Heimatkinder Staffel 3 – Heimatroman. Kathrin Singer
Tupfen, das lose blonde Haar, in dem Sonnengold flirrte, die gelösten Gesichtszüge – das alles hatte die tüchtige Chefsekretärin Julia Wellner in ein Geschöpf der Wälder verwandelt, in ein Kind der Natur.
Der Förster war längst um die Wegbiegung verschwunden. Noch immer stand Julia reglos auf derselben Stelle, wie durch einen Zauberspruch gebannt.
Als kleines Mädchen hatte sie für Förster geschwärmt. »Mami, wenn ich groß bin, heirate ich einen Förster.« Wie oft hatte ihre Mutter das zu hören bekommen. Förster waren für sie stets als der Inbegriff romantischer, zuverlässiger und fröhlicher Männer. Dies war der erste, den sie näher kennen lernte. Welch ein Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit.
Julia seufzte. Langsam drehte sie sich um. Sie wollte nicht riskieren, dass der Forstmann hinter dem nächsten Busch auf sie lauerte, um zu kontrollieren, ob sie sich seinem Befehl widersetzte. Nein, sie wollte diesem Burschen auf keinen Fall noch einmal begegnen.
Sie war schon eine ganze Weile gewandert, als sie vom Pfad abbog und sich durch dichtes Gebüsch zwängte. Auf einer versteckten, malerisch versponnenen Lichtung lag ihr kleines Zelt.
Hier verbrachte sie seit zwei Tagen ihren Urlaub, und sie gedachte, noch mindestens eine Woche zu bleiben.
Wenn – ja – wenn der Förster sie nicht erwischte!
Sie wusste, dass es nicht erlaubt war wie so vieles im Leben – mitten im Wald allein zu zelten. Aber auch die Vorstellung, eine Zeit lang völlig allein in den Wäldern zu kampieren, wie eine kleine Zigeunerin, gehörte zu ihren Kindheitsträumen. Sie hatte den Brüdern ihrer Freundin davon erzählt, dem siebzehnjährigen Frank und dem sechzehnjährigen Armin, und die beiden Jungen hatten sich sofort bereiterklärt, ihr ein kleines Zelt zu leihen und es an einer geheimen Stelle aufzubauen. Für Frank und Armin war es ein verspätetes Indianerspiel gewesen, für sie aber ging ein Traum in Erfüllung, der in Wirklichkeit noch schöner, noch aufregender war als in der Fantasie.
Wie sie das Leben in der Einsamkeit genoss! Ob sie sich nicht fürchte, hatten die Jungen sie beim Abschied gefragt. Nein! Julia hatte das Gefühl, dass der Wald sie beschützte, dass jeder einzelne Baum ein Wächter hier war.
Sie ließ sich neben dem Zelt ins hohe Gras sinken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. An dem kleinen Stückchen Himmel, das sie sah, hingen weiße Sommerwolken – Segelboote, die zu glücklichen Ufern trieben und nur darauf warteten, mit geheimen Wünschen und Sehnsüchten beladen zu werden. Noch nie hatte Julia so intensiv gefühlt, dass sie lebte, wie hier in der Stille, in der völligen Abgeschiedenheit.
Doch kaum war sie nach zwei Tagen einem Menschen begegnet, gab es sofort wieder Streit und Zank. Fürchterlich!
Julia beschloss, nicht mehr an den ekligen Förster zu denken, um sich nicht die schönen Urlaubstage zu verderben. Doch die Erinnerungen an diesen düsteren Mann kehrten immer wieder wie lästige Mücken, ließen sich einfach nicht vertreiben. Vielleicht war er ein unglücklicher Mensch. Vielleicht hatte er ein schweres Schicksal zu verkraften. Warum versuche ich, ihn zu entschuldigen?, fragte sich Julia wütend. So ein Blödsinn.
Sie kramte eines der Taschenbücher hervor, die sie mitgenommen hatte. Doch was sie las, nahm sie gar nicht in sich auf, immer wieder schweiften ihre Gedanken ab.
Diese dunklen geheimnisvollen Männeraugen.
Unmerklich senkte sich die Dämmerung über die Waldeinsamkeit.
Julia entzündete die Stalllaterne, die an der Zeltstange hing. Noch lange saß das Mädchen an diesem Abend im hohen Gras vor dem Zelt und träumte in die Nacht, die von Mondenschein und geheimnisvollem Wispern erfüllt war. Als der Mond höher stieg und seinen bleichen Schein auf die Lichtung warf, glaubte Julia Elfen tanzen zu sehen. Die Nacht war voller Wunder.
