Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
der vom Himmel herabgefallen war.
»Den haben die wilden Gänse verloren!« sagte der kleine Mads.
Das Gänsemädchen Aase stand lange still und sann über den Fund nach. Schließlich sagte sie ruhig und nachdenklich: »Weißt du wohl noch, kleiner Mads, als wir am Övedkloster vorbeikamen, hörten wir davon reden, daß sie auf einem Bauerhof einen Kobold gesehen hatten, der lederne Hosen angehabt hatte und Holzschuhe an den Füßen, ganz wie ein Arbeitsmann? Und weißt du noch, als wir nach Vittskövle kamen, erzählte ein kleines Mädchen, sie habe einen alten Kobold mit Holzschuhen gesehen, der sei auf dem Rücken einer Gans davongeflogen? Und als wir selber nach unserm Hause heimkehrten, kleiner Mads, da sahen wir ja einen Wicht, der so gekleidet war, und der auch auf eine Gans hinaufkroch und davonflog. Vielleicht war das derselbe, der jetzt da oben in der Luft auf seiner Gans geritten kam und seinen Holzschuh verlor?«
»Ja, so ist es gewiß,« sagte der kleine Mads.
Sie drehten und wendeten den Holzschuh und untersuchten ihn genau, denn nicht jeden Tag findet man den Holzschuh eines Koboldes auf der Landstraße.
»Warte einmal, kleiner Mads, warte einmal!« sagte das Gänsemädchen Aase. »Hier auf der einen Seite steht ja etwas zu lesen.«
»Ja, da steht etwas. Aber die Buchstaben sind so klein!«
»Laß mich einmal sehen! Ja, da steht… Da steht: Niels Holgersen aus W.-Vemmenhög.«
»Das ist doch das merkwürdigste, was ich jemals gehört habe,« sagte der kleine Mads.
XXI. Die Geschichte von Karr und Graufell
Kolmården.
Nördlich von Bråviken, gerade auf der Grenze zwischen Ostgotland und Sörmland, erhebt sich ein Berg, der mehrere Meilen lang und über eine Meile breit ist. Hätte er eine Höhe, die seiner Länge und Breite entspräche, so würde er der schönste Berg sein, den man sich denken kann; aber die hat er nicht.
Es kann zuweilen geschehen, daß man ein Gebäude antrifft, das von Anfang an so groß angelegt ist, daß sein Besitzer es nicht hat vollenden können. Wenn man ganz nahe herankommt, sieht man dicke Grundmauern, starke, gewölbte Bogen und tiefe Keller, aber da sind weder Mauern noch Dach; das Ganze erhebt sich nur einige Fuß hoch über der Erde. Man kann fast nicht umhin, beim Anblick dieses Berges an so ein verlassenes Gebäude zu denken, denn es sieht fast so aus, als sei er bestimmt, mächtige, hohe Berghallen zu tragen. Alles ist gewaltig und jedes ist groß angelegt, aber es hat keine rechte Höhe oder Haltung. Der Baumeister ist müde geworden und hat die Arbeit aufgegeben, ehe er dazu gelangt war, die steilen Felsklippen und die spitzen Gipfel und scharfen Abhänge aufzuführen, die sonst als Mauern und Dach auf den fertiggebauten Bergen stehen.
Aber gleichsam als Ersatz für Klippen und Kuppen ist der große Berg zu allen Zeiten mit hohen, mächtigen Bäumen bedeckt gewesen. Eichen und Linden an den äußeren Rändern und in den Talschluchten, Birken und Erlen um die Seen herum, Fichten oben auf den steilen Absätzen und Tannen überall, wo sie nur eine Handvoll Erde finden, in der sie wachsen können. Alle diese Bäume im Verein bildeten einen großen Wald, den Kolmård, der in alten Zeiten so gefürchtet war, daß jeder, der ihn notgedrungen durchwandern mußte, sich Gott empfahl und sich darauf vorbereitete, daß seine letzte Stunde gekommen sei.
Es ist jetzt so lange her, seit der Kulmård ein Wald wurde, daß es unmöglich ist, zu sagen, wie es kam, daß er so ward, wie er wurde. Er hatte sicher zu Anfang eine schwere Zeit auf dem harten Berggrund, und er wurde abgehärtet, weil er gezwungen war, sich festen Fuß zwischen nackten Felsklippen und Nahrung aus magerem Kies zu suchen. Es erging ihm wie so manch einem, der in jungen Tagen Böses leiden muß, aber groß und stark wird, wenn er heranwächst. Als der Wald ausgewachsen war, hatte er Bäume, die drei Klafter im Umkreis waren, die Zweige der Bäume waren zu einem undurchdringlichen Netz zusammengeflochten, und die Erde war mit harten, glatten Baumwurzeln durchwoben. Er war ein vorzüglicher Aufenthaltsort für wilde Tiere und Räuber, die wußten, wie man kriechen und klettern und sich winden mußte, um sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Aber für andere besaß er keine besondere Anziehungskraft. Er war dunkel und kalt, wegelos und irreleitend, dicht und stechend, und die alten Bäume mit ihren bärtigen Zweigen und moosbewachsenen Stämmen glichen Kobolden.
