Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig

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gegen die Welt, gegen die Zeit, gegen die Menschen mit unerschütterlicher Kraft aufrecht hält, einmal in der sieghaften Gestalt einer Frau darzustellen. Notwendigerweise muß aber der Kampf einer Frau um die Freiheit ein anderer sein als jener des Mannes. Der Mann hat sein Werk zu verteidigen oder seinen Glauben oder seine Überzeugung oder seine Idee; die Frau verteidigt sich selbst, ihr Leben, ihre Seele, ihr Gefühl und vielleicht noch ihr zweites Leben, ihr Kind, gegen unsichtbare zeitliche und seelische Mächte, gegen die Sinnlichkeit, gegen die Sitte, gegen das Gesetz und andererseits wieder gegen die Anarchie, gegen alle die unsichtbaren Schranken, die einer freien Entfaltung inneren Frauentums in der Zivilisation, in der moralischen, in der christlichen Welt gesetzt sind. So enthält das verwandelte Problem selbst wieder ungeahnte Verwandlungsmöglichkeiten, intimer zwar, aber nicht minder gewaltsam und großartig. Und Rolland hat seine innerste Leidenschaft aufgeboten, um hier den Kampf einer einfachen, namenlosen, anonymen Frau um ihre Persönlichkeit als nicht geringer erscheinen zu lassen als jenen des neuen Beethoven um sein Werk und seine Überzeugung.

      Von diesem geplanten Werke stellt der erste Band, »Annette und Sylvia«, nur ein lyrisches Präludium dar, ein zärtliches Andante, das manchmal von einem leisen Scherzo unterbrochen wird. Aber schon gewittert in die letzten Szenen dieser breitangelegten Symphonie (wie alle Werke Rollands ist auch dieses nach musikalischen Gesetzen aufgebaut) eine passionierte Erregung herein. Annette, das gut bürgerliche und unberührte Mädchen, erfährt nach dem Tode ihres Vaters, daß er eine uneheliche Tochter Sylvia in kleinen Verhältnissen zurückgelassen hat. Mehr aus einem Instinkt der Neugier, aber doch schon aus der ihr eingeborenen Leidenschaft für Gerechtigkeit, beschließt sie, die Halbschwester aufzusuchen. Damit schon zerstört sie eine erste Schranke, ein unsichtbares Gesetz. In Sylvia lernt sie, die Wohlbehütete, zum erstenmal die Idee zur Freiheit kennen, nicht die edelste Form, aber doch die naturhafte, selbstverständliche der unteren Klassen, wo die Frau frei mit sich schaltet und ohne Hemmungen von außen und innen sich ihrem Geliebten hingibt. Und als sie dann ein junger Mann, den sie liebt, für die gutbürgerliche Ehe fordert, wehrt sich der so aufgereizte Instinkt ihrer Freiheit dagegen, mit dieser Ehe schon eine starre Form des Daseins anzunehmen und ganz in seinem Willen unterzugehen. »Der letzte Wunsch, das innerste Verlangen meines Lebens ist vielleicht nicht vollkommen auszudrücken«, sagt sie ihm, »weil er nicht ganz präzise und allzuweit ist.« Sie verlangt, daß irgendein letzter Teil ihres Daseins ihm nicht Untertan sein dürfe und sich nicht ganz in das Gemeinsame der Ehe lösen müsse. Unwillkürlich muß man bei dieser Forderung an das wundervolle Wort Goethes denken, das er einmal in einem Briefe schreibt: »Mein Herz ist eine offene Stadt, die jeder beschreiten kann, aber irgendwo darin ist eine verschlossene Zitadelle, in die niemand eindringen darf.« Diese Zitadelle, diesen letzten geheimnisvollen Schlupfwinkel will sie in sich bewahren, um der Liebe in einem höheren Sinne offen zu bleiben. Aber der Bräutigam, ganz im Bürgerlichen befangen, mißversteht dieses Verlangen und meint, sie liebe ihn nicht. So löst sich die Verlobung. Aber gerade nachdem sie gelöst ist, zeigt Annette in heroischer Art, daß sie zwar ihre Seele einem Manne, den sie liebt, nicht ganz hingeben kann, wohl aber ihren Körper. Sie gibt sich ihm hin und verläßt ihn dann, der ratlos bleibt, denn es ist die Tragik der Mittelmäßigen, das Große, das Heldische, das Einmalige nicht zu verstehen. Damit ist der kühnste Schritt getan, Annette hat die bürgerliche, die sicherumfriedete Welt verlassen und muß nun allein ihren Weg durchs Leben nehmen, oder vielmehr: noch mehr als allein, denn die Frucht jener Hingabe ist ein Kind, ein uneheliches Kind, mit dem zur Seite sie ihren Kampf aufzunehmen hat.

