Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf

Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf


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Der Hirtenhund ging neben der Herde, aber da war weder ein Hirtenjunge noch eine Sennerin bei dem Vieh.

      Es schnitt dem Propst ins Herz, als er die zahmen Tiere so geradeswegs auf die Raubtiere zukommen sah. Er war schon im Begriff, sich ihnen in den Weg zu stellen und ihnen zuzurufen, daß sie innehalten sollten, aber er sah ja ein, daß es in keines Menschen Macht stand, die Schritte der Tiere in dieser Nacht zu hemmen, und so verhielt er sich denn ruhig.

      Es war ganz klar, daß die zahmen Tiere sich vor dem ängstigten, dem sie entgegengingen. Sie sahen bange und unglücklich aus. Selbst die Glockenkuh kam mit hängendem Kopf und zögerndem Schritt daher. Die Ziegen hatten weder Lust zum Spielen noch zum Bocken. Die Pferde bemühten sich, mutig zu scheinen, aber sie zitterten am ganzen Leibe vor Angst. Am jammervollsten aber sah der Hirtenhund aus. Er hatte den Schwanz eingezogen und kroch beinahe am Boden hin.

      Die Glockenkuh führte die Schar bis dicht an den Waldkönig, der auf dem Felsblock oben auf dem Gipfel des Berges stand. Sie ging rings um ihn herum, kehrte dann aber um, ohne daß nur eines der wilden Tiere sie angerührt hätte. Auf die gleiche Weise wanderte die ganze Herde unangetastet an den wilden Tieren vorüber.

      Und der Propst sah, daß der Waldgeist, als das Vieh an ihm vorüberzog, bald über dem einen, bald über dem andern seine Fackel senkte und abwärts kehrte.

      Jedesmal, wenn sich dies wiederholte, stimmten die Raubtiere ein lautes und freudiges Gebrüll an, namentlich wenn sich die Fackel über einer Kuh oder sonst einem größeren Tier gesenkt hatte; das Tier aber, das die Fackel über sich herabsinken sah, stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, als habe man ihm ein Messer in den Leib gepreßt, und die ganze Schar, zu der es gehörte, brach gleichfalls in ein Klagegeschrei aus.

      Und plötzlich wurde es dem Propst klar, was er hier sah. Er hatte ja schon davon gehört, daß sich die Tiere in Delsbo in jeder Neujahrsnacht auf dem Blacksaasen versammelten, damit der Waldkönig die Haustiere bezeichnete, die im Laufe des Jahres die Beute der Raubtiere werden sollten. Er empfand das größte Mitleid mit dem armen Vieh, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, obwohl es ja keinen andern Herrn haben sollte als den Menschen.

      Kaum war die erste Herde abgezogen, als abermals Kuhglocken unten vom Walde her ertönten, und der Viehbestand eines anderen Hofes den Berg hinaufgewandert kam. Sie kamen in derselben Ordnung daher wie der erste Zug und gingen auf den Waldkönig zu, der strenge und ernsthaft dastand und ein Tier nach dem andern als dem Tode verfallen bezeichnete. Und dieser Herde folgte ohne Aufenthalt eine Schar nach der andern. Einige davon waren so klein, daß sie nur aus einer einzigen Kuh und einigen Schafen bestanden, andere nur aus ein paar Ziegen. Diese kamen offenbar aus armen, kleinen Waldhütten, aber zum Waldkönig hin mußten sie alle, und er schonte keine von ihnen.

      Der Propst dachte an die Bauern in Delsbo, die ihre Haustiere so lieb hatten. Wenn sie dies nur wüßten, würden sie es sicher nicht so weiter gehen lassen,’ dachte er. › Sie würden eher ihr eigenes Leben wagen, als ihr Vieh zwischen Bären und Wölfen gehen lassen, um sich ihr Todesurteil von dem Waldkönig zu holen.‹

      Die letzte Schar, die daherkam, war das Vieh vom Pfarrhofe. Der Propst konnte schon von weitem die Glocke der Glockenkuh erkennen, und das tat das Pferd offenbar ebenfalls. Es zitterte an allen Gliedern und stand in Schweiß gebadet da. ›Ja, jetzt kommt also die Reihe an dich an dem Waldkönig vorüberzugehen und dir dein Urteil zu holen,‹ sagte der Propst zu dem Pferde. ›Fürchte dich aber nicht! Ich verstehe sehr wohl, warum du mich hierhergeführt hast, und ich werde dich nicht im Stich lassen.‹

      Der schöne Viehbestand vom Pfarrhofe kam jetzt in einer langen Reihe aus dem Walde heraus und ging auf den Waldkönig und die wilden Tiere zu. Den Beschluß machte das Pferd, das seinen Herrn den Blacksaasen hinaufgetragen hatte. Der Propst stieg nicht ab, sondern blieb sitzen und ließ sich von dem Tier zu dem Waldkönig tragen.

