Gesammelte Werke. Джек Лондон
Frona? Erzählen Sie mehr vom Renntierstehlen und von der fetten Prinzessin!«
»Die Bevölkerung der Küste bestand aus Eskimos, aus heiteren und gutartigen Menschen. Sie nennen sich selber Ukilions … das heißt: Meeresleute. Ich kaufte ihnen Hunde und Proviant ab, wir kamen gut miteinander aus. Aber die Ukilions waren einem Binnenlandstamm untertan, den Tschautschuins … das heißt in unserer Sprache: Hirschmenschen Die Tschautschuins sind ein wildes, unbezwingbares Volk, ungezähmt und boshaft. Kaum hatte ich die Küste hinter mir, da überfielen sie mich, nahmen mein Hab und Gut und machten mich zum Sklaven.«
»Waren denn keine Russen da? Soldaten? Polizei?«
»Russen? Unter den Tschautschuins!?« Er lachte. »Geografisch gehörten sie allerdings zum Reiche des weißen Zaren, aber ich bezweifle, dass er je von diesen Untertanen gehört hatte. Vergessen Sie nicht: das Innere von Nordsibirien liegt in der Polarnacht, ein unerforschtes Land. Wenige Europäer sind je dort hingekommen, kaum je einer ist zurückgekehrt.«
»Aber Sie …«
»Ich bin zufällig die Ausnahme, mit der sich die Regel bestätigt. Warum ich verschont wurde, weiß ich nicht. Aber es ist eine Tatsache, sonst könnte ich Ihnen nicht davon erzählen. Anfangs wurde ich schrecklich behandelt, von Frauen und Kindern geschlagen, in räudige Felle voller Ungeziefer gekleidet, mit Abfall ernährt. Sie hatten überhaupt kein Herz. Wie ich das überstand, ist mir heute noch ein Rätsel, ich hätte tausendmal Selbstmord begangen, aber es fand sich kein Weg dazu. Dann war ich, infolge von soviel Leiden und Misshandlungen, ganz vertiert und viel zu schlaff, um mir das Leben zu nehmen. Halbtot vor Hunger und Kälte, verprügelt, dass ich manchmal kaum noch denken konnte … nein, damals war ich kein Mensch mehr, und nur der Mensch begeht Selbstmord. Heute scheint mir diese ganze Zeit wie ein grässlicher Traum. Vieles ist meinem Gedächtnis ganz entfallen. Ich weiß noch dunkel, dass ich, auf einen Schlitten gebunden, von Lager zu Lager geschleppt wurde, eine Art Ausstellungsgegenstand, ein Stückchen zoologischer Garten auf Reisen. Wie weit ich in die Öde vorgedrungen bin, weiß ich nicht, aber es müssen Tausende von Meilen gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam und all das hinter mir lag, befand ich mich jedenfalls reichlich zweitausend Kilometer westlich der Stelle, wo sie mich gefangen hatten. Es war Frühling und mir war, als knüpfte ich plötzlich an die Vergangenheit wieder an, auf einmal hatte ich wieder offene Augen.
