Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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sich da bedienten! He-he! Also da haben Sie wirklich gedacht, ich hätte vor, Sie durch die Reden von der Dienstwohnung … he-he! Was sind Sie für ein Spötter! Na, ich tu’s nicht wieder! Ach ja, dabei fällt mir ein, ein Wort gibt ja das andre, und ein Gedanke knüpft sich an den andern, Sie haben da vorhin auch von der gesetzlichen Form gesprochen, wissen Sie, in bezug auf Verhöre. Na, wozu denn immer in aller gesetzlichen Form! Wissen Sie, die gesetzliche Form ist dabei oft der reine Unsinn. Manchmal, wenn man nur so ganz freundschaftlich mit einem redet, ist das doch viel vorteilhafter. Die gesetzliche Form läuft einem ja nicht davon; gestatten Sie, daß ich Sie darüber beruhige; ja, und was hat denn auch eigentlich die gesetzliche Form für eine Bedeutung, möchte ich Sie fragen? Durch die gesetzliche Form darf man sich, wenn man eine Untersuchung führt, nicht auf Schritt und Tritt hemmen lassen. Die Tätigkeit eines Untersuchungskommissars ist doch, um mich so auszudrücken, eine freie Kunst in ihrer Art – oder so etwas Ähnliches … he-he-he!«

      Porfirij Petrowitsch hielt für einen Augenblick inne, um wieder Atem zu schöpfen. Er redete immer in einem Zuge, ohne müde zu werden; bald waren es sinnlose, leere Redensarten; dann streute er auf einmal dunkle Andeutungen dazwischen und geriet sofort wieder in das sinnlose Gerede hinein. Sein Hin-und Herwandern im Zimmer glich schon beinahe einem Lauf; immer schneller und schneller bewegten sich seine dicken Beinchen; dabei blickte er immer auf den Fußboden; die rechte Hand hielt er auf dem Rücken; die linke schwenkte er fortwährend in der Luft umher und vollführte mit ihr allerlei Gestikulationen, die aber jedesmal auffallend wenig zu seinen Worten paßten. Raskolnikow bemerkte plötzlich, daß er bei seinem Umherlaufen im Zimmer ein paarmal an der Eingangstür stehenblieb, nur einen Augenblick, und auf etwas zu horchen schien …

      ›Wartet er vielleicht auf etwas?‹ dachte er.

      »Und darin haben Sie wirklich vollkommen recht«, fuhr Porfirij wieder fort und blickte dabei Raskolnikow heiter und mit ganz besonderer Gutmütigkeit an (dieser bekam ordentlich einen Schreck darüber und setzte sich schleunigst wieder in Bereitschaft), »wirklich vollkommen recht, daß Sie sich über das Formenwesen bei der Justiz in so geistreicher Weise lustig machten, he-he! Diese unsre Kniffe, von denen manche mit solchem psychologischen Tiefsinn ausgeklügelt sind, sind höchst lächerlich, ja vielleicht sogar ganz wertlos, wenn man sich dabei zu sehr an die Form bindet. Ja, … ich komme wieder auf die gesetzliche Form zu reden: also wenn ich in einer Sache, die mir übertragen ist, den einen oder den andern für den Täter halte oder, besser gesagt, im Verdacht habe … Sie studieren ja doch Jura, Rodion Romanowitsch?«

      »Das habe ich allerdings getan.«

      »Nun also, da möchte ich Ihnen, um mich so auszudrücken, ein kleines Beispiel für Ihre zukünftige Praxis anführen – das heißt, glauben Sie nicht etwa, daß ich mir herausnehme, Sie belehren zu wollen: Sie lassen ja selbst so schöne Aufsätze über Verbrechen drucken! Nein, ich möchte Ihnen nur ganz ohne solche Absicht, als einen faktischen Fall, ein kleines Beispiel anführen. Also wenn ich zum Beispiel den einen oder den andern für den Täter halte, warum soll ich, frage ich Sie, ihn vor dem richtigen Zeitpunkt beunruhigen, auch wenn ich Indizien gegen ihn in der Hand habe? Manchen muß ich ja allerdings so schnell wie möglich festnehmen; aber ein andrer hat wieder einen ganz andern Charakter, im Ernst; also warum soll ich ihm da nicht gestatten, noch ein bißchen in der Stadt spazierenzugehen, he-he-he! Nein, wie ich sehe, verstehen Sie noch nicht ganz, wie ich es meine; darum will ich es Ihnen noch deutlicher auseinandersetzen: wenn ich ihn nämlich zu früh festnehme, so gebe ich ihm dadurch womöglich noch sozusagen eine moralische Stütze, he-he! Ja, Sie lachen?« (Raskolnikow dachte gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Lippen da und wandte seinen glühenden Blick nicht einen Moment von Porfirijs Augen ab.)

