Fjorgaar - Der rote Vogel. Dorothea Bruszies

Fjorgaar - Der rote Vogel - Dorothea Bruszies


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sieht sich als junge Frau, als Schülerin, die noch lange nicht ihre nurischen Fähigkeiten gemeistert hat. Er sieht die begehrlichen Blicke manch ihrer Mitschüler und die des Meisters und fragt sich, ob er sich Letzterem wohl ergeben sollte. Er ist neugierig.

      Er sieht sich als erwachsene Frau, lächelt einen Mann an, in den man sich nicht verlieben sollte. Aber er weiß, dass die Stimme der Vernunft bereits verloren hat.

      Er sieht seine Hochzeit durch seine eigenen Augen und durch die seiner Gemahlin, ist eins mit ihr und kann nicht mehr von ihr lassen.

      Doch je intensiver die Verbindung wird, je länger Sanmaal diesen berauschenden Moment mit seiner Gemahlin zu halten versucht, desto mehr entgleitet sie ihm.

      Und dann ist es plötzlich vorbei.

      Während sie in einem Augenblick für Sanmaal noch eine Quelle des Lebens gewesen war, nimmt er nun nichts weiter wahr als ihren reglosen Körper.

      Langsam löst er seine Hände von ihrem Hals und richtet sich in eine kniende Position auf.

      Seine Gemahlin ist tot. Sie ist nicht mehr liebreizend oder stark. Und mit Sicherheit nicht schön. Sie wird ihn nicht mehr anlächeln, und sie wird ihm auch nicht mehr mit Enttäuschung entgegenblicken.

      Sanmaal spürt, er sollte voller Trauer sein oder zumindest Bedauern empfinden. Stattdessen fühlt er sich gut. So unermesslich gut.

      Auch ohne es zu sehen, weiß er, dass sich seine Wunden geschlossen haben, dass sein gesundes Aussehen keine Illusion mehr ist. Neue Kraft durchflutet seinen Körper und nurische Energie erfüllt ihn wie nie zuvor. Es ist berauschend und Sanmaal lacht. Er hat schon lange nicht mehr gelacht.

      Durch die Verbindung mit seiner Gemahlin muss er ihre Energie in sich aufgenommen haben. Ein rein instinktiver Akt. Und die mögliche Rettung für ihn.

      Das grundlegende Problem bleibt bestehen. Selbst in seiner Euphorie erkennt Sanmaal sein noch immer bestehendes Unvermögen, die Energie in sich zu halten. Doch wenn er mit einem anderen Nurier wiederholen kann, was mit seiner Gemahlin geschah, wird er den eigenen Niedergang verhindern.

      Es ist möglich. Es muss möglich sein.

      Ein abwesendes Lächeln umspielt Sanmaals Lippen, als er sich im Schneidersitz neben den leblosen Körper seiner Gemahlin setzt und seine Augen über sie gleiten lässt, als würde er sanft ihre Haut berühren. Ein leises Raunen ermahnt ihn, Trauer zu empfinden. Er streift es mühelos von sich.

      Er ist leer. Und er ist erfüllt von Energie.

      Irgendwann steht Sanmaal auf und geht gemächlich an eines der Fenster, aus welchem er einen weiten Ausblick auf die nächtliche, von den Monden erhellte Landschaft hat.

      Er muss seine Gedanken sortieren und das weitere Vorgehen genauestens planen. Gestohlene Energie, stärker in ihm als jede, die er zuvor hatte nutzen können –, das ist nicht nur der Schlüssel zu seinem Überleben, sondern zu einer völlig neuen Existenz. Ihn wird es noch geben, wenn all seine Gegner zu Staub zerfallen und in Vergessenheit geraten sein würden. Das Blatt hat sich gewendet. Aber er muss vorsichtig handeln, sein neues Wesen vorerst im Verborgenen halten. Der Jäger, der sich heimlich an dich heranpirscht und zuschlägt, bevor du auch nur ahnst, welches Unheil dir droht. Je länger dieser Gedanke Sanmaal erfüllt, desto besser gefällt er ihm. Über die Schulter hinweg blickt er zu der Leiche in seinem Bett. Dieses Problem muss zuerst beseitigt werden. Danach kann er sich seiner neu entdeckten Fähigkeit widmen. Und seiner Zukunft.

      Zu einer anderen Zeit, an einem gänzlich anderen Ort

      Es war nichts und es war alles zugleich. Ein Märchen, das zu kunstvollen Worten und pompösen Gedanken einlud.

      Ben stand am Ufer eines weiten Sees, dessen silbern schillernde Oberfläche das sanfte Gleiten der Wolken widerspiegelte und das Bild der ihn umgebenden Bäume in sich aufnahm. Immer wieder hauchte der Wind seinen Atem über das Wasser und vergnügte sich in kleinen Kapriolen des nachgiebigen Elements, um gleich darauf zu verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben.

