Th. M. Dostojewsky: Eine biographische Studie. Nina Hoffmann

Th. M. Dostojewsky: Eine biographische Studie - Nina Hoffmann


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auf diese so unharmonisch scheinende Verbindung gestützt, der Anschauung Dostojewskys anschliessen, welcher sagt, dass die nächste Zukunft des Menschengeschlechtes in der Hand der Russin liegt.

      Hier muss jedoch sofort betont werden, dass diese Umgestaltung nicht auf dem Wege der Frauenbewegung als vor sich gehend gedacht werden darf. — Die russische Frau hat ihre ethische und soziale Befreiung längst vollzogen und zwar — wenn wir die Spezies Nihilistin ausnehmen — ganz organisch, von einem rein natürlichen Standpunkt aus in Angriff genommen, von dem der Mütterlichkeit. Sie will und muss die Gefährtin, ja Führerin ihrer männlichen Hausgenossen sein, ihre Interessen teilen, in ihrem Rate eine vollwichtige Stimme haben. Ferner wirkt im Gemüte der russischen, von Vorurteilen befreiten Frau vor allem der Wunsch, nützlich zu sein, ihrem Volke zu dienen. So ist es gekommen, dass die Russin heute ihre Fähigkeit zu Freiheit und Kultur schon durch ihr Leben bewiesen hat, während die europäische bewegte Frau ihre Freiheit und Kultur mittels des Beweises anstrebt, dass sie fähig sei, abseits von der Familie zum Leben zu gelangen. Dies ist ein grundlegender Unterschied.

      Den genannten Hauptcharakterzügen des Russen gesellt sich ein unausrottbares Misstrauen in allen seinen Beziehungen zum Nebenmenschen bei, allein ein Misstrauen, das viel mehr dem immerwachen Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit und „Sündhaftigkeit“ entspringt, als dass es sich auf den Unwert des anderen bezöge. Es ist das Misstrauen der Demut im Gegensatze zum Misstrauen der Routine.

      Sehen wir uns dazu den geographischen und historischen Hintergrund an, aus dem heraus sich diese Volkspersönlichkeit entwickelte, so finden wir ein ungeheures, kompaktes Reich mit uferlosen Steppen und einem unermesslichen Horizont, wo das träumende Auge des Steppenbewohners in eine grenzenlose Einsamkeit hinausblickt, dünn bevölkert, ohne bedeutende Küstenentwicklung, ohne namhaften Welthafen — „ein Riese in einer grossen, niedern Stube“, wie Dostojewsky sagt. Diese kolossale Einheit ist einer Sprache, eines Glaubens, sie hat keine durchgreifenden Mischungen und sprachlichen Umbeugungen erlitten, kein fremdes Blut, es sei denn finnisches, hat diesen Riesenkörper durchädert. Sein „weisser Kaiser“ ist ihm Vater, hoher Priester, Herr, zu dem es als zu dem Helfer in aller Not blind vertrauend aufblickt. Dieses Volk macht seine Entwickelungsprozesse langsam durch, steht heute in seiner Kindheit und wandelt seinem Mittelalter zu. Ackerbau und Viehzucht sind noch heute seine vornehmlichen Lebensquellen, die Städte sind dünn gesäet, der Kleinhandel ist in den Händen des moskowitischen Kleinbürgers, Grosshandel und Industrie ebenfalls in den Händen des grossen Moskauer Kaufherrn, sowie in denen des Ausländers und des Juden. So giebt es denn kein eigentliches grosses Bürgertum, und die Gesellschaft, die wir heute Bourgeois nennen, setzt sich aus dem kleinen Landsassen — Gutsbesitzer — und dem Beamtenstande zusammen.

      Dieses höchst langsame, doch organische Wesen der Volksentwickelung hat Peter der Grosse mit seinen Reformen durchrissen. Ein mit unermesslichen Mühen und Opfern dem Meere abgerungenes Stadtgebiet ist der Beginn und gleichsam das Symbol seiner zivilisatorischen Thätigkeit. Petersburg, das „ausgebrochene Fensterchen“ gegen Europa zu, hat europäische Luft und europäisches Wesen, Europas Sitten und Unsitten, Europas Philosophie, Aufklärung und Dekadenz, kurz den „Europäismus“, wie sich Dostojewsky ausdrückt, hereindringen lassen. Die kompakte Masse des Volkes indessen ist von diesen Neuerungen nicht berührt worden, und wenn auch hie und da in den Städten der altrussische Bart der europäischen Schere, und der Zipun, der altrussische Kittel, dem europäischen Kleide zum Opfer gefallen ist, so ist doch der Bauer bis auf den heutigen Tag nicht zum Bewusstsein seiner Bürgerrechte im europäischen Sinne erwacht. Gleichwohl ist er im Besitze gewisser alter Gemeinderechte und -freiheiten (Obščina, Mir), welche in den Augen vieler zeitgenössischer Agrarier als die einzige Lösung aller Schwierigkeiten des Grundbesitzes und als das einzige Arcanum gegen die Proletarisierung des Bauernstandes erscheinen. Ob dies eine richtige Anschauung sei, können wir hier nicht untersuchen.[1] Auch über die wichtigste Streitfrage, welche die führenden Geister Russlands seit der nachpetrinischen Zeit bewegt hat und noch heute bewegt, wiewohl sie im Erlöschen zu sein scheint, können wir hier nur ganz kurz sprechen, müssen sie jedoch berühren, weil die zwei Hauptströmungen des russischen Lebens aus ihr entspringen und dem Europäer nur durch den Einblick in diese Frage das Verständnis für Russland und sein künftiges Werden aufzugehen vermag. Es ist dies die Frage, die v. Reinholdt in seiner „Geschichte der russischen Litteratur“ folgendermassen formuliert: „Wie verhält sich die orthodoxe Kirche zur römischen und protestantischen? als ursprüngliche Gemeinschaft anfänglicher Unterschiedslosigkeit, aus welcher, auf dem Wege späterer Entwickelung und des Fortschritts andere, höhere Formen religiöser Weltanschauung sich entwickelten, oder als ewig dauernde und ungeschmälerte Vollkommenheit der Offenbarung, welche in der occidentalen Welt der römisch-germanischen Anschauungen sich unterworfen, und infolgedessen in entgegengesetzte Pole sich spaltete“? Endlich: „Worin besteht der Gegensatz zwischen der russischen und der westeuropäischen Zivilisation? — bloss in der Entwickelungsstufe oder in der Eigentümlichkeit der Bildungselemente? Steht es der russischen Zivilisation bevor, nicht allein von den äusseren Resultaten, sondern auch von den Grundlagen der westeuropäischen Bildung durchdrungen zu werden? — oder wird sie, nachdem sie ihr eigenes orthodox-russisches geistiges Leben tiefer erfasst, die Grundlagen einer neuen, künftigen Phase allgemein menschlicher Bildung abgeben?“

