Rosa Luxemburg: Gesammelte Schriften über die russische Revolution. Rosa Luxemburg
der bürgerlichen Intelligenz dienstbar zu machen, so läßt sich in den Anfangsstadien der Arbeiterbewegung dieser Zweck am ehesten nicht durch Dezentralisation, sondern gerade durch strammen Zentralismus erreichen, der die noch unklare proletarische Bewegung einer Handvoll akademischer Leiter mit dem Kopfe ausliefert. Es ist charakteristisch, daß auch in Deutschland zu Beginn der Bewegung, wo ein starker Kern aufgeklärter Proletarier und eine erprobte sozialdemokratische Taktik noch fehlten, die beiden Tendenzen in der Organisation vertreten waren, nämlich der äußerste Zentralismus durch den Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, der „Autonomismus“ dagegen durch die Eisenacher. Und dabei hatte diese Taktik der Eisenacher, bei all ihrer zugestandenen prinzipiellen Unklarheit, eine bedeutend größere aktive Beteiligung des proletarischen Elementes an dem geistigen Leben der Partei, einen größeren Geist der Initiative in der Arbeiterschaft selbst großgezogen – als Beweis mag unter anderem die rasche Entwicklung einer beträchtlichen Provinzpresse dieser Fraktion dienen – überhaupt einen viel stärkeren gesunden Zug in die Breite als die mit ihren Diktatoren“ naturgemäß immer traurigere Erfahrungen machenden Lassalleaner.
Im allgemeinen kann unter Verhältnissen, wo die Arbeitermasse in ihrem revolutionären Teile noch locker, die Bewegung selbst schwankend, kurz, wo die Verhältnisse ähnlich den gegenwärtigen in Rußland sind, als die adäquate organisatorische Tendenz des opportunistischen Akademikers gerade der straffe, despotische Zentralismus leicht nachgewiesen werden. Genauso wie in einem späteren Stadium – im parlamentarischen Milieu und gegenüber einer starken, festgefügten Arbeiterpartei – im Gegenteil die Dezentralisation zur entsprechenden Tendenz des opportunistischen Akademikers wird.
Eben vom Standpunkt der Befürchtungen Lenins vor den gefährlichen Einflüssen der Inteliigenz auf die proletarische Bewegung bildet seine eigene Organisationsauffassung die größte Gefahr für die russische Sozialdemokratie.
Tatsächlich liefen nichts eine noch junge Arbeiterbewegung den Herrschaftsgelüsten der Akademiker so leicht und so sicher aus wie die Einzwängung der Bewegung in den Panzer eines bürokratischen Zentralismus, der die kämpfende Arbeiterschaft zum gefügigen Werkzeug eines „Komitees“ herabwürdigt. Und nichts bewahrt umgekehrt die Arbeiterbewegung so sicher vor allen opportunistischen Mißbräuchen seitens einer ehrgeizigen Intelligenz wie die revolutionäre Selbstbetätigung der Arbeiterschaft, wie die Potenzierung ihres politischen Verantwortlichkeitsgefühle.
Und zwar kann das, was Lenin heute als Gespenst sieht, sehr leicht morgen zur greifbaren Wirklichkeit werden.
Vergessen wir nicht, daß die Revolution, an deren Vorabend wir in Rußland stehen, nicht eine proletarische, sondern eine bürgerliche Revolution ist, die die ganze Szenerie des sozialdemokratischen Kampfes stark verändern wird. Alsdann wird sich auch die russische Intelligenz recht bald mit stark ausgeprägtem bürgerlichem Klasseninhalt füllen. Ist heute die Sozialdemokratie die einzige Führerin der russischen Arbeitermasse, so wird am Morgen nach der Revolution das Bürgertum und in erster Reihe seine Intelligenz naturgemäß die Masse zum Piedestal seiner parlamentarischen Herrschaft formen wollen. Je weniger nun in der gegenwärtigen Kampfperiode die Selbstbetätigung, die freie Initiative, der politische Sinn der auf gewecktesten Schicht der Arbeiterschaft entfesselt, je mehr sie durch ein sozialdemokratisches Zentralkomitee politisch geleithammelt und gedrillt wird, um so leichter wird das Spiel der bürgerlichen Demagogen in dem renovierten Rußland sein, um so mehr wird die Ernte der heutigen Mühen der Sozialdemokratie morgen in die Scheunen der Bourgeoisie wandern.