      Auf einem der Bäume am Ufer des Sees saß ein rotgefiederter Vogel. Ein einzelner Lichtstrahl lugte hinter den Wolken hervor und zauberte ein Leuchten auf das Gefieder des kleinen Wesens. Es sang sein betörendes Lied, fand sich in einer verzückenden Komposition mit dem Wind und dem leisen Rascheln der Blätter. Und auf einmal erhob sich der Vogel in die Lüfte, glitt über das Wasser hinweg. Der Wind frischte auf und legte sich unter das Tier, um es sicher zu halten.

      Fasziniert und gefesselt beobachtete Ben dieses Schauspiel der Natur. Er fühlte sich gut. Glücklich. Geborgen. Nichts und niemand konnte ihm hier etwas anhaben. Dies war seine Oase des Friedens.

      Doch kaum war er diesem Gedanken gefolgt, spürte er die Anwesenheit von etwas Fremdem. Ein Dunkel in den Tiefen des Waldes, lauernde Augen im schillernden Wasser. Nichts hatte sich geändert an der Landschaft, die ihn umgab, und doch war mit einem Mal alles anders. Das Gefieder des Vogels schien wie Blut, sein Schnabel eine Waffe des Schmerzes. Die Landschaft und alles in ihr waren in trügerische Stille gehüllt. Nur der Wind trug ein unheimliches Raunen mit sich.

      Furcht erfasste Ben, umklammerte seine Brust und nahm ihm den Atem, und er wusste eines mit untrüglicher Sicherheit: Wenn er sich jetzt umdrehte, würde etwas Schreckliches geschehen. Vergeblich versuchte er, das Kribbeln zwischen seinen Schulterblättern zu ignorieren. Ein nervöses Zittern hatte seine Hände erfasst und breitete sich schleichend auf seinen gesamten Körper aus.

      Da bäumte sich der Wind plötzlich mit gewaltvollem Brüllen auf und ergriff den Vogel, riss ihn mit sich, während das schöne und furchtbare Wesen den Kampf willkommen hieß und sich vom Unterworfenen zum Gebieter emporschwang. Eine neue Nuance webte sich in den Gesang des Vogels; schrill, disharmonisch, fast schmerzhaft in den Ohren tönend. Ben presste die Hände an den Kopf, um das durchdringende Geräusch auszusperren. Der Wind riss an ihm und war mit einem Mal so eisig, dass die Kälte wie klirrendes Feuer auf Bens Haut brannte. Und der Vogel kreischte und sein Blick erfasste Ben. Augen, die furchtbar tief und fremdartig waren, hielten ihn mit unsichtbaren Fesseln.

      Ben wollte die Flucht ergreifen. Jeder Muskel in seinem Körper schrie ihm zu, sich zu bewegen, zu rennen, sich zu verstecken. Und doch rührte er sich nicht vom Fleck, sondern starrte dem namenlosen Wesen entgegen. Der See und die Bäume verloren an Präsenz, lösten sich langsam auf, als hätten sie niemals existiert, und der Wind berührte Bens Haut nicht mehr.

      Dann gab es von einem Moment zum anderen keine andere Realität mehr als die Gegenwart des Wesens. Es gab nichts außer Augen so kalt wie Kristallsplitter und dem schmerzhaften Gellen des Gesangs, der schon lange keiner mehr war.

      Ben versuchte, zurückzuweichen und …

      ****

      Ben öffnete die Augen, erkannte sein Bett, in dem er lag und identifizierte seinen altmodischen Wecker als Quelle für das unangenehme Geräusch. Verärgert schlug er nach dem Gerät und traf zielsicher die harte Kante des Nachttisches. Das brachte ihn vollends in die Realität zurück.

      Sich die schmerzende Hand reibend schielte Ben in Richtung Wecker. 8:00 Uhr. War es tatsächlich schon so spät? Nun ja, die Bezeichnung »spät« erschien unpassend. Zumindest seiner Empfindung nach. Würde man ihn fragen, fände keine Vorlesung vor 12:00 Uhr mittags statt. Aber natürlich hatte er in dem Fall überhaupt nichts zu sagen.

      Seufzend fiel Ben wieder zurück ins Bett.

      Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte im Augenblick nicht sagen, was, aber das nagende Gefühl ließ ihn nicht los. Am besten wäre es wohl, noch einmal darüber zu schlafen. Ganz kurz nur. Vielleicht für zehn Minuten. Oder elf. Oder was auch immer.

      Und wenn er in den Traum zurückfiel?

      Na und? Er kehrt seit deiner Kindheit wieder, aber es ist nur ein Traum, lästig, doch nicht mehr. Kein Grund, den Schlaf zu meiden, beruhigte sich Ben. Wie so häufig gab er dem Druck seiner allzu schweren Lider nach, schloss ergeben die Augen und wartete.

      Nichts geschah. Durch das Fenster am


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