Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Tadelnd schüttelte Felix den Kopf.
»Sieh mal einer an. Früher oder später kommt immer die Wahrheit ans Licht. Ihr habt also gemeinsam die Deutschstunde geschwänzt und deshalb nichts über die Geschichte gehört, die Arthur Conan Doyle über das Schicksal der Brigadine geschrieben hat«
»Gemeinsam Schule geschwänzt?«, dachte Dr. Norden laut nach. »Ausgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt kannten wir uns noch nicht«, verteidigte er sich und erntete dafür einen strafenden Blick seiner Frau.
»Die richtige Antwort wäre gewesen, dass du niemals Schule geschwänzt hast.«
»Na ja …« Das Blut, das ihm in die Wangen schoss, verriet den Arzt, und schnell wandte er sich an seinen Sohn. »Also, was war mit der Mary Celeste?«
Felix rückte ein Stück in der Schlange auf, ehe er sich mit geheimnisvollem Gesicht zu seinen Eltern wandte.
»Sie war ein zweimastiges Segelschiff, das 1872 auf halbem Weg zwischen den Azoren und Portugal verlassen im Atlantik treibend aufgefunden wurde«, raunte er. »Bis heute weiß man nicht, warum das Schiff dort trieb und was mit der Mannschaft passiert ist.« In seine Worte hinein klingelte irgendwo ein Handy.
Fee sah hinüber zu dem Mann, der das Telefon ans Ohr hielt. Sie lachte.
»Die Gefahr besteht heutzutage glücklicherweise ja nicht mehr. Selbst auf hoher See gibt es auf dem Schiff jederzeit Telefon- und Internet-Empfang«, machte sie ihren Sohn aufmerksam. »Wenn wir ein Problem haben, erfährt es die ganze Welt wahrscheinlich schneller als wir.«
»Mir scheint, da hat jemand anderer geschwänzt und die Reiseunterlagen nicht gelesen«, schlug sich Daniel gut gelaunt auf die Seite seiner Frau.
»Zwei gegen einen, das ist nicht fair!«, beschwerte sich Felix, als die Reihe auch schon an ihnen war.
Über der munteren Plauderei war die Schlange geschrumpft. Ein Gepäckträger nahm der Familie die Koffer ab, und nachdem sie ihre Buchungsunterlagen vorgezeigt hatten, bekamen sie ihre Bordpässe. Dann wurden Fotos gemacht, und wenig später fanden sie sich auf der Gangway wieder.
»O mein Gott!«, hauchte Felicitas, als sie die Lobby betrat.
Ein Atrium erstreckte sich von unten bis hinauf ins oberste Deck. Den Abschluss bildete eine Glaskuppel, die das Gefühl vermittelte, als stünde man unter freiem Himmel. Palmen und andere exotische Pflanzen umringten einen gigantischen Springbrunnen.
Alle Nordens starrten mit offenen Mündern hinauf.
Es war Felix, der als Erster die Sprache wiederfand.
»Dafür, dass ihr die Unterlagen angeschaut habt und wusstet, was euch erwartet, seid ihr ganz schön platt.«
In diesem Moment trat eine bildhübsche Frau in Uniform auf die drei zu.
»Guten Tag, meine Dame, die Herren!« Sie lächelte strahlend. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Larissa stand auf dem Namensschild an ihrem Revers.
»Sehr gern«, erwiderte Felix, bevor sein Vater die Gelegenheit zu einer Antwort hatte. Er warf sich in Pose und erwiderte Larissas Lächeln. »Können Sie uns bitte sagen, wo unsere Kabinen sind? Wir sind nämlich neu hier.«
Seine Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht. Larissas Lachen brachte Felix fast um den Verstand.
»Dieses Schicksal teilen Sie mit ungefähr 2000 Passagieren«, teilte sie ihm mit. »Aber wenn Sie mir Ihre Bordkarten geben, kann ich Ihnen weiterhelfen.«
Felix und seine Eltern hielten ihr die Plastikkarten hin, die Schlüssel und Zahlungsmittel zugleich waren.
Wenn möglich wurde das Strahlen auf Larissas Gesicht noch leuchtender.
