Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
schildert die Erstürmung der Bastille; ein anderer Verwandter wurde ein halbes Jahrhundert später in Clamecy bei einem Aufstand gegen den Staatsstreich durch Messerstiche getötet: der fanatische Revolutionär hat Ahnen in seiner Seele, ebenso wie der religiöse Mensch. Hundert Jahre nach 1792, im Rausche der Erinnerung, schafft er die großen Gestalten jener Vergangenheit aus einem reinen dichterischen Enthusiasmus neu. Noch ist das Theater nicht erstanden, dem er die »französische Iliade« geben will, noch vertraut ihm niemand in der Literatur, noch fehlen die Schauspieler, die Führer, die Zuschauer. Nichts ist lebendig von all dem, als sein Glaube und sein Wille. Und aus dem Glauben allein beginnt er das Werk: »Le Théatre de la Révolution.«
Die Tragödie der Revolution
1898 - 1902
Ais Dekalogie, als Folge von zehn zeitlich gebundenen Dramen, etwa im Sinne der shakespeareschen Königsdramen, hatte Romain Rolland diese »Ilias des französischen Volkes« für das zukünftige Theater des Volkes geplant. »Ich wollte«, sagte er in der späteren Vorrede, »in der Gesamtheit dieses Werkes gleichsam das Schauspiel einer Konvulsion der Natur geben, ein soziales Ungewitter vom Augenblicke, wo die ersten Wogen sich aus der Tiefe des Ozeans erheben, bis zu jenem andern, da sie zurückzukehren scheinen und die Ruhe sich langsam wieder über das ewige Meer breitet.« Kein Beiwerk, keine anekdotisch-spielerische Nüance sollte diesen gewaltsamen Rhythmus des Elementaren mildern, »meine Hauptbemühung war, das Geschehnis so weit als möglich von jeder romantischen Intrige zu reinigen, die nur belastet und verkleinert. Ich wollte vor allem jene großen politischen und sozialen Interessen, für die eine Menschheit seit einem Jahrhundert kämpft, beleuchten«. War der Geist Schillers in diesen Gedanken (wie ja überhaupt Schiller dem idealistischen Stil dieses Volkstheaters am nächsten steht), so dachte Rolland hier an einen Don Carlos ohne Eboli-Episoden, einen Wallenstein ohne die Thekla-Sentimentalitäten. Nur die Größe der Geschichte wollte er einem Volke zeigen, nicht die Anekdoten seiner Helden.
Dramatisch als Zyklus war das gigantische Werk gleichzeitig musikalisch gedacht, als Symphonie, als eine Eroica. Ein Präludium sollte es einleiten, ein Schäferspiel, im Stil der Fêtes Galantes. Trianon, die Sorglosigkeit des ancien régime, gepuderte Damen mit Schönheitspflästerchen, lyrische Kavaliere, die tändeln und plaudern. Das Gewitter zieht heran, sie ahnen es nicht. Noch einmal lächelt die galante Zeit, noch einmal glänzt die sterbende Sonne des großen Königs über dem welken goldenen Laub der Gärten von Versailles.
Der »14 Juillet« ist dann der eigentliche Einsatz, die Fanfare. Rasch steigt die Welle auf. »Danton« ist die entscheidende Krise: im Siege beginnt schon die moralische Niederlage, der Bruderkampf. Ein »Robespierre« sollte den Abstieg einleiten, »Le Triomphe de la Raison« zeigt die Zersetzung der Revolution in der Provinz, »Les Loups« in den Armeen. Zwischen den heroischen Dramen war als Entspannung ein Liebesdrama gedacht, das Schicksal Louvets, des Girondisten, der, um seine Geliebte in Paris zu besuchen, sein Versteck in der Gascogne verläßt und als einziger der Katastrophe seiner Freunde entgeht, die hingeschlachtet oder auf der Flucht von den Wölfen zerrissen werden. Den Figuren Marats, St. Justs, Adam Lux’, die nur episodisch in den geschriebenen Dramen angedeutet sind, war in den andern größerer Raum zugedacht, und gewiß hätte sich auch die Gestalt Bonapartes über die sterbende Revolution erhoben.
Musikalisch-lyrisch einklingend sollte dies symphonische Werk in einem kleinen Nachspiel verklingen. Im Exil, in der Schweiz, in der Nähe von Solothurn, finden sich die Schiffbrüchigen Frankreichs nach dem großen Sturm zusammen, Royalisten, Königsmörder, Girondisten, und die feindlichen Brüder vereinigen ihre Erinnerungen, eine kleine Liebesepisode ihrer Kinder sänftigt zur Idylle, was als Weltsturm Europa durchschüttert. Von diesem gewaltigen Werke sind nur Fragmente ausgestaltet, die vier Dramen »Le 14 Juillet«, »Danton«, »Les Loups«, »Le Triomphe de la Raison«. Dann gab Romain Rolland den Plan, dem das Volk wie die Literatur und das Theater fremd geblieben war, auf. Mehr als ein Jahrzehnt sind diese Tragödien vergessen gewesen, und vielleicht weckt heute die erwachende Neigung der Zeit, die in dem prophetischen Bilde einer Welt-Konvulsion sich selbst erkennt, in ihm die Neigung, das so groß Begonnene zu vollenden.