      Er hatte weder eine Flinte noch ein Messer, um sich zu verteidigen. Aber er hatte die Agende herausgeholt und drückte sie fest gegen seine Brust, als er sich nun auf den Kampf mit dem Zauberer einließ.

      Zu Anfang schien es, als habe niemand ihn bemerkt. Ganz so wie die andere Herde wanderte auch das Vieh vom Pfarrhof an dem Waldkönig vorüber. Der Waldkönig ließ die Fackel auf keins der Tiere herabsinken. Erst als das kluge Pferd kam, machte er eine Bewegung, als wolle er es für den Tod kennzeichnen.

      Im selben Augenblick aber hob der Propst die Agende in die Höhe, und der Fackelschein fiel auf das Kreuz, das den Einband des Buches zierte. Der Waldkönig stieß einen lauten, gellenden Schrei aus, die Fackel entfiel seiner Hand und lag am Erdboden.

      Die Flamme erlosch augenblicklich, und in dem plötzlichen Übergang von Licht und Dunkel konnte der Propst nichts sehen. Er hörte auch nichts. Rings um ihn her herrschte dasselbe tiefe Schweigen wie immer im Winter in der Wildnis.

      Da teilten sich plötzlich die schweren Wolken, die den Himmel bedeckten, und durch den Riß trat der Vollmond und warf seine Strahlen auf die Erde herab. Und nun sah der Propst, daß er und das Pferd ganz allein auf dem Gipfel des Blacksaasen standen. Nicht ein einziges von den wilden Tieren war mehr da. Die Erde war zerstampft von den vielen Viehherden, die darüber hingewandert waren. Er selbst aber saß da, die Agende in den ausgestreckten Händen, und das Pferd, das ihn trug, zitterte und war in Schweiß gebadet.

      Als der Propst wieder den Berg hinabgeritten war und auf seinem Hof anlangte, wußte er nicht recht, ob das, was er gesehen hatte, ein Traum gewesen war oder eine Vision oder Wirklichkeit. Daß es aber eine Mahnung für ihn war, an das arme Vieh zu denken, das sich in der Gewalt der wilden Tiere befand, das verstand er. Und er predigte den Bauern von Delsbo so nachdrücklich, daß zu seiner Zeit alle Wölfe und Bären hier im Kirchspiel ausgerottet wurden, – wenn sie auch vielleicht zurückgekommen sein können, nachdem er heimgegangen war.«

      Hier endete Bernhard seine Geschichte. Alle fanden, daß sie ausgezeichnet war, und es schien eine abgemachte Sache, daß er den Preis bekommen würde. Die meisten fanden, daß Klement zu bedauern sei, weil er den Wettstreit mit Bernhard aufnehmen sollte.

      Klement aber begann unverzagt: »Eines Tages ging ich auf Skansen vor Stockholm und hatte Heimweh,« sagte er, und dann erzählte er von dem Männlein, das er freigekauft hatte, damit es nicht in einen Käfig gesperrt und wie ein wildes Tier zur Schau gestellt werden solle. Und er erzählte weiter, wie er kaum diese gute Tat getan hatte, als er auch schon dafür belohnt wurde. Er erzählte und erzählte, und das Staunen der Zuhörer wuchs beständig und als er schließlich bis zu dem königlichen Lakai und dem schönen Buch kam, ließen alle Sennerinnen ihre Arbeit in den Schoß sinken und starrten unbeweglich Klement an, der so merkwürdige Dinge erlebt hatte.

      Sobald Klement geendet hatte, sagte die Sennerin, er solle das Halstuch haben. »Bernhard hat etwas erzählt, was ein anderer erlebt hat, Klement aber hat selbst ein wirkliches Abenteuer erlebt, und das scheint mir mehr zu sein,« sagte sie.

      Darin stimmten sie alle mit ihr überein. Sie betrachteten Klement nun, wo sie erfahren hatten, daß er mit dem König geredet hatte, mit ganz andern Augen als bisher, und der kleine Spielmann wagte kaum zu zeigen, wie stolz er sich fühlte. Aber mitten in der großen Begeisterung fragte ihn plötzlich jemand, was er denn mit dem kleinen Wicht gemacht habe.

      »Ich hatte keine Zeit, ihm den blauen Napf selbst hinzustellen;« sagte Klement. »Aber ich habe den alten Lappen gebeten, es zu tun. Was später aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.«

      Kaum hatte Klement dies gesagt, als ein kleiner Tannenzapfen geflogen kam und ihn an die Nase traf. Er kam nicht aus den Bäumen, und er kam auch nicht von einem Menschen. Es war nicht zu begreifen, woher er kam.

      »Ha, ha, Klement!« lachte die Sennerin. »Es scheint, daß die Männlein hören, was wir sprechen. Ihr hättet es gewiß nicht einem andern überlassen sollen, ihm das Essen in dem blauen Napf hinzustellen!«

      XL. In Medelpad

       Inhaltsverzeichnis

      


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