Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
Erinnerungen die an den gegeißelten Heiland, der hinter der verlassenen Kirche, in der ich sechs Jahre früher die Taufe empfangen hatte, im Grase lag? Und dann im Hofe eines Franziskanerklosters, wo wir Verstecken spielten, eine Mutter Gottes mit den sieben Schmerzen, eine Holzfigur, die hinter einem Gitter stand und mir so voll Leid erschien, daß ich ganze Stunden dort in Betrachtung verbrachte und in mir ihren Schmerz nachzufühlen vermeinte…
Drei Priester singen und tragen drei brennende Kerzen durch den Tag. Ein Priester eröffnet den Zug mit einem goldenen Kruzifix. Ein Mann folgt, mit einer kleinen lackierten Kiste auf dem Rücken; sie ist von grüner Farbe, und ihre Form ist nicht so bedrückend wie jene, die wir in Frankreich unsern Särgen geben. Das war der Leichenzug eines armen Kindes aus dem Volke, dem wir durch die Straße folgten, dem »Borgo di Porta Romana«. Das Volk drängte sich in den Straßen, sang, schrie und rannte durch Staub und Sonne, und die Menge, die Platz machte, um den Priester vorüber zu lassen, hatte kein Auge für den armen kleinen Sarg.
Am andern Tag zog an der nämlichen Stelle eine lange Reihe von Priestern mit Fackeln vorüber, die mit trauriger Ohnmacht gegen die Strahlen der vollen Sonne ankämpften. Frauen, Männer, Kinder, mit brennenden Totenkerzen in den Händen, überfluteten singend die Straße. Inmitten dieses Geleites und unter einem weißen Schleier, dessen Enden von acht kleinen Klagemädchen getragen wurden, schwebte ein leichter Sarg dahin, bedeckt von weißem silberbestickten Atlas und wundervollen Blumenkränzen. Die jungen Mädchen, die Trägerinnen dieser Last, lächelten und lachten; sie waren festlich gekleidet und trugen strahlend weiße, mit Perlen und Bändern verzierte Schleier. Diesmal war es eine reiche Mutter, die weinte. Wir beteten auch für dieses Leid, das für jedes Mutterherz gleichermaßen schmerzlich ist.
Gestern, am 22. August, hat uns Valmore spazieren geführt, und wie stets, begannen wir den Weg mit einer Kirche, diesmal der Passionskirche…
Was in diesem düsteren und geheimnisvollen Bau am meisten fesselt, das ist ein doppelter Sarkophag aus weißem Marmor, auf ungeheuren Löwenfüßen ruhend, der sich unter der dunklen Kuppel vor der Sakristei erhebt. Die ganze Struktur dieser beiden Zwillingssärge, die sich übereinander erheben, ruft den Geist zur Sammlung und schmerzlichen Bewunderung. Wir konnten uns nicht losreißen… Während die Arbeiter auf den Gesimsen und den Sockeln der hohen Statuen standen und die schwarzen, mit gelben Tressen umsäumten Draperieen herunternahmen, die auf den Hallenboden niederrauschten, ließen die Schüler der musikalischen Lehranstalt, die hier gewissermaßen der Kirche zugeteilt scheint, ihren herrlichen Gesang ertönen, andere wieder spielten Geige oder Piano, und die Sonne ließ im Untergehen alle Engel der Hauptfront rosig erstrahlen, und die erzenen Gestalten, deren jede ein Werkzeug des Leidens Christi in Händen hielt, schienen sich schön und traumvoll hinwegschwingen zu wollen, fort von den Qualen Jesu Christi und seiner Mutter, die sie weinend umstanden. Es erfüllt mit beständiger Pein, daß man diese Szene für jene, die sie nicht mit Augen sehen können, mit dem Stift nicht festhalten kann. Und daß man anderseits keine Worte findet, um ihren Eindruck auf uns wiederzugeben, ist ein anderer großer Schmerz, der allzuspät ein trübes Licht wirft auf die Unwissenheit, derer man sich nie so sehr bewußt geworden war wie in diesem Augenblick…
Das Glockenläuten ist hier unerträglich. Es zerreißt die Luft und ist so schrill wie die Stimmen der Frauen in Italien. Wenn sie sich unterhalten, meint man, sie seien zornwütend; ihre Stimme springt mit unglaublicher Leichtigkeit von den höchsten Tönen zum dröhnenden Kontra-Alt hinab, so daß man gar nicht fassen kann, die wegen ihrer Reize und ihres Adels berühmteste aller Sprachen zu vernehmen, es sei denn, daß man sie liest oder singen hört; gesprochen aber ist es, um davonzulaufen. War das der Grund, weshalb die sanfte und reine Stimme, der fließende Vortrag und die gefühlvolle Tongebung von Mademoiselle Mars, ihr perlendes Lachen, ihr ergreifendes Weinen hier ein Erstaunen und eine Begeisterung geweckt haben, die unbeschreiblich ist?…
