Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig

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Die klassische Tragödie, die griechisch-antike, würde ihn langweilen, die romantische Hugos seinen gesunden Wirklichkeitsinstinkt abstoßen. Shakespeare, er der allmenschliche, wäre ihnen näher, aber es täte not, seine Stücke erst zu adaptieren und damit zu fälschen, Schiller in den »Räubern« und dem »Wilhelm Teil« hat durch den hinreißenden Idealismus noch am meisten Enthusiasmus zu erwarten, aber er, wie Kleist im »Prinzen von Homburg«, sind gerade dem Pariser Arbeiter national irgendwie entlegen Tolstois »Macht der Finsternis« und Hauptmanns »Weber« hätten den Vorteil der Verständlichkeit, hier aber liegt zuviel Drückendes im Stofflichen der Werke, die, gut angetan, das Gewissen der Schuldigen zu erschüttern, bei dem Volke nur ein Gefühl der Bedrückung statt der Befreiung schaffen würden. Anzengruber, der rechte Volksdichter, ist zu sehr aufs Wienerische beschränkt, Wagner, dessen Meistersinger Rolland ein Höhepunkt allverständlicher erhebender Künste scheinen, ohne Musik nicht repräsentativ.

      Soweit der Blick ins Vergangene geht, er findet keine Antwort auf seine sehnsüchtige Frage. Aber Rolland ist nicht einer von denen, die sich entmutigen lassen, immer schöpft er aus Enttäuschungen Kraft. Hat das Volk keine Bühnenstücke für sein Theater, so ist es Pflicht, heilige Pflicht, sie der neuen Generation zu schaffen. Und in einem jubelnden Appell endet das Manifest »Tout est à dire! Tout est à faire! A l’oeuvre!« Im Anfang war die Tat.

      Das Programm

       Inhaltsverzeichnis

      Was für Stücke fordert das Volk? »Gute« Stücke in dem Sinne, wie Tolstoi von »guten« Büchern sprach, Dramen, die allverständlich sind und doch nicht banal, die den Geist der Gläubigkeit erwecken, ohne ihn zu verfälschen, die nicht die Sinnlichkeit, die Schaulust, sondern die starken ideellen Instinkte der Masse aufrufen. Nicht kleine Konflikte dürfen sie behandeln, sondern müssen den Geist der antiken Feste, den Menschen im Kampf mit den Mächten, mit dem heroischen Schicksal zeigen. »Fort mit den komplizierten Psychologien, den feinen Spötteleien, den dunklen Symbolismen, der Kunst des Salons und des Alkovens« – das Volk braucht monumentale Kunst. So sehr es Wahrheit will, darf es doch nicht dem Naturalismus ausgeliefert werden; denn sieht es sich, sein eigenes Elend, so wird die Kunst nicht Begeisterung erwecken, die heilige, sondern nur Zorn, die brutale Seelenkraft. Soll es den nächsten Tag heiterer, gefestigter, zuversichtlicher an die Arbeit gehen, so bedarf es eines Tonikums, diese Abende müssen eine Quelle der Energie sein, aber es ist gleichzeitig ihre Aufgabe, die Intelligenz zu schärfen. Wohl sollen sie dem Volke das Volk zeigen, aber nicht in der proletarischen Dumpfheit seiner engen Stuben, sondern in den Höhepunkten der Vergangenheit. Das Theater des Volkes muß, so folgert Rolland darum (vielfach Schillers Ideen verwertend), ein historisches sein: das Volk muß sich nicht nur sehen lernen, sondern auch bewundern in seiner eigenen Vergangenheit. Die Leidenschaft zur Größe – das Urmotiv Rollands – muß in ihm erweckt werden. In seinem Leiden muß es die Freude an sich selbst wieder lernen.

      Wunderbar erhebt nun der dichterische Historiker den Sinn der Geschichte zum Hymnus. Heilig sind die Kräfte der Vergangenheit um der seelischen Kraft willen, die in jeder großen Bewegung ruht. »Es liegt für die Vernunft etwas Verletzendes darin, welchen ungebührlichen Platz die Anekdote, das Nebenbei, die Staubkörner der Geschichte auf Kosten der lebendigen Seele eingenommen haben. Die Kraft der Vergangenheit muß erweckt, der Wille zur Tat gestählt werden.« Die Generation von heute hat Größe zu lernen von ihren Vätern und Ahnen. »Die Geschichte kann lehren, aus sich selbst herauszutreten, in der Seele der andern zu lesen. Man findet sich selbst im Vergangenen in einer Mischung gleicher Charaktere und verschiedener Züge, mit Fehlern und Lastern, die man vermeiden kann. Aber eben indem sie das Veränderliche zeigt, lehrt sie das Dauerhafte wesentlicher erkennen.«