Der Vierzehnte Juli
In diesem zeitlich ersten der vier vollendeten Revolutionsdramen ist die Revolution noch ganz Naturelement. Nicht ein bewußter Gedanke hat sie geformt, nicht Führer haben sie geleitet: in einem blind treffenden Blitz aus schwüler Atmosphäre löst sich plötzlich die ungeheure Spannung eines Volkes. Er schlägt in die Bastille, und der Feuerschein erhellt die Seele der ganzen Nation. Dieses Stück hat keine Helden: der Held ist die Masse selbst. »Die Individuen verschwinden im Ozean des Volkes«, sagt Rolland in der Vorrede. »Um einen Sturm darzustellen, tut es nicht not, jede einzelne Welle nachzuzeichnen, man muß das entfesselte Meer malen. Die peinliche Genauigkeit im Detail ist weniger wesentlich als die leidenschaftliche Wahrheit des Ganzen… Der Verfasser hat hier mehr die moralische als die anekdotische Wahrheit gesucht.« Tatsächlich ist in dem Werke alles Aufschwall und Bewegung, die einzelnen Figuren gleiten wie im Kinematographen blitzartig vorüber, das Ungeheure der Erstürmung der Bastille geschieht nicht aus einem bewußten Akt, aus der Vernunft, sondern aus einem Rausch, einem Taumel, einer Ekstase.
Darum ist der »Vierzehnte Juli« kein Drama und will es auch eigentlich gar nicht sein. Was Rolland bewußt oder unbewußt vorschwebte, war eines jener fêtes populaires, wie sie der Convent gefordert hatte, ein Volksfest mit Musik und Tanz, ein Epinikion, ein Siegesspiel; und sein Werk ist auch nicht für künstliche Kulissen gedacht, eher als Freiluftdrama. Symphonisch aufgestuft, endet es in Jubelchören, für die der Dichter ganz bestimmte Forderungen an den Komponisten stellt. »Die Musik muß gleichsam der Grund des Freskos sein«, sagt er, »sie muß den heroischen Sinn dieses Festes verdeutlichen und Pausen decken, wie sie eine Statistenmenge nie vollständig ausfüllen kann, die trotz allen Lärmens unweigerlich die Illusion der Lebendigkeit zerstört. Diese Musik müßte sich an jener Beethovens inspirieren, die, stärker als jede andere, den Enthusiasmus der Revolution spiegelt. Vor allem müßte sie aus einer leidenschaftlichen Gläubigkeit entstehen. Keiner wird hier etwas Großes schaffen, wenn nicht die Seele des Volkes und die brennende Leidenschaft, die sich hier darstellt, in ihm selber lebt.«
Was Rolland mit diesem Werke will, ist Ekstase. Nicht dramatische Erregung, sondern im Gegenteil: Überwindung des Theaters, restlose Vereinigung des Volkes mit seinem Bilde. Wenn sich in der letzten Szene die Worte an das Publikum wenden und die Erstürmer der Bastille die Hörer zum ewigen Sieg über die Bedrückung zur Brüderlichkeit aufrufen, so muß diese Idee in ihnen nicht wiederklingen, sondern aus ihrem eigenen Herzen brechen. Der Schrei »Tous frères« – »Seien wir alle Brüder«, muß ein Doppelchoral werden von Sprechern und Zuschauern, die selbst von der heiligen Welle, dem »courant de foi« ergriffen, mitrauschen sollen in der Flut des Jubels. Aus eigener Vergangenheit soll der Funke überspringen in die Herzen von heute: der Rausch soll sie heiß machen und zum Flammen bringen. Wohl bewußt, daß das Wort allein solche Wirkung nicht erreicht, fordert darum Rolland als höhere Magie die Musik, die ewige Göttin der reinen Ekstase.
Jene erträumte Menge war ihm nicht gegeben, auch der Musiker, der annähernd seine Forderungen erfüllte, Doyen, erst nach zwanzig Jahren. Und die Darstellung im Théatre Gémier am 21. März 1902 verklang als verlorener Ruf: nie ist er zum Volke gedrungen, dem er so leidenschaftlich entgegengesandt war. Ohne Echo, fast ärmlich leise, ist dieser Hymnus der Freude im Maschinengewühl der Millionenstadt verhallt, die vergaß, daß es ihre Väter waren, die diese Taten schufen, und daß es ein Bruder ihrer Menschlichkeit war, der sie ihnen ins Gedächtnis rief.
Danton