Vor allem aber ist der ganze Grundgedanke der ultrazentralistischen Auffassung, der darin gipfelt, den Opportunismus durch ein Organisationsstatut von der Arbeiterbewegung fernzuhalten, ein verfehlter. Unter dem unmittelbaren Eindruck der neuesten Vorgänge in der französischen, italienischen und deutschen Sozialdemokratie hat sich offenbar auch bei den russischen Sozialdemokraten die Neigung herausgebildet, den Opportunismus überhaupt als eine nur mit den Elementen der bürgerlichen Demokratie in die Arbeiterbewegung von außen hineingetragene, der proletarischen Bewegung selbst aber fremde Beimischung zu betrachten. Wäre dieses auch richtig, so würden sich die statutarischen Organisationsschranken an sich gegen den Andrang des opportunistischen Elementes ganz ohnmächtig erweisen. Wenn sich einmal der massenhafte Zufluß nichtproletarischer Elemente zu der Sozialdemokratie aus so tiefgewurzelten sozialen Ursachen ergibt wie dem rapiden wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kleinbürgertums und dem noch rapideren politischen Zusammenbruch des bürgerlichen Liberalismus, dem Aussterben der bürgerlichen Demokratie, dann ist es eine naive Illusion, sich einzubilden, daß man durch diese oder andere Fassung der Paragraphen des Parteistatuts diese anstürmende Welle zurückdämmen könnte. Paragraphen regieren nur die Existenz von Meinen Sekten oder Privatgesellschaften, geschichtliche Strömungen haben sich noch immer über die spitzfindigsten Paragraphen hinwegzusetzen gewußt. Es ist ferner ganz verfehlt, zu denken, daß es auch nur im Interesse der Arbeiterbewegung liegt, den massenhaften Zufluß der Elemente abzuwehren, die von der fortschreitenden Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft freigesetzt werden. Der Satz, daß die Sozialdemokratie, eine Klassenvertreterin des Proletariats, doch gleichzeitig die Vertreterin der gesamten Fortschrittsinteressen der Gesellschaft und aller unterdrückten Opfer der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ist, ist nicht bloß in dem Sinne zu deuten, daß in dem Programm der Sozialdemokratie ideell alle diese Interessen zusammengefaßt sind. Dieser Satz wird zur Wahrheit in Gestalt des geschichtlichen Entwicklungsprozesses, kraft dessen die Sozialdemokratie auch als politische Partei nach und nach zur Zufluchtsstätte der verschiedensten unzufriedenen Elemente, daß sie wirklich zur Partei des Volkes gegen eine winzige Minderheit der herrschenden Bourgeoisie wird. Es kommt nur darauf an, daß sie die Gegenwartsschmerzen dieser bunten Schar von Mitläufern nachhaltig den Endzielen der Arbeiterklasse zu unterordnen, den nichtproletarischen Oppositionsgeist der revolutionären proletarischen Aktion einzugliedern, mit einem Worte, die ihr zufließenden Elemente sich zu assimilieren, sie zu verdauen versteht. Letzteres ist aber nur möglich, wo, wie bis jetzt in Deutschland, bereits kräftige, geschulte proletarische Kerntruppen in der Sozialdemokratie den Ton angeben und klar genug sind, die deklassierten und kleinbürgerlichen Mitläufer ins revolutionäre Schlepptau zu nehmen. In diesem Falle ist auch eine strengere Durchführung des zentralistischen Gedankens im .Organisationsstatut und die straffere Paragraphierung der Parteidisziplin als ein Damm gegen die opportunistische Strömung sehr zweckmäßig. Das Organisationsstatut kann unter diesen Umständen zweifellos als eine Handhabe im Kampfe mit dem Opportunismus dienen, wie es der französischen revolutionären Sozialdemokratie tatsächlich gegen den Ansturm des jaurèsistischen Mischmasches gedient hat und wie auch eine Revision des deutschen Parteistatuts in diesem Sinne jetzt eine Notwendigkeit geworden ist. Aber auch in diesem Falle soll das Parteistatut nicht etwa an sich eine Waffe zur Abwehr des Opportunismus sein, sondern bloß ein äußeres Machtmittel zur Ausübung des maßgebenden Einflusses der tatsächlich vorhandenen revolutionären proletarischen Majorität der Partei. Wo eine solche noch fehlt, kann sie durch die rigorosesten Paragraphen auf dem Papier nicht ersetzt werden.
Doch ist der Zufluß bürgerlicher Elemente, wie gesagt, durchaus nicht die einzige Quelle der opportunistischen Strömung in der Sozialdemokratie. Die andere Quelle liegt vielmehr im Wesen des sozialdemokratischen Kampfes selbst, in seinen inneren Widersprüchen. Der weltgeschichtliche Vormarsch des Proletariats bis zu seinem Siege ist ein Prozeß, dessen Besonderheit darin liegt, daß hier zum erstenmal in der Geschichte die Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, ihn aber ins Jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaus setzen müssen. Diesen Willen können sich die Massen aber andererseits nur im alltäglichen Kampfe mit der bestehenden Ordnung, also nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der revolutionären Umwälzung, das ist der dialektische Widerspruch der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgang zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Preisgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, vorwärtsarbeiten muß.
Es ist deshalb eine ganz unhistorische Illusion, zu denken, die sozialdemokratische Taktik im revolutionären Sinne könne im voraus ein für allemal sichergestellt, die Arbeiterbewegung könne vor