      »Aber es verhält sich doch so, besonders bei gewissen Individuen; denn die Menschen sind sehr verschiedenartig, und die Hauptsache bleibt doch immer die praktische Erfahrung. Nun werden Sie mir vielleicht einwenden: die Beweisstücke! Aber angenommen, es sind Beweisstücke vorhanden, so haben doch Beweisstücke größtenteils ihre zwei Seiten, Väterchen, und ich als Untersuchungskommissar, also als schwacher Mensch, muß gestehen: ich möchte die Schlußfolgerung gern sozusagen mit mathematischer Klarheit hinstellen, damit sie so sicher ist wie zweimal zwei gleich vier und einen direkten und unbestreitbaren Beweis bildet. Wenn ich ihn aber vor der rechten Zeit festnehme (mag ich auch fest überzeugt sein, daß er es gewesen ist), so beraube ich mich vielleicht selbst der Mittel zu seiner weiteren Überführung. Inwiefern? Weil ich ihn sozusagen in eine genau bestimmte Situation hineinversetze, ihm in seelischer Hinsicht sozusagen ein Fundament gebe und ihn zur Ruhe kommen lasse; da wird er sich dann vor mir in seine Schale verkriechen: er wird sich eben endlich darüber klar, daß er Gefangener ist. So erzählt man, daß gleich nach der Schlacht an der Alma kluge Leute in Sewastopol eine Heidenangst hatten, der Feind könnte jeden Augenblick mit offener Gewalt einen Angriff machen und Sewastopol mit einem Schlage einnehmen; aber als sie sahen, daß der Feind eine regelrechte Belagerung vorzog und die erste Parallele eröffnete, da sollen sich die klugen Leute gefreut und beruhigt haben; sie sagten sich nämlich: nun dauert die Sache mindestens noch zwei Monate; denn schneller führt eine regelrechte Belagerung nicht zur Einnahme. Sie lachen wieder, wollen mir wieder nicht glauben? Gewiß, auch Sie haben recht, haben ganz recht, ganz recht! Ich bin mit Ihnen ganz derselben Meinung: das sind lauter Einzelfälle; was ich anführte, ist tatsächlich nur ein Einzelfall! Aber, bester Rodion Romanowitsch, dabei muß man doch beachten, daß es jenen allgemeinen, typischen Fall, auf den alle gesetzlichen Formen und Regeln bei der Justiz zugeschnitten sind und auf Grund dessen man sie konstruiert und in den Handbüchern aufgezeichnet hat – daß es den überhaupt nicht gibt, eben deswegen, weil jede Tat, zum Beispiel jedes Verbrechen, sowie es in der Wirklichkeit vorkommt, sich sofort auch in einen völlig singulären Fall verwandelt und mitunter geradezu in einen, wie er vorher noch nie dagewesen ist. In der Art kommen manchmal höchst komische Sachen vor. Wenn ich nun irgendeinen Herrn ganz unbehelligt lasse, ihn nicht festnehme und nicht belästige, aber er muß zu jeder Stunde und in jeder Minute wissen oder wenigstens argwöhnen, daß ich alles, sein ganzes Geheimnis, weiß, ihn bei Tag und Nacht beobachte, ihn unermüdlich überwache, und er muß diesen Argwohn und diese Furcht fortwährend in seinem Bewußtsein herumtragen: weiß Gott, da wird ihm zuletzt schwindlig werden, ganz bestimmt, und er wird von selbst zu mir kommen und vielleicht gar noch etwas anstellen, was den Schuldbeweis sozusagen als einen mathematisch zwingenden erscheinen läßt – und das ist dann doch sehr angenehm. Das kann sowohl einem tölpeligen Bauern passieren als auch einem von unserm Schlage, jemandem, der eine moderne Bildung besitzt und seinen Geist nach einer bestimmten Richtung hin noch besonders entwickelt hat, und so einem erst recht! Darum, Verehrtester, ist es sehr wichtig, zu wissen, nach welcher Richtung hin sich jemand entwickelt hat. Und dann die Nerven, die Nerven! Die hatten Sie ja ganz und gar vergessen! Diese ganze Generation heutzutage ist ja krank, mager, reizbar! Aber Galle, Galle haben sie alle ein gehöriges Quantum! Ich kann Ihnen sagen, das ist in manchen Fällen die beste Unterstützung für den Untersuchungskommissar! Und welchen Anlaß habe ich, mich darüber zu beunruhigen, daß er in der Stadt frei umhergeht? Mag er doch, mag er doch vorläufig noch ein bißchen Spazierengehen, immerzu; ich weiß ja auch ohnedies, daß er mein Opfer ist und mir nicht davonläuft! Ja, und wo soll er auch hinflüchten, he-he-he! Etwa ins Ausland? Ein Pole würde ins Ausland flüchten, aber er nicht, um so weniger, da ich ihn beobachte und meine Maßregeln getroffen habe. Oder soll er im Inlande nach einem Dorfe oder sonst einem kleinen Neste fliehen? Aber da wohnen Bauern, die richtigen, armen und einfältigen russischen Bauern, und ein Mensch mit moderner Bildung wird, wenn er die Wahl hat, lieber ins Gefängnis gehen als mit unsern Bauern zusammenwohnen, mit denen für ihn gar keine Verständigung möglich ist, he-he-he! Und all das ist noch das wenigste, das sind nur äußere Gründe. Was heißt das: ›er wird fliehen‹? Dabei denkt man an die äußere Handlung; aber das ist gar nicht die Hauptsache. Nicht bloß deswegen wird er mir nicht davongehen, weil er keinen Ort hat, wohin er flüchten könnte; er wird mir psychologisch nicht davongehen, he-he-he! Ein feiner Ausdruck, was? Einem Naturgesetze zufolge wird er mir nicht davongehen, selbst wenn er einen Ort hätte, wohin er fliehen könnte. Haben Sie schon einmal einen Schmetterling in der Nähe einer brennenden Kerze gesehen? Na, ganz so wird auch er immerzu, immerzu um mich wie um eine Kerze herumkreisen; die Freiheit wird ihm zuwider werden; er wird melancholisch und konfus werden, sich selbst wie in einem Netze verwickeln und sich zu Tode ängstigen! … Und noch mehr: er selbst


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