Der Fuß weiß alles. Markus Scheer
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Der Fuß weiß alles
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Bildteil 3: © k. u .k. Hofatelier Pietzner
Bildteil 5: © KURIER/Martin Gnedt
ISBN 978-3-7110-5180-6
„Ein guter Beobachter sieht am Zustand
der Schuhe, mit wem er es zu tun hat.“
1.
Woher kommt der Schuh?
Und warum verhüllen wir eigentlich unsere Füße?
Eine Geschichte auf leisen Sohlen
Den Urschuh gibt es nicht. Denn entgegen dem weitläufigen Glauben wurde der Schuh nicht erfunden, sondern ist das Resultat einer sehr langsamen, Tausende Jahre langen Entstehungsgeschichte. Zu Beginn wurde der Fuß, um ihn vor Hitze, Kälte, Eis, vor heißem Sand und vor schroffem Gestein zu schützen, in Blätter gehüllt. Diese Methode war freilich nicht sehr effizient. Sobald also der Mensch sesshaft geworden war und begonnen hatte Tiere zu jagen, wurden die Blätter durch Tierfelle ersetzt. In der Regel wurden die Felle um Füße und Waden gehüllt. Ich nehme an, dass die ersten Schuhe nicht besonders schön waren.
Wann das Zuschneiden und Verschnüren von Schuhen und Lederbekleidung begonnen hat, ist schwer zu sagen. Dazu gibt es keine zuverlässigen Quellen. Die einzige verlässliche Auskunft liefern uns die Werkzeuge, die in unterschiedlichen Teilen Europas gefunden wurden. Die älteste Ahle eines Schuhmachers, die zum Vernähen der Lederteile nötig ist, stammt aus der Neandertalerzeit und ist rund 120.000 Jahre alt. Ich finde diese Zahl sehr beeindruckend. Im Vergleich dazu kommt mir die 200-jährige Geschichte meiner Schuhmacherfamilie wie ein kurzer Wimpernschlag der Welt vor.
Was mich an dieser Entstehungsge-schichte besonders fasziniert: Seit der Steinzeit schon verwenden wir für unsere Schuhe das Material Leder. Während sich Form, Funktion und Produktion des Schuhs in all den Jahrtausenden verändert und weiterentwickelt haben, ist das Material stets gleich geblieben. Das Töten von Tieren, das Verwenden der Tierhäute, das Umwickeln unseres eigenen Körpers damit ist ein Urinstinkt. Und so sehr wir uns heute, in Zeiten von Vegetarismus und veganem Leder, dagegen sträuben, so schwer ist es, diesen Trieb, diese Sehnsucht, diese archaische Lederlust in uns allen zu leugnen. Sie ist Teil der Menschheit.
Schon damals wurden die Tierhäute durch Gerben haltbar gemacht. Während die Männer auf der Jagd waren, haben die Frauen die Häute stundenlang gekaut. Danach wurden sie mit Urin, Salzen und Ölen behandelt. Zum Schluss musste das tierische Material in der Sonne getrocknet werden. Damit war das Leder haltbar. Wir Menschen sind also von Natur aus Gerber. Ziemlich gute sogar, wie ich meine. Am Fuß wurde das gegerbte Leder dann festgezurrt – je nach Witterungsverhältnissen und Bedarf mal mit dem Fell nach innen, mal nach außen. Dieses Festzurren zu einem Fußsack lieferte übrigens die Designgrundlage für jenen Schuh, den wir heute als Mokassin bezeichnen.
Mit der Entwicklung der Häuslichkeit wurde der Schuh, der ursprünglich einzig und allein dem Schutz diente, mehr und mehr zum ästhetischen, bewusst gestalteten Objekt. Es gibt Schuhe aus der römischen und griechischen Antike, die einen schwer beeindrucken! Manche Designer lassen sich auch heute noch von der Machart dieser meist recht luftigen Sandalen beeinflussen und interpretieren das historische Vorbild auf eine zeitgenössische Weise. Manche Modehäuser beherrschen dieses Spiel in Perfektion. Allein schon die Behandlung der Oberfläche, der Nähte und der Stöße erscheint wie ein Anachronismus, der uns beweist, wie sehr wir die Geschichte unentwegt unterschätzen. Auch die Stiefelette mit ihren seitlich angebrachten, elastischen Gummizügen – der sogenannte Chelsea-Boot – ist viel älter als wir glauben. Das Design reicht ins auslaufende Barock, also rund 200 bis 300 Jahre zurück.
