Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Beckys Blick ruhte auf den weißen Fliesen des Badezimmers. Sie fröstelte, und ein Schauer rann ihr über den Rücken. Das lag nicht an der Kälte. Um diese Jahreszeit war es angenehm warm. Es lag daran, dass sie sich nie zuvor so einsam und allein gefühlt hatte wie in diesem Augenblick. Sie stand auf, stellte das Glas zurück auf den Rand des Waschbeckens. Dabei streifte ihr Blick noch einmal ihr Spiegelbild.
»Du warst feige, und jetzt zahlst du den Preis dafür«, erklärte sie unbarmherzig. »Wenn Danny Norden dir nicht helfen kann, wirst du allein sterben.«
»Würde es dir etwa gefallen, wenn jemand deinetwegen weinen müsste?«, fragte ihr Spiegelbild mit einem Anflug von Trotz zurück.
Verlegen zupfte Becky mit den Zähnen an der Unterlippe.
»Ja!«, musste sie dann zugeben. Und weil sie das nicht hören wollte, flüchtete sie schnell aus dem Badezimmer und zurück ins Bett, in dem sie sich lange herumwälzte, bis sie endlich wieder in den Schlaf finden konnte.
*
Während sich das Schiff für den Aufbruch rüstete, sank die Sonne allmählich in Richtung Horizont. Trotzdem zog es Felix Norden bei seinem ersten Erkundungsgang hinaus aufs Sonnendeck. Zufrieden stellte er fest, dass er mit seiner Vermutung richtig lag.
»Na bitte. Hier tummelt sich alles, was jung und sportlich ist.« Tatsächlich lagen nur wenige Passagiere älteren Semesters zugedeckt auf den Deckchairs am Rand des Geschehens oder lehnten an der Reling.
Es war noch angenehm warm, sodass die Poollandschaft gut besucht war. Viele junge Leute tobten im Wasser, sprangen von Türmen oder schlitterten johlend über die Rutschen hinab ins erfrischende Nass. Auf der Laufstrecke, die am äußersten Rand um das ganze Deck herumführte, bemerkte Felix ein paar hübsche Mädchen.
Besonderer Anziehungspunkt aber war die Poolbar, an der sich die Sportler nach dem Training erfrischen konnten. Der Blick des Arztsohnes wanderte an all den Jugendlichen entlang und blieb schließlich an einem Mädchen hängen, das ein wenig abseits auf einem Barhocker saß und das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachtete. Er wusste sofort, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Um sie aber nicht in Verlegenheit zu bringen und ihre Bekanntschaft von vornherein zum Scheitern zu verurteilen, versuchte er es mit einer anderen Einleitung.
»Die Eltern, die kein All-inclusive-Paket gebucht haben, können sich am Ende des Urlaubs bestimmt auf die Abrechnung freuen«, sagte er und stellte sich neben ihren Barhocker. Erst jetzt hatte er Gelegenheit, sie genau zu mustern und herauszufinden, woher ihre Anziehung rührte.
Das Mädchen war keine Schönheit im klassischen Sinn. Sie hatte blonde Haare, die sie zu lockeren Zöpfen geflochten hatte. Ihre Nase war schmal und ein wenig gebogen und der Mund eine Spur zu groß. Die grauen Mandelaugen standen leicht schräg und musterten ihn argwöhnisch.
»Ist das eine neue Kreuzfahrt-Anmach-Masche?«, fragte sie herablassend und ohne den Hauch eines Lächelns. »Die kenne ich noch gar nicht.«
Felix sah sie erstaunt an.
»Keine Ahnung, was hier so üblich ist.« Er zuckte mit den Schultern. Mit dieser Frage hatte sie ihn aus dem Konzept gebracht. »Ich mache zum ersten Mal eine Kreuzfahrt.«
Das Mädchen musterte ihn von oben bis unten. »Na, dann viel Spaß. Aber ich muss dich warnen. Mit solchen Sprüchen machst du dir hier keine Freunde. Die Leute hier haben Geld. Die kümmern ein paar Dollars für einen Drink nicht«, erklärte sie ihm eine der Regeln, die an Bord galten.
Felix schluckte. Nie zuvor hatte ihn ein fremdes Mädchen so zurechtgestutzt. Im Normalfall war seine Wirkung in der Frauenwelt eine andere. Damit musste er erst einmal klarkommen.