      Die Anhänger der westlichen Einflüsse bejahen den ersten Teil dieser Frage, die Slavophilen den zweiten. Einige Slavophilen, darunter J. Kirejewsky, erwarten von einer Synthese beider, einander so widersprechender Bildungsformen das Heil künftiger Menschheitsentwickelung und zwar so, dass die westliche Kultur die Gedankenwelt des Ostens entwickele und kläre, die östliche tiefe Seeleneinheitlichkeit hinwieder die Gefühlswelt und Ethik des Westens mit ihrer „Allmenschlichkeit“ befruchte. Und in der That, wer seine Hoffnungen und Schlüsse für die Zukunft des grossen Volkes mit der „erstaunlichen Kraft zu wollen“ nicht nur auf seine Historie, sondern auf diese in jedem Russen zu findende latente und eigenartige Menschheitskraft und Fähigkeit aufbaut, der muss, unbefangen urteilend, finden, dass nicht sowohl Russland von unserer Zivilisation etwas Umgestaltendes zu erwarten hat, als dass vielmehr wir von seiner Kraft eine Rückkehr zur Natur, eine Neu-Vermenschlichung zu empfangen gewärtig sein können.

      Es ist hier, wie angedeutet, nicht der Ort, die bedeutenden Führer im Streite ihre Sache selbst führen zu lassen. Die slavophile Richtung wurde zum erstenmale theoretisch formuliert durch den unter Katharina II. lebenden Geschichtschreiber, Fürsten Michael Schtscherbatow, um das Ende des 18. Jahrhunderts herum; die bedeutendsten späteren Vertreter dieser Richtung sind Kirejewsky,[2] Chomjakow, die Brüder Aksakow u. a. Die westlichen Einflüsse vertreten vornehmlich Belinsky, A. Herzen, Granowsky u. a.

      Am eindringlichsten und tiefsten ward diese Frage durch Dostojewsky behandelt, wie wir dies in seinem Leben und seinen Werken erkennen. Indessen geht schon durch die ganze russische Litteratur neben der Frage nach dem Werte der westlich-östlichen Kultur, ja als Wurzel dieser Frage die Sorge des russischen Menschen hindurch: „wie soll mein Leben sein?“ — Dostojewsky hat in seiner berühmten Puschkin-Rede im Jahre 1880 in Moskau die Bedeutung Puschkins, dessen Standbild man eben enthüllte, dahin erklärt, dass dieser Dichter — nachdem mehr als ein Jahrhundert nach Peters Reformen verflossen war, ehe sich der Keim einer russischen Litteratur entwickelte — nicht nur, wie Gogol gesagt hatte, des russischen Geistes grösste und einzige, sondern auch seine prophetische Offenbarung gewesen sei. Dostojewsky führt in dieser Rede den Gedanken aus, dass Puschkin schon in seiner früheren Periode der Nachahmung André Cheniers und Byrons plötzlich einen neuen, ganz und nur russischen Ton gefunden hat, die echt russische Antwort auf die Frage, die „verfluchte Frage“, wie er sie anführend nennt, „nach dem Glauben und der Wahrheit des Volkes“. Diese Antwort laute: „Demütige dich, stolzer Mensch, und vor allem brich deinen Hochmut, demütige dich, eitler Mensch, und vor allem mühe dich auf heimatlichem Boden“ — und weiter: „nicht ausser dir ist deine Wahrheit, sondern in dir selbst; finde dich in dir und du wirst die Wahrheit schauen“.

      Wir haben diese Stelle wörtlich angeführt, weil sie für Dostojewskys Stellung in der Litteratur und seine Auffassung vom Apostolat des Dichters und namentlich des Publizisten von grosser Wichtigkeit ist.

      Der Herausgeber von Dostojewskys gesammelten Werken, K. Slutschewsky, sagt in seiner Vorrede ganz im Sinne


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