      Was aber haben die französischen Dramatiker bis jetzt aus der Vergangenheit dem Volke gerettet? fragt Rolland weiter. Die burleske Gestalt Cyranos, die parfümierte des Herzogs von Reichstadt, die erfundene der Madame Sans-Gêne! »Tout est à faire! Tout est à dire!« Alles ist noch Brachland für die Kunst. »Die nationale Epopöe ist ganz neu für Frankreich. Unsere Dramatiker haben das Drama des französischen Volkes vernachlässigt, das vielleicht seit Rom das heroischste der Welt ist. Das Herz Europas schlug in seinen Königen, seinen Denkern, seinen Revolutionären. Und so groß dieses Volk auch auf allen Gebieten des Geistes sein mag, am größten war es vor allem in der Tat. Die Tat war seine erhabenste Schöpfung, sein Gedicht, sein Theater, sein Epos. Es erfülltet was andere träumten. Es schrieb keine Iliade, aber es lebte ein Dutzend. Seine Helden schufen mehr Erhabenes als seine Dichter. Kein Shakespeare hat ihre Taten gedichtet, aber Danton auf dem Schafott hat Shakespeare gelebt. Die Existenz Frankreichs hat die höchsten Gipfel des Glücks, die tiefsten Tiefen des Unglücks berührt. Es ist eine wunderbare Comédie humaine, eine Summe von Dramen, jede seiner Epochen ein anderes Gedicht.« Diese Vergangenheit muß erweckt werden, das historische Drama Frankreichs seinem Volke geschaffen werden. »Der Geist, der sich über die Jahrhunderte erhebt, erhebt sich für Jahrhunderte. Um starke Seelen zu zeugen, nähren wir sie mit den Kräften der Welt.«

      »Der Welt«, – so fährt Rolland fort, und mit einem Mal flutet der französische Hymnus in den europäischen über – »denn die Nation ist zu wenig.« Schon vor hundertzwanzig Jahren sagte der freie Schiller: »Ich schreibe als Weltbürger. Früh schon habe ich mein Vaterland mit der Menschheit getauscht.« Und Goethes Wort: »Nationalliteratur will nicht mehr viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit«, begeistert ihn zum Aufruf: »Verwirklichen wir seine Prophezeihung! Führen wir die Franzosen zu ihrer Nationalgeschichte als einer Quelle der Volkskunst, aber hüten wir uns, die historische Legende der andern Nationen auszuschließen. Mag es unsere erste Pflicht sein, die Schätze, die wir ererbten, zur Geltung zu bringen, so sollen doch die großen Taten aller Rassen Platz in unserm Theater haben. Wie Cloots und Thomas Paine zu Mitgliedern des Convents erhoben wurden, so seien die Helden der Welt wie Schiller, Klopstock, Washington, Priestley, Bentham, Pestalozzi, Kosciusko die unsern! Erheben wir in Paris die Epopöe des europäischen Volkes.«

      So wird dies Manifest Rollands zum ersten Appell an Europa, das Theater weit überflutend, einsam erhoben und ungehört. Versagt sich auch noch die Tat, das Bekenntnis ist geschaffen, unzerstörbar und unverlierbar. Zum erstenmal spricht Johann Christof in die Zeit.

      Der Schöpfer

       Inhaltsverzeichnis

      Die Aufgabe ist gestellt. Wer soll sie vollbringen? Romain Rolland antwortet durch die Tat. Der heroische Mensch in ihm scheut keine Niederlage, der jugendliche keine Schwierigkeit. Eine Epopöe des französischen Volkes will gestaltet sein: er zögert nicht, in das Schweigen und die Gleichgültigkeit einer Millionenstadt hinein das Werk zu bauen. Immer ist bei ihm der Impetus mehr ein moralischer als ein künstlerischer, immer fühlt er die Verantwortung einer Nation in sich. Und nur ein solch produktiver, ein heroischer Idealismus, nicht der bloß theoretische, kann Idealismus zeugen.

      Das Thema ist leicht gefunden. Rolland sucht dort die Aufgabe, wo die Väter und Ahnen sie gefordert haben, im größten Augenblicke des französischen Volkes: in der Revolution. Am 2. Floreal 1794 hatte der Wohlfahrtsausschuß die Dichter aufgerufen, »die hauptsächlichsten Geschehnisse der französischen Revolution zu verherrlichen, republikanische Dramen zu verfassen, der Vergangenheit die großen Epochen der französischen Erneuerung zu überliefern, der Geschichte den erhabenen Charakter zu weisen, wie er den Annalen eines großen Volkes ziemt, das gegen den Ansturm aller Tyrannen Europas seine Freiheit erkämpft.« Er hatte am I. Messidor vom jungen Dichter verlangt, »er möge mit kühnem Schritt die ganze Größe der Aufgabe umfassen, die gefälligen und ausgetretenen Wege der Mittelmäßigkeit meiden«. Die damals jene Dekrete unterschrieben, Danton, Robespierre, Carnot, Couthon, sie sind inzwischen selbst ihrer Nation Gestalten geworden, Denkmäler der Straße, Heroen und Legenden. Wo die Nähe der dichterischen Beseelung Schranken zog, ist jetzt Raum für die Phantasie, ist die Geschichte fern genug, um Tragödie zu werden. Aus jenen Dokumenten geht der Ruf an den Dichter, an den Historiker Rolland: aber er


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