Der Fuß weiß alles. Markus Scheer
mit der man den Damenschuh klassischerweise assoziiert, immer wieder auch dem Herrenschuh angedeihen lassen. Das ging sogar so weit, dass man in manchen Epochen im Rückblick – abgesehen von der Größe – kaum mehr sagen kann, ob es sich bei einem bestimmten Schuh um ein Damen- oder Herrenmodell handelt. Und manche Modelle, die heute als typisch männlich oder typisch weiblich gelten, waren zum Zeitpunkt ihrer Entstehung dem jeweils anderen Geschlecht zugeschrieben. Der Budapester beispielsweise, ein aus heutiger Sicht typisch männlicher Schuh, wurde ursprünglich für Damen entwickelt.
Die Entstehung der charakteristischen Lochstanzung hat, was die Wenigsten wissen, äußerst pragmatische Gründe. Wenn der Schuhmacher aus einem Stück Fell einen Herren- und einen Damenschuh zu bauen hatte, hat er in der Regel mit dem Herrenschuh begonnen, denn dafür brauchte er ein deutlich größeres Lederstück. Der kleinere Frauenschuh wurde daraufhin aus den Resten des Herrenschuhs ausgeschnitten. Sehr oft hatten diese Reste jedoch Fehler, Löcher, diverse Verletzungen, die es geschickt zu verbergen galt. Und so hat ein cleverer, sparsamer und effizient denkender Schuhmacher die Lochung erfunden, indem er die Fehlerstelle ausgestanzt und das Stanzloch in der seriellen Wiederholung zu einem ästhetischen Muster weiterentwickelt hat. Das war die Geburtsstunde des Budapesters. Oder besser gesagt, der Budapesterin.
Diese Kombination aus ökonomischem Kalkül und ästhetischer Raffinesse ist ein wesentlicher Bestandteil des Schuhmacherhandwerks. Auch bei uns im Hause gab es über viele bittere Jahre einen Engpass an gutem Leder. Daraufhin hat mein Großvater seine Kunden bei der Wahl des Modells auch im Hinblick auf die effiziente Verarbeitung der bestehenden Lederstücke im Lager beraten. Eine Reihe neuer Schnittmodelle ist auf diese Weise entstanden – so wie etwa der Herrenhalbschuh mit gebuggter Mittelnaht, eine Tugend aus der Not, eine Erfindung aus dem Hause Scheer.
Und so hat jeder Schuh seine eigene Entstehungsgeschichte. Abgesehen von Mokassins und Sandalen, deren Wurzeln Jahrtausende zurückliegen, sind die meisten Schuhmodelle, die wir heute kennen, auf die eine oder andere Weise zwischen 1800 und den 1920er-Jahren entstanden. Sie sind das Resultat vieler unterschiedlicher Abwägungen zwischen Ästhetik, Funktionalität und Effizienz. Der perfekte Schuh ist so gesehen das Produkt eines gesamtkünstlerischen, aber auch ökonomischen Verständnisses.
Vor allem aber ist der Schuh Produkt der beabsichtigten Wechselwirkung mit dem Körper. Je nach Design und Ausführung kann der Schuh strecken oder stauchen. Er kann das Gehtempo beschleunigen und verlangsamen. Er kann Defizite kompensieren, Fehler korrigieren, Muskeln aktivieren. Ledermaterial, Sohlenaufbau, Schuhlänge, Absatzhöhe und die Höhe des Schuhschafts – all diese Parameter stehen in einem direkten kausalen Zusammenhang und beeinflussen am Ende die Statur des Schuhträgers. Das ist wie eine Gliederkette, die aus Muskeln und Winkelspielen besteht und den Körper auf diese Weise im Lot hält. Sobald man auch nur ein einziges Glied variiert, verändert man damit die gesamte Körperhaltung.
Eine Absatzhöhe von vier Zentimetern war bei Männern früher keine Seltenheit. Das Zusammenspiel aus gespannter Wade, nach vorne gekipptem Becken, erhobener Brust, aufrechter Wirbelsäule und lang gestrecktem Hals waren gern verwendete und bewusst inszenierte Instrumente, um etwa Stolz darzustellen, um letztendlich den sozialen Status zu visualisieren. Das alles sind Elemente, die im Damenschuhdesign auch heute noch eingesetzt werden. Während die Absatzhöhe bei den Herren seit 1900 deutlich zurückgegangen ist, hat sie bei Frauen mit der gleichen Deutlichkeit zugenommen.
Für mich persönlich liegt die maximale Absatzhöhe bei sieben Zentimetern. Fünf bis sechs Zentimeter sind schon hoch, aber damit kommt der Körper zurecht. Sieben Zentimeter jedoch übersteigen das erlaubte Maß. Sie setzen die physikalischen Gesetze außer Kraft und schädigen den Gehapparat. Wenn man allzu sehr mit dem Gleichgewicht kämpfen muss, wenn die Wadenmuskulatur am Anschlag verkürzt ist und der Ballen die gesamte Last tragen muss, dann kommt das de facto einer Zerstörung des Fußes gleich. Viele Frauen scheinen sich immer noch damit zu arrangieren, dass der Fuß im Alltag leiden muss. Das ist mir ein Rätsel.
