Gesammelte Werke. Джек Лондон
er nicht.
Eine Zeit lang blieb er unbeweglich liegen und ließ den freundlichen Sonnenschein auf sich herabströmen und seinen misshandelten Körper mit wundervoller Wärme sättigen. Ein herrlicher Tag, dachte er. Vielleicht würde es ihm gelingen festzustellen, wo er war. Mit einer schmerzhaften Anstrengung wälzte er sich auf die Seite. Unter ihm strömte ein breiter, langsam fließender Fluss. Er kam ihm verblüffend unbekannt vor. Langsam folgte er ihm mit den Augen: Der Fluss schlängelte sich in weiten Windungen durch öde, nackte Hügel, die öder und nackter waren als irgendwelche Hügel, die er je gesehen hatte. Langsam, wohlüberlegt, ohne Erregung oder größeres Interesse als sonst, folgte er mit den Augen dem Lauf des unbekannten Stromes bis zum Horizont und sah, dass er sich dort in einen klaren, hell schimmernden See ergoss. Noch immer spürte er keine Erregung. Es ist höchst seltsam, dachte er, es muss eine Vision oder eine Fata Morgana sein – irgendeine Gaukelei seines verworrenen Geistes. Er wurde in dieser Annahme auch dadurch bestärkt, dass er ein Schiff entdeckte, das mitten auf dem schimmernden See vor Anker lag. Er schloss einen Augenblick die Augen und öffnete sie dann wieder. Merkwürdigerweise blieb die Vision immer noch. Und doch war es gar nicht seltsam. Er wusste genau, dass es keinen See und kein Schiff mitten im öden Lande geben konnte, genau wie er wusste, dass er keine Patrone mehr in seinem leeren Stutzen hatte.
Er hörte hinter sich ein sonderbares Schnaufen – ein halbersticktes Würgen oder Husten. Infolge seiner unerhörten Schwäche und Steifheit vermochte er sich nur sehr langsam auf die andere Seite zu wälzen. In unmittelbarer Nähe sah er nichts, aber er wartete geduldig. Wieder vernahm er das Husten und Schnaufen, und jetzt erblickte er gerade vor sich, keine fünf Schritt entfernt, den grauen Kopf eines Wolfs zwischen zwei zackigen Steinen hervorlugen. Die aufrechtstehenden Ohren waren nicht ganz so spitz, wie er sie sonst an Wölfen bemerkt hatte. Die Augen schienen entzündet und blutunterlaufen. Der Kopf hing schlaff und verzweifelt herab. Das Tier blinzelte immerfort in den Sonnenschein. Er hatte den Eindruck, dass es krank sein müsste. Als er hinsah, schnaufte und hustete es wieder.
Das ist doch, zum Teufel, dachte er, unbedingt etwas Wirkliches. Und er drehte sich deshalb wieder auf die andere Seite, um auch hier die wirkliche Umgebung zu sehen, die die Vision ihm vorhin verhüllt hatte. Aber der See lag immer noch schimmernd da, und das Schiff war genauso deutlich zu erkennen wie vorher. War es denn trotz allem etwas Wirkliches? Er schloss die Augen längere Zeit und dachte nach. Dann kam die Erleuchtung über ihn. Er war in nordöstlicher Richtung gewandert, von der Dease-Wasserscheide bis ins Coppermine-Tal. Dieser schimmernde See war nichts anderes als das Polarmeer.
Das Schiff musste ein Walfänger sein, das von der Mündung des Mackenzie ostwärts, weit ostwärts abgetrieben war. Jetzt lag es in der Coronation-Bucht vor Anker. Er entsann sich der Karte von der Hudson-Bucht, die er vor langer Zeit einmal gesehen hatte, und alles erschien ihm jetzt klar und vernünftig.
