Th. M. Dostojewsky: Eine biographische Studie. Nina Hoffmann
Ausgabe der „Wremja“ hat Dostojewsky gesagt, dass vielleicht die russische Idee die Synthesis aller jener Ideen sein werde, welche Europa entwickelt hat, weil wir nicht umsonst alle Sprachen sprechen, alle Zivilisationen begreifen, an den Interessen aller europäischen Nationen Anteil nehmen, was unbedingt bei keiner anderen Nation vorkommt. Unser zweiter, ausschliesslich uns gehöriger Zug, den Dostojewsky wiederholt dargelegt und mit Zähigkeit in That und Wort durchgeführt hat, das ist die in unserem Volke lebendige Erkenntnis seiner „Sündigkeit“, eine Erkenntnis, welche es sehr gut erklärt, warum wir so leicht verzeihen, so geneigt zur Selbstgeisselung sind, warum wir unsere Unvollkommenheit nicht in ein Gesetz zu bringen, die sogenannten „Rechtsverhältnisse“ nicht anzuerkennen vermögen und gerne das Kreuz innerer Reinigung und äusserer schwerer That tragen mögen, sei es auch unserem eigensten Ich zum Trotz. Der dritte Zug ist unsere rechtgläubige Religion, die niemals und nirgends, wie etwa der Katholizismus und Protestantismus (von den anderen zu schweigen), als streitende Kirche aufgetreten ist.“
Fügen wir noch zwei kleine, sehr bezeichnende Episoden aus Dostojewskys Erlebnissen hinzu, die hierher gehören, so haben wir annähernd ein Bild von dem Milieu gewonnen, aus dem heraus sich dieser Dichter-Genius entwickelt und auf das er hinwieder gewirkt hat.
K. Aksakow erzählt im März 1881, schon nach Dostojewskys Tode, folgendes: Auf einer Durchreise Dostojewskys geschah es, dass er sich in Moskau aufhielt und uns besuchte. Er begann unter anderem mit einer Art Begeisterung von dem verstorbenen Kaiser Nikolaus Pawlowitsch zu sprechen; davon, wie sich auf dem Hintergrunde der Vergangenheit das historische Bild dieses Monarchen grossartig abhebt, eines Monarchen, der fest an seine Würde, an sein Recht glaubte, und wie sympathisch ihm, Dostojewsky, dieses Bild sei. Während unseres Gespräches trat der englische Reisende Mackenzie Wallace bei uns ein, welcher schon einmal drei Jahre in Russland gelebt hatte, das Russische vortrefflich sprach und mit der russischen Litteratur sehr vertraut war. Als er erfuhr, dass er Dostojewsky vor sich habe, entbrannte seine Neugierde und er lauschte gespannt dem bei seinem Eintritte unterbrochenen und von Dostojewsky wieder aufgenommenen Gespräch über Nikolaus Pawlowitsch. Dostojewsky führte seine Rede zu Ende, ohne den Engländer im geringsten zu beachten, und entfernte sich bald darauf.
„Sie sagen, dies sei Dostojewsky,“ fragte uns der Engländer. „Ja wohl.“ „Der Verfasser des ‚Totenhauses‘?“ „Derselbe.“ „Das kann nicht sein; er ist ja doch zur Zwangsarbeit verschickt gewesen.“ „Ganz richtig, was weiter?“ „Ja, wie kann er denn einen Menschen loben, der ihn zur Zwangsarbeit verurteilt hat?“ „Euch Ausländern ist das schwer zu begreifen,“ antworteten wir, — „uns aber ist es als ein durchaus nationaler Zug begreiflich.“
Als zweites, den nationalen Zug bezeichnendes Erlebnis erzählt K. Slutschewsky, Dostojewsky sei einige Monate vor seinem Tode auf einen Ball in irgend eine höhere Schule gekommen. Die Jugend, auf die er damals schon grossen Einfluss gewonnen hatte und die er immer aufrichtig liebte, war hoch erfreut und drängte sich dicht um ihn.
„Wir fingen zu plaudern an,“ erzählt er selbst, „und sie begannen eine Diskussion. Sie baten mich, ich solle von Christus reden. Ich fing an zu sprechen und sie lauschten mit grosser Aufmerksamkeit.“ „Eine Predigt über Christus auf einem Balle und nicht im geringsten durch die Musik und den Tanz zurückgeschreckt — fährt Slutschewsky fort — das Lob des Machthabers, der uns zur Zwangsarbeit verurteilte — wo könnte das jemals vorkommen als in Russland?“
Und nun wenden wir uns dem Lebenslauf des Dichters zu. Wir verdanken, was wir davon wissen, den zu einem Buche vereinigten Aufzeichnungen zweier seiner nächsten Bekannten, welchen die Witwe des Dichters die Durchsicht seiner Papiere und Briefe anvertraute, dem Litterarhistoriker Orest Miller, welchem auch ein bedingter Einblick in die Papiere des Prozesses Petraschewsky zugestanden wurde (was er jedoch nicht auszunutzen verstand) und dem mehrjährigen publizistischen Mitarbeiter Dostojewskys, Kritiker Nikolai Nikolaiewitch Strachow, ferner den Erzählungen seiner Witwe, Anna Grigorjewna Dostojewskaia, alter Bekannter, guter Freunde und Feinde, vor allem aber dem „Tagebuch eines Schriftstellers“, jenem Blatte, das der Dichter in seinen letzten Lebensjahren allein besorgte und das sehr viel autobiographisches Material enthält.
