Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
ganze Begeisterung zu den großen Einsamen, die für die Menschheit leben und an ihr zugrunde gehen, zu den Heroen jenseits der Zeiten und jenseits der Völker. Was Rolland einst im Beethoven gezeigt, im Michelangelo und später im Johann Christof, das erhebt nun die Gestalt seines Clerambault zu der schönsten tragischen Form: daß er für alle wirkt, aus der tiefsten Wahrheit seiner Natur, notwendigerweise der »l’un contre tous«, der Eine gegen Alle sein muß. Aber man braucht das Bildnis des wahren Menschen, um die Menschheit zu heben, man braucht den Helden, um daran glauben zu können, daß der Kampf um das Leben einen Sinn und eine Schönheit hat: nie hat ein Werk scheinbarer Resignation darum reiner dem ewigen Idealismus seines Schöpfers gedient.
So fügt Rolland an die Gestalten seiner irdischen Kämpfer noch die erhabenste, die irdisch-religiöse: die des Märtyrers seiner Überzeugung. Aus bürgerlicher Welt, aus dem Mittelmaß eines Menschen wächst diese Tragödie, und gerade dies ist die wunderbare moralische Größe, die von diesem Buche der Trauer ausgeht, die Tröstung, daß es jedem, und auch dem einfachsten Menschen, nicht bloß dem Genius gestattet sei, stärker zu sein als die Welt wider ihn, wenn er seinen Willen aufrecht hält, frei zu sein gegen alle und wahr gegen sich selbst. Freiheit und Gerechtigkeit, die beiden Urkräfte, die Rolland zum wirkenden Menschen seiner Zeit gemacht haben, erhebt er in dem Bildnis dieses Menschen zur höchsten Lebendigkeit, zur Lebendigkeit einer moralischen Tat, die weder die Welt noch der Tod zu zerstören vermag.
Die letzte Mahnung
Fünf Jahre lang hatte Romain Rolland im Kampf gegen den Wahnwitz der Zeit gestanden. Endlich bricht die feurige Kette um den gefolterten Leib Europas. Der Krieg ist zu Ende, der Waffenstillstand geschlossen. Die Menschen morden einander nicht mehr, aber ihre tragische Leidenschaft, der Haß, wütet weiter. Romain Rollands prophetische Erkenntnis feiert einen düstern Triumph: sein Mißtrauen gegen die Sieger, in Dichtung und Warnung immer wieder bekundet, wird noch übertroffen von einer rachsüchtigen Wirklichkeit: »Nichts widersteht dem Waffensieg schwerer als ein selbstloses Menschheitsideal, nichts ist schwieriger als im Triumph vornehm zu bleiben« – furchtbar bewährt sich dies sein Wort an der Zeit. Vergessen sind die schönen Worte vom »Sieg der Freiheit und des Rechts«, die Konferenz zu Versailles bereitet neue Vergewaltigung und neue Erniedrigung. Wo der einfältige Idealismus das Ende aller Kriege gesehen, erkennt der wahre Idealismus, der über die Menschen zu den Ideen blickt, neue Saat neuen Hasses und neuer Gewalttat.
Noch einmal in letzter Stunde erhebt Rolland die Stimme zu dem Menschen, der damals den Hoffenden als letzter Vertreter des Idealismus, als Anwalt einer absoluten Gerechtigkeit galt, zu Woodrow Wilson, der, umjauchzt von der Erwartung von Millionen, in Europa gelandet ist. Der Historiker weiß, »daß die Weltgeschichte eigentlich nichts ist als eine Kette von Beweisen, daß der Sieger jeweils übermütig wurde und damit den Keim zu neuen Kriegen legte«. Nie war, so fühlt er, moralische statt militärischer, aufbauende statt zerstörender Politik mehr vonnöten als nach dieser Weltkatastrophe, und der Weltbürger, der den Krieg schon zu erretten suchte von dem Stigma des Hasses, ringt jetzt um das Ethos des Friedens. Zu dem Amerikaner spricht der Europäer hinüber in beschwingtem Anruf: »Sie allein, Herr Präsident, von allen, denen die zweifelhafte Ehre zufiel, die Geschicke der Völker zu leiten, besitzen universelle moralische Macht. Alles bringt Ihnen Vertrauen entgegen; so erfüllen Sie diese pathetische Hoffnung! Fassen Sie die entgegengebreiteten Hände und vereinigen Sie sie… Fehlt dieser Vermittler, so werden die menschlichen Massen uneinig, ohne Gegengewicht unvermeidlich dem Exzeß anheimfallen, das Volk der blutigen Anarchie, die Parteien der Ordnung blutiger Reaktion… Erbe Washingtons und Abraham Lincolns, führen Sie in Ihrer Hand nicht die Sache eines Volkes, sondern aller Völker. Berufen Sie die Vertreter aller Völker zu einem Kongreß der Menschheit und leiten Sie ihn mit der ganzen Autorität, die Ihnen die hohe moralische Verantwortung und die mächtige Zukunft des gewaltigen Amerika verbürgt. Sprechen Sie, sprechen Sie zu allen! Die Welt dürstet nach einer Stimme, die die Grenzen der Nationen und Klassen überschwingt… Möge Sie die Zukunft mit dem Namen des Versöhners grüßen können.«
Prophetischer Anruf, aber wiederum verklungen in den Schreien der Rache. Der »Bismarckismus« triumphiert, Wort um Wort erfüllt sich die tragische Voraussage: unmenschlich wird der Friede, wie der Krieg unmenschlich gewesen. Die Humanität kann keine Heimstatt unter den Menschen finden. Wo geistige Erneuerung Europas hätte anheben können, wütet der alte verhängnisvolle Geist und: »es gibt keine Sieger, es gibt nur Besiegte«.