*
Am nächsten Morgen waren es die jubilierenden Vögel, die Julia sanft weckten. Verschlafen kroch das Mädchen aus dem Zeit. Wie die Welt strahlte und funkelte! Myriaden Tautropfen hingen an den Gräsern und Blättern und blitzten in allen Regenbogenfarben. Wie schön die Welt war. Die Stille im Wald hatte etwas völlig Unirdisches. Julia fühlte sich wie neugeboren. Alles Vergangene verblasste.
In der Nähe sprang ein murmelnder Bach über Felsgestein durch einen dichten, hochstämmigen Fichtenwald. An einer Stelle, wo sich ein kleiner Stau gebildet hatte, verrichtete Julia ihre Morgentoilette. Das Wasser war klar und eiskalt und erfrischte auf wundersame Weise.
Bald summte der Teekessel auf dem Hartspirituskocher. Duftender Kaffee, dazu Schwarzbrotschnitten mit Butter – nie hatte Julia köstlicher gefrühstückt.
Anschließend verließ sie die Waldwiese zu einem ziellosen Spaziergang. Noch immer war das Gras, durch das sie mit nackten Füßen streifte, taufeucht. Sie trug einen bunten schwingenden Rock und eine weiße Zigeunerbluse, die ihre Schultern nicht bedeckte. Julia wollte die Sonne und den sanften Wind auf der Haut spüren.
Ihr blondes Haar wehte so leicht wie eine Sommerwolke. Und so leicht war auch ihr Sinn an diesem herrlichen Morgen.
Plötzlich sah Julia etwas Rotes durch das dichte Grün schimmern. Ein Dach! Die Försterei?
Julia erschrak. Sie hatte nicht geahnt, dass sich ihre versteckte Waldlichtung so nahe beim Forsthaus befand. Schon wollte sie umkehren, um dem Förster nicht zufällig zu begegnen, da hörte sie Stimmen.
Es war der Förster von gestern – kein Zweifel. Seine Stimme erkannte sie sofort. Und er redete genauso unwirsch und herrisch wie gestern. Es schien seine Art zu sein, die Leute abzukanzeln. Wer war heute das Opfer?
Julia spähte durch die hohe, dichte Hecke, die den Garten des Försterhauses einfriedete.
Sie entdeckte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die wie arme Sünder vor dem Forstmann standen.
Das kleine Mädchen hielt eine Puppe im Arm, so fest und zärtlich, als sei es ein lebendiges Wesen, das es vor dem Zorn des Mannes in der grünen Uniform zu schützen galt.
»Woher hast du die Puppe?«
»Gekauft«, antwortete das blonde Mädchen.
»Wann?«
»Gestern im Dorf.«
»Und womit hast du sie bezahlt?«, forschte der Förster, offensichtlich der Vater der Kinder, in einem Tonfall, als gelte es einen auf frischer Tat ertappten Wilddieb zu verhören.
»Mit – meinem – Taschengeld«, erwiderte das Kind kläglich. »Und …« Es stockte.
»Und?«, drohte der Forstmann.
»Und mit meinem«, platzte der Junge heraus. Er mochte etwa sieben Jahre alt sein, vielleicht ein Jahr älter als das Mädchen. Sein Gesicht war offen und sehr sympathisch. Er gefiel Julia auf Anhieb. »Wir haben zusammengelegt.«
»Aha! Und wie viel ist übrig geblieben?«
»Achtzig Cent. Dafür haben wir Himbeerbonbons gekauft«, gestand das Mädchen.
»Das ist ja großartig«, grollte der Förster. »Ihr habt also euer gesamtes Taschengeld am Monatsbeginn ausgegeben. Und wie soll es die restlichen achtundzwanzig Tage weitergehen?«
»Wir …, wir brauchen nichts mehr«, erklärte der Junge und senkte den Blick.
»So, ihr braucht nichts mehr. Das kennt man ja. Typisch! Dieser bodenlose Leichtsinn ist typisch für euren … Na ja, lassen wir das. Aber eines merkt euch ein für alle Mal, so etwas gibt es nicht. Damit fangen wir gar nicht erst an. Ihr bringt die Puppe auf der Stelle in den Laden zurück und lasst euch das Geld wiedergeben.«
»Nein, bitte nicht!«, rief das kleine Mädchen weinerlich und drückte sein Puppenkind noch inniger an die Brust.
»Du willst dich widersetzen, Heidi?«
»Bitte, bitte, Papi, lass mir doch …«
»Nein, habe ich gesagt. Ich will nicht schuld sein, wenn aus euch auch eines Tages verantwortungslose, leichtsinnige, egoistische junge Leute