»Ah, Sie haben die Honeymoon-Suite«, sagte sie in Fees Richtung. »Das ist eine unserer schönsten Suites.« Sie gab ihr die Karte zurück und wandte sich an Felix. »Und Sie können sich in den kommenden vierzehn Tagen in der Sunshine-Suite ganz wie zu Hause fühlen. Das ist eine Junior-Suite nicht weit von Ihren Eltern entfernt. Nehmen Sie bitte den Fahrstuhl zu Deck 10.« Sie deutete auf einen der beiden gläsernen Aufzüge, die hinter der Lobby rechts und links lautlos in die Höhe und wieder hinab schwebten. »Sie werden schon erwartet.«
Diese Nachricht beunruhigte Felix.
»Kommen Sie nicht mit?«
Larissa lachte.
»Wenn ich die anderen 1999 Gäste versorgt habe und dann noch stehen kann, werde ich mal darüber nachdenken«, versprach sie und verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern.
Felix‘ bedauernder Blick folgte ihr.
»Was für ein charmantes Mädchen«, schwärmte Fee noch, als der Aufzug sie auf Deck 10 brachte.
»Dann hast du also nichts dagegen, wenn sie deine Schwiegertochter wird?«, erkundigte sich ihr Sohn.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich lautlos, und Felix ließ seinen Eltern den Vortritt.
Eine weitere lächelnde Dame in Uniform wies ihnen den Weg. Doch diesmal hatte Felix kein Auge für ihre Schönheit. Am Ende des Flurs hatte er etwas entdeckt, was seine Aufmerksamkeit erregte.
»Schaut mal, das ist doch die Frau, die gestern Abend im Empire State Building beim Fotografieren vom Balken gefallen ist.«
Gleichzeitig drehten die Eheleute den Kopf.
»Du hast recht«, stimmte Fee ihm zu. »Ein Glück, dass ihr außer ein paar blauen Flecken nichts passiert ist.« Sie erinnerte sich gut an den Schrecken, den ihr der Sturz eingejagt hatte. Wie von einer unsichtbaren Hand geschubst, hatte die Frau plötzlich das Gleichgewicht verloren. Obwohl ihr Mann ihr noch hatte helfen wollen, war sie von dem glücklicherweise niedrigen Balken gefallen.
»Ihr Mann kommt mir irgendwie bekannt vor«, wiederholte Daniel seine Worte vom Vorabend. »Aber ich bin immer noch nicht draufgekommen, woher.«
Inzwischen hatte Felix seine Suite erreicht und machte vor der Tür Halt.
»Keine Sorge, alter Mann«, scherzte er in Richtung seines Vaters. »Vierzehn Tage sollten genügen, um deine grauen Zellen auf Trab zu bringen.« Er zwinkerte seinem Vater zu und winkte seinen Eltern, ehe er in seinem Zimmer verschwand.
Kopfschüttelnd sah Fee ihm nach.
»Wo haben wir den bloß her?«
»Adoptiert oder gar gestohlen ist er jedenfalls nicht«, erwiderte Daniel mit einem vielsagenden Blick auf seine Frau. Dann machte er sich auf den Weg zu ihrer Suite.
Felicitas folgte ihm.
»Was soll denn das schon wieder heißen? Etwa, dass er diese freche Art von mir hat?«
»Das hast du gesagt«, erwiderte Daniel und öffnete mit Hilfe der Karte die Zimmertür.
Fee dachte noch über eine passende Antwort nach, als ihr Blick in die Honeymoon-Suite fiel. Der Mund stand ihr offen vor Staunen, und beim Anblick der Pracht vergaß sie, dass sie überhaupt etwas hatte sagen wollen.
*
Während die Passagiere in New York das Schiff bestaunten, saß Rebecca Salomon in der Praxis Dr. Norden und wartete auf ihren Termin.
Ein großformatiges Foto an einer der Wände hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie musterte die Hängebrücke aus Holz, die über einen Fluss hinüber ans andere Ufer führte. Nebel tauchte die Szenerie in unwirkliches Licht. Für die anderen Wartenden war dieses Bild mit Sicherheit ein Sinnbild für Hoffnung. Für Rebecca war es beängstigend. Was wartete am anderen Ufer auf sie?
»Frau Salomon, bitte!« Ein junger Mann im weißen Kittel stand an der Tür zum Wartezimmer. Sein Blick glitt über die Patienten.
»Das bin ich.« Sie stand auf, hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und folgte ihm.
»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich Danny Norden auf dem Weg in sein Sprechzimmer.
»Das