DECEMBER PARK. Ronald Malfi

DECEMBER PARK - Ronald  Malfi


Скачать книгу
zu verlieren, wandte sich Adrian um und brachte mich zur Tür. Er drehte den Türknauf mit beiden Händen, wie kleine Kinder es tun, und als er die Tür aufzog, sah es so aus als wiegte sie eine halbe Tonne. Es war, als würde man jemandem beim Öffnen eines Banktresorraums zusehen.

      »Also dann«, verabschiedete ich mich und trat hastig zur Tür hinaus, »bis die Tage.«

      »Hey«, hielt er mich noch auf. »Tut es weh? Dein Gesicht, meine ich.«

      »Nein, nicht wirklich. Ist nur irgendwie ziemlich peinlich.«

      »Warte hier«, meinte er knapp, wirbelte herum und stürmte die Treppe hinauf, bevor ich einen Ton von mir geben konnte.

      Ich drehte mich um und beobachtete Horden von Hexen, Geistern, Ghulen und Kobolden die Straße auf und ab wandern. Gemessen an all dem, was seit dem Verschwinden von William Demorest im August passiert war, bekamen ihre vergnügten Schreie einen finsteren Beigeschmack.

      Adrian kehrte zurück und hielt etwas in der Hand. »Sorry«, stieß er atemlos hervor. »Hab es nicht gleich auf Anhieb gefunden.« Er streckte mir den Gegenstand hin und ich nahm ihn. Es war ein Paar Plastikzähne, ziemlich gelb und verfault und übersät mit kleinen Plastikinsekten. »Das sind Zombiezähne.«

      »Ja?«

      »Du kannst sie tragen, wenn du die Tür aufmachst und Süßigkeiten verteilst. Dann muss dir dein Gesicht nicht peinlich sein. Die Leute werden denken, es ist Teil deiner Verkleidung.«

      »Oh.« Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. »Echt gute Idee. Danke.«

      »Gerne«, erwiderte er.

      »Bis dann.« Ich hopste von der Veranda und ging durch seinen Vorgarten. Als ich noch einmal über die Schulter zurückblickte, bemerkte ich, dass er noch in der Tür stand und mir hinterher sah. Sein Blick folgte mir auch noch, bis ich durch meine Haustür verschwunden war.

      KAPITEL FÜNF

      Im Schatten

      Nach meiner Auseinandersetzung mit Mr. Naczalnik wurde ich der Englischklasse von Mr. Mattingly zugewiesen. Mr. Mattingly war das absolute Gegenteil des langweiligen Naczalnik; er war jung und sah mehr wie ein Lacrosse-Spieler als ein Highschool-Lehrer aus. Er sprach mit seinen Schülern, als wäre er einer von ihnen. Es war sein erstes Jahr als Lehrer und sein leichter Südstaatenakzent verlieh ihm etwas genauso Fremdländisches und Interessantes, wie man es sonst nur bei jemandem vom anderen Ende der Welt empfinden würde. Ich mochte ihn sofort.

      An diesem Montag saß ich bereits gut vierzig Minuten in Mr. Mattinglys Unterricht, bevor mir überhaupt auffiel, dass sich Adrian Gardiner ebenfalls im Raum befand und an einem der hinteren Tische saß. Seine Anwesenheit überraschte mich. Er sah hier völlig fehl am Platz aus – wie ein Geist, der gerade vom Friedhof hereinspaziert war. Als sich unsere Blicke trafen, senkte er hastig den Kopf und starrte seine Tischplatte an. Ich drehte mich wieder zurück nach vorne. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund bereitete mir seine Anwesenheit Unbehagen.

      Als es zum Ende der Stunde läutete, rechnete ich damit, dass mir Adrian hinausfolgte, aber er tat es nicht. Er packte seine Bücher zusammen, schulterte seinen lächerlich überdimensionalen Rucksack und eilte rasch vor mir aus dem Klassenzimmer. Auf dem Flur verschwand er inmitten der Schülermenge.

      Am darauffolgenden Tag grüßte ich ihn, als ich auf dem Weg zu meinem Tisch an seiner Reihe vorbeikam. Von seinem Platz aus starrte er mich perplex hinter seinen dicken Brillengläsern hervor an. Als er mich erkannte, zeigte er mir ein angedeutetes Lächeln, hinter dem keinerlei Emotion zu liegen schien.

      Die nächsten fünfundfünfzig Minuten über fragte ich mich, ob Adrian nach der Stunde wohl auf mich zukommen würde. Aber wieder: Sobald es läutete, stand er auf und war auch schon durch die Tür auf und davon. Die Tatsache, dass er mich ignorierte, störte mich seltsamerweise mehr, als wenn er sich mir an die Fersen geklebt hätte und mir wie ein Welpe hinterhergedackelt wäre.

