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      »Natürlich, sehr gern. Wir warten auf Sie.«

      *

      Angela schlug den Weg ein, der sich auf halber Höhe des Wiesenhügels entlangschlängelte. Sie liebte diesen Pfad, der ziemlich schnell in den Wald führte. Hier konnte sie ihren Gedanken nachhängen und ins Tal blicken, wo alles so weit weg schien. Und sie war allein mit sich.

      Sie setzte sich auf eine Bank, von der aus sie einen unverstellten Blick auf ihr Heimatdorf hatte. Auch auf das Haus und die Tankstelle ihrer Eltern, von denen sie sich hatte abnabeln wollen. Wegen Christian, weil sie die Liebe ihres Lebens gefunden hatte und eine eigene Familie gründen wollte. Dieses Thema war jetzt erledigt.

      Bei dem Gedanken bäumte sich wieder alles in ihr auf. Der entsetzliche Schmerz einer verlorenen Liebe überfiel sie. Sehnsucht klammerte ihr Innerstes zusammen. Sie vermisste die wenigen, aber so liebevollen Stunden mit dem geliebten Mann und begann zu weinen. Es war kein lautes Schluchzen, sondern ein lautloses Weinen, das ihr die Kehle zuschnürte. Wie lange sie so gesessen hatte, konnte sie später nicht mehr sagen.

      Irgendwann legte sich der graue Mantel der Dämmerung über Wiesen und Wald. Bald darauf gingen unten im Ort die Lampen an. Silbernes Mondlicht legte sich wie Raureif auf Büsche und Bäume, und in den Zweigen der Fichten hinter ihr sang ein Vogel eine wunderschöne Melodie. Sterne zeigten sich am Himmel, immer mehr wurden es. Sie erkannte klare Bilder. Den kleinen und den großen Wagen, den Polarstern … Wie Diamanten auf blauschwarzem Tuch funkelten sie auf sie herunter. In der Erinnerung daran, dass sie an diesem Abend, unter dem gleichen Sternenzelt, mit Christian eigentlich irgendwo im Tessin hatte sitzen sollen, kamen ihr erneut die Tränen. Eine eiskalte Faust umschloss ihr Herz. Zu viele Erinnerungen … Ein Schauer überlief sie. Sie stand auf.

      Sollte sie zurückgehen? Nein. Ihr war jetzt nicht danach, jemandem von ihrer Familie zu begegnen. »Angela, kannst du mal gerade …?« »Angela, du hast vergessen …« Damit würde nun Schluss sein. Sie wollte nicht mehr. Und sie konnte nicht mehr. Ihre Aufopferungsbereitschaft hatte sie gerade ihre große Liebe gekostet. Kein Mann wollte eine Frau haben, die ihr Leben ihren Eltern widmete.

      Der weiche Boden verschluckte ihre Schritte. Sie ging durch den Zauberwald, wie früher an der Hand ihrer Mutter. Das Mondlicht huschte hier selbst in die verwunschensten Winkel und leuchtete ihr den Weg aus. Die Luft roch erdig und harzig. Bizarre Äste, die aussahen wie Fabeltiere, mit Flechten bewachsene Stämme begleiteten sie zu der kleinen Hütte, wo ihre Mutter ihr Geschichten erzählt hatte. Ja, sie hatte eine schöne Kindheit gehabt.

      Wieder liefen ihr die Tränen die Wangen hinunter. Warum nur war alles so gekommen?

      Jetzt hörte sie schon deutlich das Wasser rauschen und ging weiter.

      Wäre die Nacht nicht so klar gewesen und hätte der Mond nicht wie eine runde Lampe am Himmel gestanden, sie hätte kehrtgemacht, aber so strebte sie auf den Wasserfall zu, der sie schon immer auf eine merkwürdige Weise angezogen hatte. Vielleicht, weil er so kraftvoll war?

      Niemals zuvor hatte Angela den Gedanken gehabt, ihrem jungen Leben ein Ende zu machen. Nein, sie kämpfte gegen die Schmerzen im Kopf, gegen die in ihrem Körper und stellte sich ihren Aufgaben. Aber jetzt, nach diesem Tag, beschlich sie zum ersten Mal die Idee, dass sie ein solcher Schritt von all ihren Nöten befreien würde. Vor allem vor der schmerzenden Sehnsucht nach Christian, die in den kommenden Tagen nur noch schlimmer werden würde. Das wusste sie jetzt schon.

      Da lag auch schon das obere Ende der Klamm vor ihr. Wie silberne Bänder floss das Wasser aus dem Felsen, der es gebar, und fiel in die Schlucht hinunter, aus der es sich dann als ruhiger Fluss, die Steinache, weiter abwärts nach Ruhweiler schlängelte.

      Sie kauerte sich an den Rand der Schlucht und verfolgte den Lauf des Wassers. Umgeben von der ungebrochenen Naturgewalt ahnte sie eine höhere Macht, die dies alles hier auf Erden lenkte. Was bedeutete dagegen ein so kurzes Menschenleben? Das Wasser würde auch noch in Jahrhunderten hier rauschen, wenn sie und alle Menschen, die sie heute kannte, längst schon tot waren. Wer würde dann noch von ihr, einer Angela Häferle, erzählen? Die Verzweiflung in ihr wich nun einer seltsamen Stimmung. Ruhe überkam sie, Traurigkeit, Müdigkeit.