31. August. Wir haben etwas unendlich Trauriges gesehen – mir wenigstens erschien es so. Wir haben Maria-Louise gesehen, über ihre Jahre hinaus gealtert, trotz ihrer reichen Kleidung und ihrer Jasminhaube – die rätselhafte Maria-Louise, deren Herz undurchdringlich bleibt, deren verschlossenes Antlitz keine Bewegung verrät. Ich aber war ergriffen, als ich in dem schmalen Gang, der ihre und unsere Loge verband, notgedrungen ganz nah an ihr vorüber mußte, so daß ihr Kleid mich streifte. Ich gestehe es, zum erstenmal im Leben suchte ich einem Menschen ins Gesicht zu sehen, der in einer recht bescheidenen und dunklen Loge verborgen sein wollte. Aber der Fürst Metternich – und vor allem seine weiß und goldene Uniform hatten sie verraten. Mademoiselle Mars, der ich eilends mitteilte, daß der Arm, den sie soeben berührte, der Maria-Louisens sei, tat alles, was man nur tun kann, ohne den Anstand zu verletzen, um diese reglose Frau zu veranlassen, sich umzuschauen. Sie kam nicht zum Ziel. Als ich sah, daß sie sich erhob und fortging, fand ich mich wie unwillkürlich neben ihr. Sie schritt vorgebeugt, als suche sie die schlecht erhellten Treppenstufen zu erkennen. Ihr sehr leichtes und sehr weites weißes Gewand berührte mich. Ihr Antlitz erschien mir auffällig schmal und gerötet, doch sanft und ruhig. In diesem ergreifenden Moment hatte ich fast eine Vision ich sah den Kaiser tot und den König von Rom, gleichfalls wie einen Schatten, die in diesem frostigen Korridor hinter ihr herschritten, und es wurde mir schwer, das Ende von »Jeanne de Naples« abzuwarten, dessen schrecklichen Schluß sie wahrscheinlich nicht hatte mitansehen wollen…
19. September. Ich denke und schreibe an Dich beim dumpfen Lärm des Rades, das drunten im Hofe gedreht wird, um Sorbett zu bereiten; dies ständig brausende Geräusch macht meine Gedanken, wie mir scheint, zu summenden Fliegen, die sich nicht aufschwingen können. Meine Gedanken kriechen am Boden und summen und beschweren mir das Herz. Drüben in der italienischen Schule singen die Kinder mit absichtlich kreischender Stimme ihre Choräle. Auf den umliegenden Dächern, in gleicher Höhe mit unserem Fenster, klatscht der Regen in Strömen, und das Zimmer ist so feucht, daß die untapezierten Wände Tränen weinen. – Italien! Sage mir, lehre mich, was dein schöner Himmel den Elenden bietet, wenn Wolken ihn verhüllen! Und es gibt viele Elende um uns her, viel Unglück außer unserm Unglück. – Mailand, immer noch Mailand! Ist es nicht in Italien, wo Tasso den Verstand verloren hat?… Diese anscheinend so öde Stadt birgt in einem Hospiz zweitausend Kranke und Sieche.
Ein Traum
Aus »L’atelier d’un peintre«, 1833.
… In letzter Nacht ward mein Schlummer von einer Vision gewiegt und erschüttert: Ich durcheilte ein einsames riesiges Haus, dessen Türen alle weit offen standen. Der Engel des Todes verfolgte mich, er kam durch die unbewohnten Gemächer, und ich vernahm das Rauschen seiner Schwingen in der Luft, durch die ich selber hinglitt, ohne den Boden zu berühren; ich litt, ich betete, ich war atemlos und fast von ihm ereilt. Das offene Fenster bot mir den einzigen Ausweg, den ich mit den Augen suchte und mit einem Herzen, das meine Brust zu sprengen drohte: ich reckte die Arme, ich gab mich der Luft ganz hin, ich schwebte, zu meiner großen Freude, zu meiner so unendlichen Freude, daß ich erwachte und mich knieend in meinem Bette fand, in einer Finsternis, die der Mond tröstlich erhellte. Es war, als sähe er mich an und spräche: »Hab keine Angst!« Ich schlief auch wieder ein, bis in den hellen Tag…
Vierter Teil. Briefe
Marceline Desbordes-Valmore hat viele Briefe geschrieben (obwohl sie in ihrer ewigen Armut oft erschrak vor den zwei Sous Postporto und häufig, wenn ihr ein Brief zu gewichtig geraten schien, den Galten erschrocken fragte: Du hast wohl dafür viel bezahlen müssen). Aber Mitteilung, Ausströmung des Gefühls, war ihr unüberwindbares Bedürfnis: mit Briefen kann man trösten, sich und den andern. Man kann sich in ihnen ausbluten wie in Tränen.
So schrieb sie viele Briefe, und dank dieser Übermächtigkeit des Gefühls gehören sie zu den schönsten, die wir Frauen verdanken. Sie sind nicht zu vergleichen mit den literarischen der grande