Das Manifest der Freiheit des Geistes
Immer wieder aber appelliert der Unerschütterliche, nach allen Enttäuschungen im Irdischen, an die letzte Instanz, an den Geist der Gemeinsamkeit. Am Tage der Unterzeichnung des Friedens veröffentlicht Romain Rolland ein Manifest in der »Humanité«. Er selbst hat es verfaßt, Gesinnungsfreunde aus allen Ländern setzen ihren Namen dazu: es will der erste Grundstein des unsichtbaren Tempels in einer stürzenden Welt werden, das Refugium aller Enttäuschten. Mit gewaltigem Griff faßt Rolland noch einmal die Vergangenheit zusammen und hebt sie der Zukunft warnend entgegen: laut und klar spricht das Wort:
»Uns, Kameraden in der Arbeit am Geiste, trennten seit fünf Jahren Armeen, Zensur, Vorschriften und der Haß kriegführender Völker. Aber heute, da die Schranken zu fallen und die Grenzen sich langsam wieder zu öffnen beginnen, wenden wir Einsamen der Welt uns mit dem bittenden Ruf an Euch, unsere einstige Genossenschaft wieder herzustellen – aber in neuer Form –, sicherer und widerstandsfähiger als früher.
Der Krieg hatte Verwirrung in unsere Reihen getragen. Fast alle Intellektuellen haben ihre Wissenschaft, ihre Kunst und ihr ganzes Denken in den Dienst der kriegführenden Obrigkeit gestellt. Wir klagen niemand an und wollen keinen Vorwurf erheben, zu gut kennen wir die Widerstandslosigkeit des Einzelnen gegenüber der elementaren Kraft von Massenvorstellungen: sie mußten alles hinwegschwemmen, da nichts vorhanden war, an dem man sich hätte halten können. Für die Zukunft jedoch könnten und sollten wir aus dem Geschehenen lernen.
Dazu aber ist es gut, sich an den Zusammenbruch zu erinnern, den die fast restlose Abdankung der Intelligenz in der ganzen Welt verschuldet hat. Die Denker und Dichter beugten sich knechtisch vor dem Götzen des Tages und fügten dadurch zu den Flammen, die Europa an Leib und Seele verbrannten, unauslöschlichen giftigen Haß. Aus den Rüstkammern ihres Wissens und ihrer Phantasie suchten sie alle die alten und auch viele neue Gründe zum Haß, Gründe der Geschichte und Gründe einer angeblichen Wissenschaft und Kunst. Mit Fleiß zerstörten sie diesen Zusammenhang und die Liebe unter den Menschen und machten dadurch auch die Welt der Ideen, deren lebendige Verkörperung sie sein sollten, häßlich, schmutzig und gemein und schufen damit aus ihr – vielleicht ohne es zu wollen – ein Werkzeug der Leidenschaft. Sie haben für selbstsüchtige, politische oder soziale Parteiinteressen gearbeitet, für einen Staat, für ein Vaterland oder für eine Klasse. Und jetzt, da alle Völker, die in diesem Barbarenkampfe gekämpft – Sieger sowohl als Besiegte – in Armut und tiefster uneingestandener Schande ob ihrer Wahnsinnstat verzweifelt und erniedrigt dastehen – jetzt scheint mit den Denkern auch der in den Kampf gezerrte Gedanke zerschlagen.
Auf! Befreien wir den Geist von diesen unreinen Kompromissen, von diesen niederziehenden Ketten, von dieser heimlichen Knechtschaft! Der Geist darf niemandes Diener sein, wir aber müssen dem Geiste dienen, und keinen andern Herrn erkennen wir an. Seine Fackel zu tragen sind wir geboren, um sie wollen wir uns scharen, um sie die irrende Menschheit zu scharen versuchen. Unsere Aufgabe und unsere Pflicht ist es, das unverrückbare Fanal aufzupflanzen und in der stürmenden Nacht auf den ewig ruhenden Polarstern hinzuweisen. Inmitten dieser Orgie von Hochmut und gegenseitiger Verachtung wollen wir nicht wählen noch richten. Frei dienen wir der freien Wahrheit, die, in sich grenzenlos, auch keine äußeren Grenzen kennt, keine Vorurteile der Völker, keine Sonderrechte einer Klasse. Gewiß, wir haben Freude an der Menschheit und Liebe zu ihr! Für sie arbeiten wir, aber für sie als Ganzes.