Orest Miller und Nik. Strachow haben sicher mit grosser Pietät alles zusammengetragen, was sie teils selbst miterlebten, teils durch Mitteilungen anderer, namentlich eines jüngeren Bruders, Andreas, sowie der Gattin des Dichters erlangten. Allein es will uns, besonders nach einigem Einblick in die intimere Korrespondenz des Dichters scheinen, als ob sie bei der Wahl jener Briefe, die sie der Öffentlichkeit übergaben, schlecht beraten gewesen seien und manchen intimen Brief ganz unbeschadet der Diskretion mit anderen hätten vertauschen sollen, die sich in immerwährenden Wiederholungen der Geldnot und Schuldenkalamitäten bewegen. Es ist, als hätte ein neidischer Geist heimlich da seinen Spuk getrieben, um einen Dichter, dessen Tod von Hunderttausenden öffentlich betrauert wurde, dessen Leichenzug ganz Petersburg war, dessen Hülle 63 Deputationen Kränze brachten und der Hof die letzte Ehre erwies, nicht allzusehr aufkommen zu lassen, sondern all diese Teilnahme lieber als einzelnes, die Leiden eines Kämpfenden verherrlichendes Faktum hinzustellen, als sie zu Ungunsten lebender Dichter auch noch durch eine bedeutende Korrespondenz zu bestätigen. Indessen sind auch die veröffentlichten Briefe interessant genug, um auszugsweise daraus Lebensdokumente herzuholen, was im weiteren Verlaufe unserer Aufzeichnungen an seiner Stelle geschehen wird. Die erwähnten Wiederholungen schildern, wie schon gesagt, unzählige immer wiederkehrende Sorgen, zeugen von Geldverlegenheiten, von einer unglaublich sich fortspinnenden Misere, einem ewigen Ringen um die Bestreitung des täglichen Unterhaltes für sich und die Seinen. Wir bekommen durch sie einen Blick in die unaufhörlichen Kämpfe mit Not, Krankheit, Widerwärtigkeiten aller Art, und staunen immer wieder über die ausserordentliche Kraft, die das alles überwand.
II.
Kindheit und Jugend.
(1821-1849.)
Theodor Michailowitsch Dostojewsky war der Sohn eines in Civildienste übergetretenen Militär-Arztes, welcher unter dem Titel eines Stabsarztes im Moskauer Armenspital angestellt war, wo er mit seiner zahlreichen Familie eine aus zwei, später drei Zimmern, einem Vorzimmer und einer Küche bestehende Wohnung einnahm. Bei der Knappheit der Räumlichkeiten half man sich, wie man sich in den minder wohlhabenden Familien in Russland zu helfen pflegt, mit dem Holzverschlag. Ein solcher Holzverschlag teilte das Vorzimmer in zwei Teile, wovon der vordere, mit dem Fenster versehene als Entrée, der rückwärtige, halb finstere Teil als Schlafzimmer der beiden ältesten Kinder, Michael und Theodor, diente.
Theodor M. Dostojewsky wurde am 30. Oktober 1821 geboren. Zu seinen ersten Erinnerungen gehört jene aus seinem dritten Lebensjahre, dass er einmal von der Kinderfrau in die gute Stube geführt und veranlasst worden war, hier, vor der „heiligen Ecke“ kniend, in Gegenwart einiger Freunde der Eltern sein tägliches Abendgebet aufzusagen. Das Gebet lautete: „Alle Zuversicht, Herr, lege ich auf dich, Mutter Gottes, nimm mich unter deinen Schutz.“ Den Wortlaut dieses Gebets hat er sein Leben lang bewahrt und dieses später seinen Kindern übermittelt. Vier Jahre alt wurde er schon ans Buch gesetzt. Den ersten Unterricht im Buchstabieren nach alter Methode besorgte die Mutter, später bekamen die Knaben einen Lehrer für französische Sprache und die üblichen Schulgegenstände, sowie als Religionslehrer einen Diakon, welcher ihnen „die hundertundvier Geschichten des alten und neuen Bundes“ vortrug und damit den grössten Eindruck auf sie machte.
Man muss hier beide Brüder immer zusammen nennen, denn es verband sie ausser der Kameradschaft so naher Altersgenossen (sie waren nämlich nur um ein Jahr im Alter von einander getrennt) ein Band innigster Freundschaft, das ihr ganzes Leben hindurch währte. Der ältere, Michael, war jedoch durchaus anders veranlagt als Theodor, welcher überschäumend von Temperament war, „das reine Feuer“, wie ihn die Eltern nannten. Er war natürlich Angeber und Anführer in allen Spielen, während sich Michael ihm widerstandslos unterwarf. An Winterabenden war es zumeist ein Kartenspiel, das sie nach ihrem streng verbrachten Arbeitstage vornahmen, wobei Theodor, in seiner Ungeduld zu gewinnen, sehr oft betrog.
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