflichtet und haben kein Recht, das Gesetz zu überschreiten, eben deswegen, weil sie nur gewöhnliche Menschen sind. Aber die außerordentlichen haben das Recht oder gar die Pflicht, allerlei Verbrechen zu begehen und in jeder Weise das Gesetz zu übertreten, eben darum, weil sie außerordentliche Menschen sind. So steht es ja wohl in Ihrem Aufsatze, wenn ich nicht irre?«

      »Aber wie denn? So kann es doch unmöglich dastehen?« murmelte Rasumichin verblüfft.

      Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte gleich von vornherein durchschaut, wie die Sache lag und wohin er gebracht werden sollte; seinen Aufsatz hatte er ganz gut im Gedächtnis. Er beschloß, die Herausforderung anzunehmen.

      »Ganz so steht es allerdings nicht in meinem Aufsatze«, begann er schlicht und bescheiden. »Indessen gebe ich zu, daß Sie den Gedanken annähernd richtig wiedergegeben haben, und wenn Sie das gern hören, sogar vollständig richtig …« (Er tat so, als mache es ihm Vergnügen, zuzugeben, daß die Wiedergabe vollständig richtig sei.) »Der Unterschied ist nur der, daß ich gar nicht behaupte, außerordentliche Menschen müßten und sollten unter allen Umständen allerlei Exzesse begehen, wie Sie sagen. Ich meine sogar, der Druck eines solchen Aufsatzes wäre gar nicht gestattet worden. Sondern ich habe ganz einfach darauf hingedeutet, daß ein außerordentlicher Mensch das Recht habe, … das heißt, nicht ein offizielles Recht, sondern sozusagen ein persönliches Recht, seinem Gewissen die Überschreitung gewisser Hindernisse zu gestatten, aber einzig und allein in dem Falle, wenn die Durchführung seiner Idee (die mitunter vielleicht der gesamten Menschheit Heil und Segen bringt) dies verlangt. Sie äußerten sich dahingehend, daß mein Aufsatz unklar wäre; ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Vielleicht irre ich mich


Скачать книгу