Doch Frauen mit High Heels sind nicht die einzigen, die ihre Gehwerkzeuge malträtieren. Auch Männer mit engen, schlecht geschnittenen Schuhen tun ihren Füßen nichts Gutes. Kinderschuhe wiederum sind völlig falsch konstruiert und werden von den Eltern oft nur als modisches Accessoire eingesetzt. Und bei Jugendlichen regieren fast ausschließlich Sneakers, Turnschuhe und völlig deformierende Ballerinas ohne jegliche Dämpfung. Um mit solchen Schuhen zu gehen, bräuchte man fitte, gesunde und gut trainierte Füße. Doch das haben die Wenigsten. Das Gegenteil ist der Fall. Manchmal scheint es, als würden die Menschen nicht mit, sondern neben ihren Schuhen gehen. Wir sind auf dem besten Weg, in puncto Füße völlig zu versagen.
Bei mir werden Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche, Traditionsbewusste und Mode-Junkies gleichberechtigt behandelt. Sie dürfen, ja sie müssen beim Tragen des Schuhs Lust, Genuss und Komfort empfinden. Die Grundfunktionen des Schuhs sind heute immer noch die gleichen wie vor Tausenden von Jahren: Schutz vor Hitze, vor Kälte und vor Verletzung sowie eine nicht zu vernachlässigende Stützfunktion durch Bodendruck und Seitenhalt. Hinzu kommen weitere Facetten und Einflussfaktoren wie etwa Mode, Marktangebot und Darstellung der eigenen Persönlichkeit. Der Schuh ist ein perfektes Mittel, um dem eigenen Charakter Form und Gestalt zu verleihen, um Anteile seines eigenen Ichs nach außen zu kehren.
Der Schuh ist ein sinnliches Objekt. Man opfert ein Leben und lässt es weiterleben, indem man den eigenen Körper mit der Haut des toten Tieres umhüllt. Wir sind das schöpferischste und zugleich zerstörerischste Lebewesen auf diesem Planeten. So sind wir nun mal gepolt. Mit dieser Verantwortung müssen wir leben lernen. Wo wären wir, wenn wir diese Lebendigkeit nicht mehr spüren würden? Wenn wir uns dieser martialischen Ader nicht mehr bewusst wären? Wenn wir diesen Kreislauf aus Leben und Tod nicht mehr nachempfinden könnten? Das wäre ein schlimmer kultureller Verlust.
2.
Die Schusterkugel
Die alte Werkstatt hinter der Tür unter der Treppe
Erinnerungen und Erzählungen
Über viele Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende war der Schuh weit mehr als nur ein Bekleidungsstück. Für den Großteil der Bevölkerung war der Schuh ein unverzichtbares Arbeitsgerät. Zum Beispiel für den Bauern. Weil so ein Arbeitsgerät allerdings nur dann repariert werden konnte, wenn es gerade nicht gebraucht wurde, war der Schusterberuf zu Beginn eine rein mobile Tätigkeit. Der Schuster ging von Hof zu Hof und zog dem Bauern zu später Stunde die Schuhe aus, um sie über Nacht zu reparieren und wieder in Schuss zu bringen, sodass sie am nächsten Tag aufs Neue ihren Dienst erweisen konnten.
Viel brauchte der Schuster nicht, um seine Arbeit zu verrichten: ein paar Werkzeuge, einen Schemel und Licht. Doch gerade Letzteres bereitete große Probleme, denn im Kerzenschein der Bauernhütte konnte man nur schwer mit Ahle, Faden und dem scharfen Kneip, den man zum Beschneiden der Sohlen und Absätze braucht, umgehen. Und so hatte ein cleverer Kerl eines Tages die ausschlaggebende Idee, um Herr über die Dunkelheit zu werden, und erfand die sogenannte Schusterkugel, einen hauchdünnen Glasballon, der bis oben hin mit Wasser gefüllt war und zwischen Kerzenschein und Arbeitsfläche aufgestellt beziehungsweise in einem einfachen Holzrahmen aufgehängt wurde. Auf diese Weise konnte das Kerzenlicht gebündelt werden, und der Arbeitsplatz war hellstens ausgeleuchtet. Physikalisch betrachtet ist die Schusterkugel nichts anderes als eine simple, riesengroße, konvexe Linse.
Die meisten Handwerksberufe haben sich die Schusterkugel zum Vorbild genommen, um für die eigene Zunft eine ähnliche Konstruktion zu entwickeln: Schneider, Uhrmacher, Juweliere. Sogar die Kirche hat sich die Funktionsweise der Schusterkugel abgeschaut, um das einfache Volk hinters Licht zu führen. In Kirchen wurden Kerze und Kugel meist in eine kleine, unscheinbare und für die Augen unerreichbare Nische gestellt und projizierten auf diese Weise auf Jesuskinder, Marienstatuen und Götterbildnisse ein paar Meter weiter eine Art gebündelten Heiligenschein. Die Inszenierung war perfekt.
Mit der allmählichen Elektrifizierung ist die Schusterkugel um die Jahrhundertwende in Vergessenheit geraten. Auch bei uns in der Werkstatt. Kein Mensch hat mehr darüber gesprochen. Auch ich kannte die Schusterkugel in meinen ersten Arbeitsjahren bloß aus Erzählungen und Museen. Nach dem Tod meines Großvaters Carl Ferdinand hat sich das geändert. Hinter einem Kasten habe ich eines Tages ein Paket gefunden,