Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
vor sich. Es sah altmodisch und traulich aus, und dem Jungen wurde ganz schwer ums Herz, als sie über den Hof flogen und er daran dachte, wie es sein würde, nach beendeter Tagesreise auf so einen Hof zu kommen, statt in einem seichten Moor oder auf einer kalten Eisfläche abgesetzt zu werden.
Aber davon konnte natürlich keine Rede sein. Die Wildgänse ließen sich dahingegen ein Stück nördlich von dem Schloß auf einer Waldwiese nieder, die so von Wasser überschwemmt war, daß nur hier und da einige Grasbüschel hervorragten. Es war dies so ungefähr das elendste Nachtlager, das der Junge auf der ganzen Reise gehabt hatte.
Er blieb auf dem Rücken der Gans sitzen und wußte nicht recht, wie er sich einrichten sollte. Dann begann er von einem Grasbüschel auf den anderen zu hüpfen, in langen Sprüngen, bis er festen Grund unter den Füßen hatte, und dann lief er schnell nach der Seite, wo das alte Schloß lag.
Nun traf es sich so, daß in einem Hause, das zu Store Djulö gehörte, gerade an diesem Abend einige Menschen um den Feuerherd beisammen saßen und plauderten. Sie hatten über die Predigt gesprochen und über die Frühjahrsbestellung und das Wetter, und als der Unterhaltungsstoff auszugehen drohte, baten sie eine alte Frau, die Mutter des Häuslers, ihnen Gespenstergeschichten zu erzählen.
Nun ist es eine bekannte Sache, daß es nirgends in Schweden einen solchen Reichtum an Schlössern und an Gespenstergeschichten gibt wie in Sörmland. Die Alte hatte in ihrer Jugend auf vielen großen Gütern gedient, und sie wußte Bescheid von so mancherlei wunderlichen Dingen, daß sie bis an den lichten Morgen hätte erzählen können. Sie erzählte so gut und so glaubwürdig, daß ihre Zuhörer nahe daran waren, es alles zu glauben. Sie zuckten förmlich zusammen, als die Alte ein paarmal in ihrer Erzählung inne hielt und fragte, ob sie nichts pußeln hörten. »Könnt ihr denn nicht hören, daß hier etwas herumschleicht?« sagte sie. Aber die anderen konnten nichts hören.
Als die alte Frau Geschichten aus Eriksberg und Vibyholm und Julita und Lagmansö und aus vielen anderen Häusern erzählt hatte, fragte einer, ob sich nie etwas dergleichen auf Stör Djulö zugetragen habe. »Ja, davon ist auch allerlei zu erzählen,« sagte die Alte. Und da wollten sie dann alle die Sagen hören, die sich aus ihrem eigenen Schloß abgespielt hatten.
Und so erzählte denn die Alte, daß einstmals ein Schloß nördlich von Stör Djulö aus einem Hügel gelegen haben solle, wo jetzt nichts weiter war als Wald, und zu dem Schloß gehörte ein wunderschöner Garten. Da geschah es einmal, daß einer, der Herr Karl hieß, und der zu jenen Zeiten über ganz Sörmland regierte, nach dem Schloß kam. Und als er gegessen und getrunken hatte, ging er in den Garten hinaus und stand lange da und sah über den Store Djulösee mit seinen schönen Ufern hin. Und wie er so dastand und sich über das freute, was er sah, und bei sich dachte, ein schöneres Land als Sörmland gebe es doch nicht auf der Welt, hörte er jemand hinter sich tief seufzen. Da wandte er sich um und sah einen alten Tagelöhner, der über seinen Spaten gebeugt stand. »Bist du es, der so tief seufzt?« fragte Herr Karl. »Was hast du nur zu seufzen?« – »Ich soll wohl seufzen, daß ich hier Tag aus, Tag ein arbeiten muß,« antwortete der Tagelöhner. Aber Herr Karl hatte einen heftigen Sinn und konnte es nicht leiden, wenn Leute klagten. »Hast du keinen weiteren Grund zur Klage?« rief er. »Ich sage dir, ich würde zufrieden sein, wenn ich mein Leben lang in Sörmlands Erde graben könnte.« – »Möge es Euer Gnaden gehen, wie Ihr wünschet!« entgegnete der Tagelöhner.
Später aber sagte man, Herr Karl habe, als er tot war, wegen dieser Worte, keine Ruhe in seinem Grabe gefunden, sondern er sei jede Nacht nach Store Djulö gekommen und habe in seinem Garten gegraben. »Ja, jetzt ist da ja weder ein Schloß noch ein Garten mehr; da, wo das einstmals gelegen, ist nur ein ganz gewöhnlicher Waldhügel. Aber es kann wohl geschehen, daß wer in einer dunklen Nacht durch den Wald geht, den Garten erblickt.«
Hier hielt die Alte inne und sah aufmerksam nach einer dunklen Ecke hinüber. »Rührte sich da nicht eben etwas?« fragte sie.