Er setzte sich auf und überlegte, was er im Augenblick tun könnte. Die Fußlappen, die er sich aus seinen Decken gemacht hatte, waren schon ganz durchlöchert, und seine Füße waren ungestalte Klumpen von rohem Fleisch. Seine letzte Decke war auch schon längst dahin. Gewehr und Messer hatte er ebenfalls verloren. Irgendwo hatte er auch seinen Hut liegenlassen und damit das Päckchen Streichhölzer, das er unter das Band gesteckt hatte. Aber die, welche er auf seiner Brust trug, waren in Sicherheit im Tabaksbeutel, in Ölpapier gewickelt. Er sah auf die Uhr. Sie zeigte, dass es bereits elf war, und sie ging merkwürdigerweise immer noch. Er hatte sie also offenbar immer aufgezogen.
Er war ruhig und gefasst. Obgleich äußerst kraftlos, empfand er doch keine Schmerzen. Er war nicht einmal hungrig. Der Gedanke an Essen war ihm sogar unangenehm, und was er in Bezug auf Essen tat, geschah nur aus Vernunftsgründen. Er riss sich die Hosen bis zu den Knien ab und wickelte sie um seine Füße. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise war es ihm gelungen, seinen Zinnbecher zu behalten. Er wollte etwas heißes Wasser trinken, ehe er die Wanderung nach dem Schiffe antrat, von der er bereits voraussah, dass sie furchtbar werden würde.
Seine Bewegungen waren sehr langsam. Er zitterte, wie wenn er einen Schlaganfall gehabt hätte. Er wollte aufstehen, um trockenes Moos zu sammeln, musste sich aber damit begnügen, auf Händen und Füßen herumzukriechen. Einmal kroch er ganz nahe an den kranken Wolf heran. Das Tier zog sich zögernd von ihm zurück, während es sich um das Maul leckte mit einer Zunge, die kaum Kraft genug besaß, um sich überhaupt bewegen zu können. Der Mann sah, dass sie nicht die gewöhnliche gesunde, rote Farbe hatte. Sie war von einem gelblichen Braun und, soweit er sehen konnte, mit einem körnigen, halbtrocknen Schleim belegt.
Als er eine Menge heißen Wassers verschlungen hatte, fand der Mann, dass er imstande war, aufzustehen und sogar weiterzuwandern, jedenfalls so gut, wie man es von einem sterbenden Manne erwarten durfte. – Jede Minute beinahe war er genötigt haltzumachen, um auszuruhen. Seine Schritte waren schwach und unsicher, genau wie die Schritte des Wolfes, der ihm nachtrottete. Und als die Nacht kam und die Finsternis die schimmernde See und das Schiff verhüllte, wusste er, dass er ihnen nur um vier Meilen nähergekommen war.
Die ganze Nacht hörte er das Schnaufen und Husten des kranken Wolfes, und hin und wieder vernahm er aus der Ferne des Quieken der Renntierkälber. Rings um ihn war Leben genug, aber es war ein starkes, gesundes Leben, höchst lebendig und lebenslustig. Und er wusste auch, dass der kranke Wolf an der Fährte des kranken Menschen kleben würde in der Hoffnung, dass der Mann zuerst sterben würde. Als er am Morgen aufwachte und die Augen öffnete, sah er, wie der Wolf ihn mit traurigen und hungrigen Augen anstarrte. Das Tier hockte da, die Rute zwischen den Beinen, wie ein elender und verzweifelter Köter. In dem schneidend kalten Morgenwind zitterte und grinste es mutlos, als der Mann es mit einer Stimme anredete, die kaum mehr als ein heiseres Flüstern war.
Die Sonne stieg strahlend empor, und den ganzen Morgen stolperte und strauchelte der Mann vorwärts, dem Schiff auf der schimmernden See zu. Das Wetter war wundervoll. Es war der kurze Spätsommer dieser Breitengrade. Er dauerte vielleicht eine Woche. Morgen oder übermorgen konnte er schon vorbei sein.
Am Nachmittag stieß der Mann auf eine Fährte. Es war ein anderer Mensch gewesen, der nicht mehr gegangen, sondern sich auf allen vieren weitergeschleppt hatte. Er dachte, dass es wohl Bill gewesen sein müsste, dachte es aber dumpf und gleichgültig. Er empfand nicht einmal irgendwelche Neugierde dabei. In Wirklichkeit hatte ihn die Fähigkeit, sich zu erregen und sich rühren zu lassen, längst verlassen. Er war auch nicht mehr imstande,