      Eines Nachmittags, bevor der Unterricht anfing, marschierte ein Junge namens George Drexler zu Adrians Platz. Adrian starrte gerade geistesabwesend auf sein Schulbuch. Drexler, ein untersetzter kleiner Arsch mit schlechten Zähnen, zeigte auf etwas, das wie eine Kritzelei am Rand einer Seite aussah und fragte: »Hey, hast du das gezeichnet?«

      Adrian blickte von seinem Buch zu Drexler auf. »Ja.« Dann lächelte er verhalten, als ob er gerade Freundschaft mit jemandem geschlossen hätte, der sein künstlerisches Talent zu schätzen wusste.

      »Cool«, bemerkte Drexler, bevor er wieder zu seinem Platz zurückkehrte. Eine halbe Minute später, als Mr. Mattingly in das Klassenzimmer kam, seine Tasche und einen Becher Kaffee von Dunkin‘ Donuts in der Hand, meldete sich Drexler. Als Mr. Mattingly ihn aufrief, platzte Drexler heraus: »Der Neue hat sein ganzes Schulbuch vollgeschmiert!«

      In der Schulkantine hielt ich immer Ausschau nach Adrian, konnte ihn aber nirgends entdecken. Gegen Ende der Woche ging ich einmal hinaus in den Innenhof. Es war ein kalter Novembertag und nur wenige Schüler waren draußen und trotzten dem Wetter, darunter größtenteils die kaputten Außenseiter, die mit dem Rest der Schülergemeinschaft nicht klarkamen. Hier war Adrian auch nicht.

      Nicht einmal auf dem Nachhauseweg von der Schule trafen meine Freunde und ich auf ihn. Adrian wohnte gleich nebenan, aber ich sah ihn in jenen ersten Wochen nie die Worth Street entlanggehen. Ein paar Mal war ich durchaus versucht, an seine Tür zu klopfen, aber der bloße Gedanke daran, noch einmal einen Fuß in dieses muffige, gruftartige Haus zu setzen, verpasste mir eine Gänsehaut, die Blindenschrift Konkurrenz gemacht hätte.

      »Bist du ihm schon mal begegnet?«, erkundigte sich Peter eines Nachmittags, während wir von der Schule nach Hause gingen.

      »Bin ich. Grandma hat mich an dem Tag, als sie eingezogen sind, mit einem Teller Keksen zu ihnen rübergeschickt. Er sitzt auch mit mir im Englischunterricht.«

      »Wie ist er so?«

      »Irgendwie seltsam. Hat schon ein paar Stunden versäumt.«

      »Dein Dad zwingt aber dich nicht, mit ihm abzuhängen, oder?«

      »Machst du Witze? Nie im Leben werde ich mit dem abhängen. Der Kleine ist ein Spasti.«

      Tatsächlich verlor mein Vater nie ein Wort über die neuen Nachbarn. Er war nicht nur überarbeitet, sondern hatte um die Feiertage herum auch seinen absoluten Tiefpunkt. Dass Charles nicht mehr bei uns war, lastete zu dieser Zeit des Jahres immer am schwersten auf ihm und ich ging davon aus, dass er in dieser Zeit auch viel an meine Mutter dachte.

      Wir hielten die Familientradition aufrecht, zur Butterfield-Farm hinauszufahren, wo wir Äpfel für Kuchen und bunten Mais zum Dekorieren der Haustür kauften. Doch mein Vater wandelte zwischen den Maisstängeln und goldenen Heuballen der Butterfields wie ein Geist mit einem starren, humorlosen Grinsen im Gesicht. Als er die Sachen an der Kasse bezahlte, verwickelte er Henry Butterfield nicht in ihr übliches, heiteres Geplänkel.

      Am Thanksgiving-Morgen, gerade als ich Adrian Gardiner schon völlig vergessen hatte, tauchte er an unserer Türschwelle auf und hielt einen mit Alufolie abgedeckten Teller in der Hand. »Ist Lasagne, glaube ich. Bin mir nicht sicher. Hat meine Mom gemacht.«

      Meine Großmutter nahm den Teller entgegen – es war unser Teller, auf dem ich die Kekse hinübergebracht hatte –, dann bat sie ihn herein. Der Junge stand im Flur und trat von einem Fuß auf den anderen. Sein Ski-Parka war ihm um die Schultern viel zu eng, während die Brille für sein Gesicht viel zu groß aussah.

      »Wie kommst du in der Schule zurecht?«, erkundigte ich mich bei ihm.

      »Ganz okay.«

      »Gefällt’s dir?«

      »Sicher.«

      »Ist es recht viel anders als Chicago?«

      »Denke schon.«

      »Was ist mit der Stadt? Ich wette, das ist total anders als in einer Metropole zu leben.«

      »Ja.«

      »Vermisst du deine Freunde?«


Скачать книгу