In der ersten Zeit, als die Leute begannen, sich in Sörmland und Ostgotland niederzulassen, war da fast überall Wald, aber in den fruchtbaren Tälern und den Ebenen wurde er bald ausgerodet. Niemand dahingegen machte sich etwas daraus, im Kolmård, der auf magerem Berggrund wuchs, zu fällen. Aber je länger er Erlaubnis erhielt, unberührt zu stehen, um so stärker wurde er. Er war wie eine Festung, deren Mauern von Tag zu Tag dicker wurden, und wer durch die Waldmauer hindurch wollte, der mußte eine Axt zu Hilfe nehmen.
Andere Wälder sind oft bange vor den Menschen, vor dem Kolmård aber mußten die Menschen bange sein. Er war so dunkel und so dicht, daß Jäger und Besenbinder sich einmal über das andere darin verirrten und nahe daran waren umzukommen, ehe es ihnen gelang, sich aus der Wildnis herauszuarbeiten. Und für die Reisenden, die gezwungen waren, von Ostgotland nach Sörmland, oder umgekehrt, zu ziehen, war der Wald geradezu lebensgefährlich. Sie mußten sich mühselig auf schmalen Wildpfaden vorwärtsarbeiten, denn die Grenzbevölkerung war nicht einmal imstande, einen gebahnten Weg durch den Wald instand zu halten. Da waren weder Brücken über die Bäche noch Fähren über die Seen oder Dämme über die Moore. Und im ganzen Walde war auch nicht eine Hütte, in der friedliche Leute wohnten, während es genug Räuberhöhlen und Gruben mit wilden Tieren gab. Nicht viele kamen mit heiler Haut durch den Wald, um so mehr aber stürzten in Abgründe oder versanken in Sümpfe, wurden von Räubern geplündert oder von wilden Tieren gejagt. Aber auch die Leute, die außerhalb des Waldes wohnten und sich nie dahinein wagten, hatten Ärger von ihm, denn beständig kamen Bären und Wölfe aus dem Kolmård herab und nahmen ihr Vieh. Und es war unmöglich, die wilden Tiere auszurotten, so lange sie sich in dem dichten Walde verstecken konnten.
Es herrscht kein Zweifel darüber, daß sowohl die Ostgotländer als auch die Sörmländer den Kolmård gern los sein wollten, aber damit ging es nur langsam, solange anderwärts brauchbarer Boden war.
Nach und nach fing man doch an, ihn zu bewältigen. Auf den Bergabhängen rings um den Hochwald selbst wuchsen Höfe und Dörfer empor. Der Wald wurde einigermaßen fahrbar, und bei Krokek, mitten in die ärgste Wildnis hinein, bauten die Mönche ein Kloster, in dem die Reisenden eine sichere Zufluchtsstätte fanden.
Der Wald blieb aber trotzdem mächtig und gefährlich, bis ein Wanderer, der in das tiefe Dickicht hineingedrungen war, eines Tages zufällig entdeckte, daß Erz in dem Berge war, auf dem der Wald wuchs. Und sobald dies bekannt wurde, eilten Grubenarbeiter und Bergleute in den Wald, um diese Schätze zu finden.
Und nun kam das, was die Macht des Waldes brach. Die Menschen schaufelten Gruben, sie bauten Schmelzöfen und Bergwerke in dem alten Walde. Aber das hätte dem Walde keinen ernsten Schaden zuzufügen brauchen, wenn nicht eine so ungeheure Menge Holz und Kohle zu dem Bergwerkbetriebe erforderlich gewesen wäre. Köhler und Holzhauer hielten ihren Einzug in den alten düstern Urwald und machten ihm so ungefähr den Garaus. Rings um die Bergwerke herum wurde er abgehauen, und dort machte man den Erdboden urbar für Ackerland. Viele Ansiedler zogen da hinauf, und bald standen mehrere neue Dörfer mit Kirche und Pfarrhof dort, wo bisher nur der Bär sein Winterlager gehabt hatte.
Selbst da, wo sie den Wald nicht ganz ausgerodet hatten, fällten sie alle alten Bäume und hauten Wege durch die dichte Wildnis. Überall wurden Wege angelegt, und die wilden Tiere und die Räuber verjagt. Als die Menschen endlich Herren über den Wald wurden, gingen sie entsetzlich übel damit um: sie hauten Bäume um, brannten Kohlen und zerstörten alles rücksichtslos. Sie hatten ihren alten Haß gegen den Wald nicht vergessen, und nun hatte es den Anschein, als wollten sie ihn ganz vernichten.
Es war ein Glück für den Wald, daß