»Bewahre, Mutter, erzählt Ihr nur weiter!« sagte die Schwiegertochter. »Ich sah gestern, daß die Mäuse da in der Ecke ein großes Loch genagt haben, aber ich hatte soviel anderes zu tun, daß ich vergaß, es zuzustopfen. Erzählt Ihr uns nur, ob jemand den Garten gesehen hat.«
»Ja,« sagte die Alte, »ihr müßt wissen, daß mein eigener Vater ihn einmal gesehen hat. In einer Sommernacht kam er durch den Wald gegangen, und plötzlich sah er neben sich eine hohe Gartenmauer, und über der Mauer konnte er die herrlichsten Bäume erkennen; die waren so voller Blüten und Früchte, daß die Zweige tief über die Mauer herabhingen. Mein Vater ging ganz still näher heran und konnte nicht begreifen, woher der Garten gekommen war. Da tat sich plötzlich ein Tor in der Mauer auf, und ein Gärtner kam heraus und fragte meinen Vater, ob er seinen Garten nicht sehen wollte. Der Mann hatte einen Spaten in der Hand und er trug eine große Schürze so wie andere Gärtner, und Vater wollte gerade mit ihm gehen, als er einen Blick auf sein Gesicht warf. Im selben Augenblick erkannte mein Vater die spitze Stirnlocke und den Spitzbart. Es war leibhaftig Herr Karl, so wie mein Vater ihn auf Bildern abgebildet gesehen hatte, die in all den Schlössern hingen, wo Vater …«
Hier wurde die Geschichte von neuem unterbrochen. Jetzt war es ein Scheit Holz, das sprühte, so daß Funken und glühende Kohlen auf den Fußboden flogen. Einen Augenblick wurde es hell in all den dunklen Ecken der Stube, und die Alte glaubte, einen Schimmer von einem Wicht gesehen zu haben, der neben dem Mauseloch saß und der Geschichte lauschte, sich jetzt aber beeilte davonzukommen.
Die Schwiegertochter holte Besen und Aufnehmer, fegte die glühenden Kohlen zusammen und setzte sich wieder hin. »Erzählt doch weiter, Mutter!« sagte sie. Aber die Alte wollte nicht. »Jetzt mag es genug sein für heute abend,« sagte sie, und ihre Stimme klang so sonderbar. Die anderen fuhren fort, sie zu bitten, aber die Schwiegertochter sah, daß die Alte blaß geworden war, und daß ihre Hände zitterten. »Nein, jetzt ist Mutter müde und muß zu Bett,« sagte sie.
Bald darauf kam der Junge wieder in den Wald zu den Wildgänsen zurück. Er nagte an einer Mohrrübe, die er vor dem Keller aufgelesen hatte und fand, daß er eine herrliche Abendmahlzeit bekommen hatte. Er war so froh, daß er mehrere Stunden in der warmen Stube hatte sitzen können. »Hatte ich jetzt nur ein gutes Nachtquartier,« dachte er.
Da fiel ihm ein, daß er nichts Besseres tun könne, als sein Nachtlager in einer buschigen Tanne zu suchen, die am Wege stand. Er schwang sich in den Baum hinauf und flocht ein paar Zweige zusammen, so daß er ein Bett hatte, in dem er liegen konnte.
Da lag er eine Weile und dachte an all das, was er in dem Bauerhäuschen gehört hatte, und vor allem von diesem Herrn Karl, der, wie man sagte, hier im Djulöer Walde spuken sollte. Schlief aber bald ein, und hätte sicher bis an den hellen Morgen geschlafen, wenn er nicht davon erwacht wäre, daß eine kreischende eiserne Pforte gerade unter ihm geöffnet wurde.
Der Junge ist sofort wach, reibt den Schlaf aus den Augen und sieht sich um. Ganz in seiner Nähe ist eine Mauer, so hoch wie ein Mann, und über der Mauer sieht man Bäume, die fast unter der Last ihrer Früchte brechen.
Anfänglich findet er, daß dies sehr sonderbar ist. Als er sich schlafen legte, waren da keine Obstbäume. Aber sobald er sich besonnen hat, weiß er, was für ein Garten es ist.
Das Sonderbarste von allem aber ist vielleicht, daß er gar nicht bange wird, sondern im Gegenteil eine unbezwingliche Lust empfindet, in den Garten hineinzugehen. Oben in der Tanne, wo er liegt, ist es dunkel und kalt, aber drinnen im Garten ist es hell, und es deucht ihm, als könne er Früchte und Rosen in dem starken Sonnenschein glühen sehen. Es würde gut tun, sich von der Sonne bescheinen zu lassen nach all der Kälte und dem Wind und den Regen, worunter er hat leiden müssen.
Es scheint auch nichts im Wege zu sein, daß er in den Garten kommen kann. Dicht neben der Tanne, wo der Junge liegt, ist ein Tor in der hohen Mauer, und ein alter Gärtner hat gerade die großen, eisernen Türen geöffnet. Nun steht er im Tor und sieht unverwandt in den Wald hinein, als erwarte er jemand.
Sofort ist der Junge vom Baum herunter. Er geht, die Mütze in der Hand, auf den Gärtner zu, verbeugt sich und fragt, ob es erlaubt ist, den Garten zu besehen.
»Bitte schön,« antwortet