Heimatkinder Staffel 3 – Heimatroman. Kathrin Singer
Die Kinder trollten sich. Hand in Hand verschwanden sie im Unterholz. Immer wieder schauten sie über die Schulter zurück, bis das grüne Gezweig ihnen jede Aussicht verwehrte.
»So, meine liebe junge Dame, und nun zu Ihnen.« Der Förster trat so dicht vor Julia hin, dass ihn ein Hauch ihres leichten, sommerwürzigen Parfüms umwehte. »Darf ich erfahren, was das hier zu bedeuten hat?«
Julia holte tief Luft. »Ich wollte einmal allein sein und die unberührte Natur genießen. Sie als Förster sollten dafür eigentlich Verständnis haben.«
»Wie bitte?« Er runzelte die Brauen. »Sie erwarten von mir Verständnis für Gesetzesübertretungen?«
»Oje!« Sie seufzte abgrundtief.
»Gibt es hier nicht genügend Camping-Plätze, wo Sie ihr Zelt aufstellen können?«
»Meine Güte, verstehen Sie mich denn wirklich nicht? Ich wollte einmal allein sein, ein paar Tage lang völlig abschalten. Können Sie das denn nicht begreifen?«
»Meine liebe Frau Wellner, was meinen Sie, wie sähen unsere Wälder in Kürze aus, wenn wir jedem Hans und jeder Grete gestatten würden, an jeder beliebigen Stelle zu zelten. Schon die Spaziergänger, die ihren Müll hinterlassen, bereiten uns genug Verdruss, ich will es Ihrer Jugend zugutehalten.«
»Ich bin vierundzwanzig Jahre alt!«
»Ah, Sie erwähnten es schon. Nun, sagen wir also, ich will es Ihrer Unreife zugutehalten, dass Sie sich gegen offizielle Bestimmungen vergangen haben, und aus diesem Grund werde ich auch keine weiteren Schritte gegen Sie unternehmen.«
»Wie großzügig! Danke.«
»Aber Sie werden augenblicklich verschwinden. Heute Abend will ich Sie und Ihr Zelt nicht mehr hier sehen. Haben wir uns verstanden?« Er sah sie an, sein Gesicht zeigte keine Regung.
»Und was passiert, wenn ich nicht gehorche?« Julia verschränkte die Arme. »Kommen Sie dann mit der Ortspolizei, um mich aus dem Paradies zu vertreiben?«
Matthias Hartmann lächelte überlegen. Er war etwa einen halben Kopf größer als sie, doch als er jetzt auf sie herabschaute, schien er sie gut einen Meter zu überragen.
»Eine halbe Portion wie Sie schaffe ich auch allein.«
Eine heiße Woge des Zorns durchzuckte Julia. Dieser Mann besaß ein seltenes Talent, sie auf die Palme zu bringen. Jetzt gerade nicht! Sie war kein halbwüchsiges Schulmädchen, das er herumkommandieren konnte!
»Da bin ich aber gespannt.« Ihre Lippen kräuselten sich verächtlich. »Sehr gespannt sogar.«
»Wie … soll das heißen, dass Sie ihr Zelt nicht abbrechen wollen?«, fragte er irritiert.
»Lassen Sie sich überraschen.«
»Ich warne Sie, Frau Wellner.«
»Sehr liebenswürdig, Herr Hartmann.«
»Sparen Sie sich die ironischen Bemerkungen.«
»Aber ich meine es ernst, ich finde es ausgesprochen liebenswürdig von Ihnen, dass Sie mich vor tätlichem Angriff warnen, Herr Hartmann.«
»Also, heute Abend will ich Sie hier nicht mehr vorfinden. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Guten Tag!« Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ die sonnige Waldlichtung, ohne sich noch einmal umzublicken.
Mit einem Seufzer sank Julia ins weiche Gras. Wehmütig schaute sie in die Runde. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, dass sie das Leben in der Stille wie ein unverdientes Geschenk genossen hatte. Sollte sie sich widerstandslos vertreiben lassen? Natürlich, der Förster war im Recht, das wusste sie. Und doch, er hatte ihren Widerspruchsgeist gereizt wie kein zweiter Mann, dem sie je begegnet war. »Patentekel!«, zischte sie.
Sie wollte es erst einmal darauf ankommen lassen. Den heutigen Abend würde sie in aller Ruhe und Gelassenheit erwarten. Mal sehen, was dann passierte.