»Klingt danach, als ob du auch zur Kreuzfahrt-High-Society gehörst«, sagte er ihr auf den Kopf zu und winkte den Kellner herbei. »Darf ich dich auf einen Drink einladen?«
»Damit deine Eltern am Ende des Urlaubs in Ohnmacht fallen?«, spottete sie. »Nein, danke. Ich will dich ja nicht in Schwierigkeiten bringen.«
»Tust du nicht.«
»Ich sag trotzdem nein«, beharrte sie und sah demonstrativ in die andere Richtung.
Wenn sie gehofft hatte, ihren Verehrer damit loszuwerden, hatte sie sich getäuscht.
Ihre spröde Art bewirkte das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigte. Sie stieß Felix nicht etwa ab, sondern forderte den Jäger in ihm nur noch mehr heraus.
»Schade.« Er sah hinüber zur Bar, wo in Kühlern allerlei leckere Fruchtsäfte gerührt wurden. »So ein Mangosaft ... oder das Zitronensorbet sieht auch nicht schlecht aus.«
Das Mädchen hob eine Augenbraue und schielte hinüber.
»Das ist Sgroppino. Ein italienischer Aperitif aus Limonensorbet, Wodka und Prosecco«, korrigierte sie den Arztsohn sichtlich gelangweilt.
»Na, mit der Barkarte kennst du dich aber auch ziemlich gut aus.« Allmählich ärgerte sich Felix. Konnte er eigentlich gar nichts richtig machen?
Unterdessen dachte das Mädchen nach. Eine Idee war ihr in den Sinn gekommen, und sie beschloss, sie sofort in die Tat umsetzte.
»Klar. Ich verbringe ja auch alle meine Ferien auf einem Kreuzfahrtschiff«, schwindelte sie so nonchalant, dass Felix keinen Zweifel an der Wahrheit ihrer Worte hatte. »Meine Eltern besitzen mehrere Immobilienfirmen. Da bekommen sie so viele Villen zu Gesicht, dass sie in ihrer Freizeit keine Häuser mehr sehen können«, winkte sie lässig ab.
»Verständlich«, erwiderte der Arztsohn und überlegte fieberhaft, wie er seine Bekanntschaft beeindrucken konnte, als er von unerwarteter Seite aus seiner Not befreit wurde.
Eine Frau, die auf der anderen Seite an die Bar getreten war, winkte zu ihnen herüber. Sofort machte sie sich auf den Weg zu den jungen Leuten.
»Da bist du ja, Lilli. Ich hab dich überall gesucht«, begrüßte Nele ihre Tochter. Die verdrehte die Augen. Doch da wandte sich Nele schon an den Arztsohn. »Du hast ja schon jemanden kennengelernt, wie nett.« Sie hielt Felix die Hand hin. »Nele Forberg.«
»Felix Norden.« Während er Nele die Hand schüttelte, deutete er einen Diener an. Er hatte sie sofort erkannt und nutzte diesmal die Chance für einen Gesprächseinstieg. Inzwischen hatte er nichts mehr zu verlieren. »Bitte entschuldigen Sie die Frage, aber sind Sie nicht die Dame, die gestern Abend im Empire State Building vom Balken gefallen ist?« Er musterte sie mit schief gelegtem Kopf.
Nele schoss das Blut in die Wangen, während Lilli ihn fassungslos anstarrte.
»Oh … das … das hast du mitbekommen?« Nele lachte hilflos. »Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.«
»Hauptsache, Sie haben sich nicht verletzt«, beeilte sich Felix zu versichern. »Es tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe. Das wollte ich nicht.«
»Schon gut«, versicherte Nele und winkte ab. »Außer ein paar blauen Flecken habe ich nichts abbekommen.«
»Freut mich. Mein Vater war schon drauf und dran, Sie ärztlich zu versorgen.«
Nele horchte auf.
»Dein Vater ist auch Arzt?«, erkundigte sie sich, während ihre Tochter neben ihr nach Luft schnappte. In ihrer Not wusste sich Lilli keine andere Lösung, als ihrer Mutter kräftig auf den Fuß zu treten. Vor Schmerz schrie Nele auf und fuhr zu ihr herum. »Warum tust du das?«
»Sorry, war keine Absicht«, versicherte Lilli schnell und lächelte engelsgleich. »Der Typ hinter mir hat mich angerempelt.«
Diesmal durchschaute Felix die Lüge sofort. Er bemerkte es an ihrem Blick, der dem seinen auswich. Doch eigentlich hatte er etwas anderes im Sinn.
»Mein Vater ist in der Tat Arzt«, bestätigte er Nele Forbergs Frage. »Sind Sie auch Ärztin?«
Bevor Nele antworten konnte, schaltete sich Lilli wieder in das Gespräch ein.
»Sag mal, wartet Dad nicht schon längst