Das ist auch jene Zeit, in der mein Interesse, in der meine ganz persönliche Leidenschaft für Schuhe einsetzt. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts, muss man wissen, waren der linke und der rechte Schuh redundant, also absolut identisch geformt. Erst ab dem 18. Jahrhundert hat man begonnen, linke und rechte Schuhe zu unterscheiden und spiegelgleich auszuführen. Und damit beginnt eine ganz neue Ära der Schuhkultur, die sich mehr und mehr an der Geometrie des Fußes orientiert und sich den Gegebenheiten im Alltag, auf der Straße und bei Hofe anpasst.
Nicht zuletzt wird der Schuh auch zum Statussymbol. Ich bin jedes Mal beeindruckt, wenn ich mir ein Gemälde oder ein Reiterstandbild von Prinz Eugen anschaue. Die Reitstiefel verleihen dem Prinzen eine gewisse Mächtigkeit. Damit scheint er mit dem Pferd verankert und absolut unrunterschmeißbar. Und das ist kein Zufall. Denn die Reitstiefel wurden damals so gestaltet, dass sie ihre volle Wirkung entfalten, wenn sie sich dem Betrachter im Profil zeigen. Auf allen Bildern, die in die Geschichte eingegangen sind, sieht man den Reitstiefel immer nur von der Seite. Das ist ein Formen- und Proportionsspiel, das bis zur Perfektion getrieben wurde.
Im Gegensatz dazu wurde der Halbschuh so geformt, dass er seine wahre Schönheit beim Anblick von vorne entfaltet. Auf historischen Gemälden sieht man immer wieder Könige und Kaiser mit Halbschuhen, die eine auffällig große Schnalle und einen ziemlich hohen Absatz haben. Dies waren Schuhe, die dem Herrscherhaus vorbehalten waren. So etwas wie Protzhausschuhe fürs Image. Bürgerliche Menschen hingegen trugen damals halbhohe Schuhe und Stiefeletten zum Knöpfen und Schnüren. Meistens reichten die Schuhe bis zur Hälfte des Unterschenkels. Zum einen nämlich war der Schuh damals, mehr noch als heute, ein klimatisches Wärmedämmmittel, zum anderen war nackte Haut sowohl bei Männern als auch bei Frauen verpönt.
Im Vergleich zum Herrenschuh jedoch, der bis in die Barockzeit ein ziemlich kleines Formenrepertoire abdeckte, war der Damenschuh auch damals schon ausgefeilter und vielfältiger. Beim Damenschuh war man experimentierfreudiger und arbeitete nicht nur mit Leder, sondern auch mit Stoffen aus Satin, Samt und Seide. Jedes Lederteil, jedes Stück Stoff, jeder Schnitt, jede Naht, jede Schnürung, ja sogar jeder einzelne Knopf saß einfach perfekt. Die Feinheit, die Akribie, diese Detailgenauigkeit, mit der Damenschuhe damals schon hergestellt wurden, ist großartig!
Wir haben in unserer Scheer-Galerie eine ziemlich große Auswahl an historischen Damenschuhen, denn während die meisten Herrenschuhe zur Zeit der russischen Besatzung gestohlen wurden, haben die Alliierten, als sie unser Geschäft nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeräumt haben, für die Damenmodelle keinen Bedarf gehabt. Der Anblick dieser alten Pumps, Keil- und Plateauschuhe, Ballerinas und Sandaletten ist für mich wie eine Reise zu den Ursprüngen meines Handwerks. Gelegentlich gehe ich in den Keller hinunter, wo sich unser kleines Museum befindet, und nehme die alten Modelle in die Hand. Manche Schuhe haben eine Ausstrahlung, die ich kaum in Worte fassen kann. Manchmal scheine ich die alten Gedankengänge, die im Kopf des Schuhmachers vorgegangen sein müssen, lesen zu können. Das ist wie