      Lange Zeit saß die junge Frau einfach nur so da. Es waren seltene Momente, in denen sie die Hände in den Schoß legen konnte. Die Welt um sie herum war bisher nicht dazu geeignet gewesen, sich dem Müßiggang hinzugeben. Irgendwann ließ die feuchte kühle Luft aus der Schlucht sie frösteln. Sie stand auf, ging über den Fußsteig, der oberhalb der Klamm entlang führte, wieder bergab. Mit jedem Schritt wurde das Geräusch des Wasserfalls leiser, die Schlucht neben ihr weitete sich.

      Da vernahm sie ein Fiepen. Sie blieb stehen, schaute hinunter auf das Wasser, das die Felsen an dieser Stelle in ein enges Bett zwängten. Dann, ganz plötzlich, verlor sie den Boden unter den Füßen. Er brach einfach unter ihr weg. Sie schlug mit dem Rücken auf den felsigen Hang auf, fand keinen Halt mehr und rutschte in voller Länge in die Tiefe. Dabei wurde ihr schwarz vor Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, ob hier das Mondlicht nur nicht mehr hinkam oder ob der Tod sie bereits in eine andere Welt zog …

      *

      »Wie lange ist Angela schon weg?« Jenny schaute zuerst ihre Mutter, dann ihren Vater an. »Vor vier Stunden stand sie noch hier auf der Terrasse. Also höchstens vier Stunden.« Sie schüttelte den Kopf. »Nach vier Stunden schickt die Polizei noch keinen Suchtrupp los. Das kenne ich aus dem Fernsehen. Die sagen da immer, dass zwischen dem Verschwinden einer gesunden Person und einer Suchanzeige wenigstens zwölf Stunden liegen müssen.«

      »Blödsinn«, tat Axel Häferle ihren Hinweis ab. Er hatte sich inzwischen seine Armprothese angelegt, die täuschend echt wirkte. »Ich kenne den Hauptwachtmeister aus Ruhweiler noch aus der Schule. Dem werde ich schon Beine machen, wenn es um mein Kind geht.«

      »Worauf du dich verlassen kannst«, stimmte Monika ihrem Mann zu. »Lass uns gar nicht mehr erst auf Herrn Kofler warten. Ruf die Polizei sofort an«, spornte sie ihn an.

      »Vielleicht ist Angela ja bei Dr. Brunner«, fiel Jenny nun ein. Dabei leuchteten ihre Augen voller Hoffnung auf. »Sie ist doch bei ihm in Behandlung, und von ihm weiß jeder, dass man auch mit Problemen zu ihm kommen kann. Die hat meine Schwester ja nun wirklich, nachdem ihr sie aus dem Urlaub zurückgepfiffen habt. Ich fand das übrigens total mies«, fügte sie hinzu.

      »Dr. Brunner.« Voller Hoffnung hing der Name des Landarztes nun im Raum. »Es könnte vielleicht tatsächlich sein, dass sie sich ihm in ihrer Verzweiflung anvertraut an«, sagte Monika mit zitternder Stimme.

      »Ihn rufe ich jetzt zuerst an«, beschloss Axel Häferle.

      *

      Die Brunners hatten draußen gesessen und gerade die Sternenbilder am Himmel betrachtet, als das Telefon klingelte. Jetzt war der Landarzt aus dem Flur zurück und erzählte seiner Frau, wer angerufen hatte.

      »Herr Häferle will unseren Wachtmeister benachrichtigen. Der hat einen ausgebildeten Schäferhund. Ich habe Angelas Vater zugesichert, dass ich in einer Viertelstunde bei ihnen bin und mich mit Lump an der Suche beteilige.«

      Da sprang Ulrike auf. »Ich gehe auch mit. Wir brauchen genügend Taschenlampen.«

      »Wir haben die Spots für die Treibjagd, die leuchten das Gelände meilenweit aus«, sagte Matthias. »Übrigens, Christian Kofler kommt auch. Er hat sich ebenfalls Sorgen um Angela gemacht.«

      »Hoffentlich ist dem Madel nichts passiert«, murmelte seine Frau, als sie sich nebeneinander im Flur die Jacken überzogen. »Soll ich dir was sagen?« Sie hielt in der Bewegung inne und sah ihren Mann mit blitzenden Augen an. »Vorausgesetzt, Angela taucht wohlbehalten wieder auf, gönne ich den Häferles diese Aufregung von Herzen. Vielleicht trägt dieser Abend dazu bei, dass sie endlich zur Vernunft kommen und einsehen, was sie alles falsch gemacht haben.«

      Der Landdoktor musste lachen. »Ich wusste gar nicht, dass du so herzlos und brutal bist.«

      »Ist doch wahr«, knurrte da sein Lockenköpfle.

      *

      Zehn Minuten


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