Ich fand mich, mit einem Riemen ans hintere Ende eines Schlittens festgebunden wie der Affe eines Leierkastenmannes. Ich hielt den Riemen mit beiden Händen, denn er hatte mir schon tiefe Wunden ins Fleisch geschnitten. ›Was ist das?‹ fragten die Hirschmenschen und hielten mir ein Spiel Karten unter die Augen. Das musste auf merkwürdigen Wegen von weißen Leuten über die Meermenschen zu den Hirschmenschen gekommen sein, wahrscheinlich von Walfischfängern. Nun hatte ich als Schuljunge zum Vergnügen meiner Kameraden Kartenkunststücke und ein bisschen Zaubern gelernt. Die alten Kunstfertigkeiten fielen mir plötzlich wieder ein, und ich kann sagen, dass kein Zauberkünstler auf Erden je ein dankbareres Publikum gefunden hat. Im Augenblick wurde ich von einem Ausstellungsgegenstand, der so wenig galt, dass man ihn verhungern und verkommen ließ, ein Mann von unermesslicher Bedeutung. Greise und Frauen kamen zu mir, um sich in ihren Nöten Rat zu holen, dann auch die Männer und zuletzt sogar die Häuptlinge. Es kam mir zustatten, dass ich von Medizin und Chirurgie eine Ahnung hatte, und so wurde ich Wundermann. Vor wenigen Wochen noch Sklave, saß ich jetzt unter den Häuptlingen im höchsten Rat, ich wurde das unwidersprechbare Orakel im Kriege wie im Frieden. Dort oben waren Renntiere das einzige Vermögen, ein Tauschmittel wie bei uns das Gold. Mein Stamm beschäftigte sich hauptsächlich damit, Raubzüge gegen die Nachbarstämme zu unternehmen und ihnen die Renntierherden zu stehlen. Ich brachte meinen Leuten neue Kampfmethoden bei, lehrte sie Kriegskunde und Taktik und verhalf ihren Operationen zu einer Stoßkraft, der die Nachbarstämme nicht widerstehen konnten. So war ich zwar ein Herr, fast ein Halbgott, geworden, aber meine Freiheit gewann ich dadurch nicht wieder. Es klingt lächerlich: ich war zu erfolgreich, ich hatte mich unentbehrlich gemacht. Die Hirschmenschen waren jetzt meine Untertanen, aber sie bewachten mich eifersüchtig. Jeder meiner Befehle wurde befolgt, ich konnte kommen und gehen, wie ich wollte. Aber wenn sich Handelskarawanen an der Küste zeigten, mit denen wir Waren tauschten, durfte ich nicht dabei sein. Unter meinen Häuptlingen war ein einziger, Pi-Une, der sich weigerte, mir die mir zustehenden Ehren zu erweisen. Er rüttelte damit an meiner Allmacht, ich fühlte den Thron unter mir wackeln, denn tatsächlich besaß ich nur so weit Macht, wie man mir Glauben schenkte. Ich war, verstehen Sie das, meine Damen, der Aberglaube des Volkes. Wenn einer an mir zweifelte und der Blitz ihn nicht strafte, konnte ich plötzlich die ganze Macht wieder verlieren und da sein, wo ich angefangen hatte. Um Pi-Une zu besänftigen, blieb mir nichts übrig, als seine Tochter Ilswunga zu heiraten. Darauf bestand er. Ich bot ihm an, lieber als gleichberechtigter Mitkaiser neben mir zu herrschen. Aber davon wollte er nichts hören. Und …«
»Und? Rascher, rascher … so gespannt bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen!« stieß Frau Sheffield hervor.
»Und so heiratete ich Ilswunga – in der Sprache der Tschautschuins heißt das ›die Hindin‹. Arme Ilswunga! Als ich das letztemal von ihr hörte, war sie in der Mission von Irkutsk, legte Patiencen mit jenem Kartenspiel, das mich zum Kaiser gemacht hatte, und wehrte sich tapfer dagegen, je in ihrem Leben ein Bad zu nehmen.«
»Es ist wirklich schon zehn Uhr!« klagte Frau Sheffield, die von ihrem Mann den zehnten leisen Rippenstoß bekommen hatte. »Wie entsetzlich traurig, dass ich nicht weiter zuhören kann, Herr Gregory. Was dann alles noch kam, und wie Sie entronnen sind. Aber Sie müssen mich besuchen. Ich muss das unbedingt zu Ende hören!«
»Und gerade Sie habe ich für einen Chechaquo gehalten«, sagte Frona, als Gregory sich den Kragen hochschlug und die Ohrenklappen festband. »Morgen Abend müssen Sie wieder zu uns kommen! Wir bereiten eine Theatervorstellung für Weihnachten vor. Kein Mensch kann uns da so wundervoll helfen wie Sie. Alle jungen Leute machen mit, Beamte, Polizeioffiziere, Mineningenieure, und wir haben sogar ein paar hübsche Damen.«
Als er gegangen war, schloss sie die Augen und dachte an ihn: »Was ist das für ein mutiger Mann! Was ist das für ein prachtvoller Mensch!«
4
Gregory St. Vincent wurde rasch ein wichtiger Faktor im gesellschaftlichen Leben der Stadt Dawson. Er war tatsächlich ein großer Entdeckungsreisender.