Obwohl sie sich Gelassenheit vornahm, klopfte ihr Herz bereits jetzt schmerzhaft. Sie konnte einfach nicht mehr stillsitzen, sie musste irgendetwas tun. Als sie aufsprang, dachte sie an das Versprechen, das sie den Kindern gegeben hatte, und machte sich auf den Weg ins nahe Dorf.
Als sie wenig später durch die sonnenwarmen Straßen bummelte, entdeckte sie nur einen einzigen Laden. An der Eingangstür war ein Pappschild befestigt:
Zuverlässige Haushälterin oder Kindermädchen dringend gesucht.
Förster Hartmann
Julia starrte so nachdenklich und anhaltend auf das Schild, als könnte sie ihre Zukunft darauf ablesen.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und betrat das Geschäft, das ein Mittelding zwischen Supermarkt und Kramladen darstellte, um die Puppe zu kaufen.
*
Vor dem einsamen Forsthaus stoppte schwungvoll ein offener Landrover. Aus dem staubbedeckten Geländefahrzeug sprang ein Mann, so leichtfüßig und geschmeidig wie ein Panther. Er war groß, schlank und sehnig, mochte Ende zwanzig sein und hatte blondes welliges Haar, das wie von der Tropensonne ausgebleicht wirkte. Umso dunkler war seine sonnenverbrannte Haut. Er trug ein Safarihemd und eine Khakihose. Ein Hauch von Afrika schien in den grünen dichten Wald einzubrechen.
»Onkel Björn! Onkel Björn!« Die Kinder stürmten aufgeregt durch den Vorgarten.
»Hallo, ihr beiden!« Die stahlblauen Augen des Mannes blitzten. Er lachte und zeigte dabei ein paar blendend weiße Zähne. Etwas umwerfend Sympathisches ging von ihm aus, eine unbezwingbare Lebensfreude.
»Carsten, mein Junge!« Er hob den Buben hoch und schwenkte ihn übermütig herum. Dann drückte er ihn stürmisch an die Brust. Und als er Heidi zu sich auf den Arm nahm, schimmerte eine seltsame Rührung in seinen Augen.
»Dass ihr euch überhaupt noch an mich erinnert, ihr zwei! Meine Güte, wie lange ist es her, seit ich zum letzten Mal hier war. Mindestens ein Jahr! Nein, noch länger!«
»Klar können wir uns erinnern!«, erklärte Carsten aufgeregt. »Neulich haben wir erst ein Fotoalbum angeguckt, da sind so viele Bilder von dir drin, Onkel Björn.«
»Und von unserer Mami, die im Himmel ist«, fügte Heidi leise hinzu und schluckte.
Der abenteuerlich wirkende Mann räusperte sich. Dann wandte er sich seinem Wagen zu. »Ich habe euch auch etwas mitgebracht.« Er angelte mehrere bunt verpackte Geschenke von den Rücksitzen, die er den beiden Kindern in die Arme drückte.
Matthias Hartmann war aus dem Haus getreten. Reglos und stumm stand er auf der Schwelle der Haustür und blickte zu der Szene hinüber.
Auch Björn Hartmann verharrte. Es schien, als spiele sich in Sekundenschnelle ein wortloser Zweikampf zwischen den ungleichen Brüdern ab.
»Packt alles schön aus, dann seid ihr erst einmal beschäftigt«, wandte sich der Heimgekehrte an die Kinder und strich ihnen mit einer zärtlichen Geste über das Haar.
Mit raschen, weit ausgreifenden Schritten durchquerte er den Garten. Sein Bruder kam ihm nicht entgegen – keine Handbreit. »Hallo, Matthias!«
»Guten Tag, Björn. Schön, dich einmal wiederzusehen«, sagte er steif.
Die Brüder Hartmann reichten einander die Hände, kurz, mit festem Druck.
»Komm herein, Björn.« Der Hausherr eilte voran und öffnete die Tür zu dem behaglich eingerichteten Wohnzimmer, das grundsolide und ehrlich wirkte, dem aber anzumerken war, dass in diesem Haus keine weibliche Hand regierte und ein wenig Poesie und Wärme in die Räume zauberte.
Björn Hartmann schloss die Tür hinter sich. »Es ist schon ein bisschen komisch, wenn die eigenen Kinder einen mit Onkel Björn begrüßen.« Sein kurzes Lachen klang unfroh, fast schmerzlich.
»Nimm Platz, Björn. – Du weißt, dass ich es zur Bedingung gemacht habe: Solange die Kinder bei mir aufwachsen, sollen sie in mir auch den Vater sehen.«