      Von der Tragik dieses Kampfes sagt der nächste Band, »Der Sommer«, schon mehr. Annette ist ausgestoßen aus der Gesellschaft, sie hat ihr Vermögen verloren, sie muß in einem kläglichen aufreibenden Ringen alle Kräfte zusammenfassen, nur um das Kind sich zu bewahren, und jenes andere in sich, das ihr mit ihrem Kind das Teuerste ist: ihren Stolz, ihre Freiheit. Durch alle Formen der Prüfungen und Versuchungen wird hier die freie Frau geführt, und kaum daß der seelische Kampf mit dem Manne sich tragisch entspannt, so erwächst ihr schon die andere Not, nämlich ihr Kind, ihren rasch aufwachsenden, gleichfalls vom Instinkt der Freiheit geführten Sohn, sich innerlich zu erhalten und zu bewahren. Noch verrät selbst dieser zweite Band nicht deutlich, wohin die Linie dieses Lebens zielt, noch ist dieser Sommer im höchsten Sinne Präludium und Vorspiel der wachsenden Tragödie. Aber das Feuerzeichen am Ende des Buches, der ausbrechende Krieg, läßt schon ahnen, welche Höllen und Feuerkreise diese Seele wird durchwandern müssen, ehe ihr Läuterung und höchste Stufe entgegenleuchtet. Und erst das vollendete Werk wird gestatten, seinen Umfang, seine Form und die geistige Umfassung mit dem andern epischen Zyklus, dem Johann Christof, zu vergleichen.

      Immer wieder, je öfter und je näher man das Leben Rollands betrachtet, um so mehr erstaunt es durch seine kaum faßliche Fülle. Ich habe nur andeutend hier die seit sechs Jahren erschienenen Werke des Unermüdlichen angeführt, die entstanden sind – man vergesse dies nicht – neben der aufopferndsten, hilfreichsten Tätigkeit, neben einer restlosen Selbstverschwendung in Briefen, Manifesten und Aufsätzen, neben einer unermüdlichen Selbstbereicherung in Studien, Lektüre, menschlicher Anteilnahme, Reisen und Musik. Aber selbst diese hier aufgezählten publizierten Werke umschließen (nebst seinem unablässig fortgeführten Tagebuche) noch immer nicht die ganze Summe seiner künstlerischen Unternehmung: während er sich ausstreut in gestaltenden Formen, sammelt er gleichzeitig sich selber die Frucht der Ideen zu einem Buche geistigen Selbstbekenntnisses, das »Voyage intérieur« heißt und vorläufig nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist. Immer, in jeder Form, ist seine Tat größer als ihre äußere Manifestation. Immer und immer und je näher und näher man in das Geheimnis seiner Werkstatt einzudringen sucht, um so rätselhafter wird das Einmalige dieser hier wirkenden Kraft. Gerade heute, da das sechste Jahrzehnt ihm als ein wahrhaft erfülltes sich rundet, sehen wir ihn leidenschaftlicher gestaltend und unermüdlicher als alle Jugend: werkfreudig allem Neuen aufgetan, allem Irdischen beziehungshaft gesellt. Auch darin Beispiel und Vorbild wie in so vielen Formen und Manifestierungen seines groß gelebten Lebens, steht er ganz aufrecht noch Stirn an Stirn mit der ihm zugeteilten Aufgabe, als Führer im Geiste, als Bildner des Herzens, als Anwalt jeder leidenschaftlichen Gläubigkeit. Und keinen andern Wunsch wollen wir seinem sechzigsten Geburtstage aus immer wieder dankbarer Seele darbringen, als daß diese heroisch ringende und allzeit obsiegende Kraft ihm und uns unverstellt erhalten bleibe: der Jugend zum Beispiel, den Menschen zum Trost, ihm selber zur Vollendung.

      Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin - Kleist – Nietzsche (1925)

       Inhaltsverzeichnis

      Die Erstausgabe erschien 1925 mit dem Vorwort im Insel-Verlag zu Leipzig

       Professor Dr. Sigmund Freud dem eindringenden Geiste, dem anregenden Gestalter diesen Dreiklang bildnerischen Bemühens

       Vorwort

       Hölderlin

       Die heilige Schar

       Kindheit

       Bildnis in Tübingen

       Mission des Dichters

       Der Mythus der Dichtung

       Phaeton oder die Begeisterung

       Ausfahrt in die Welt

       Gefährliche


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