Sex Revolts. Simon Reynolds
es in der Gegenwart eine auffällige Aktualität entwickelt. Auf die Gefahr hin, uns für unsere Voraussicht zu sehr selbst zu loben: Man kann sagen, dass Sex Revolts seiner Zeit in mancher Hinsicht voraus war.
Der erste Teil des Buches, der sich mit der, wie wir es nannten, »Misogynie der Rebellen« beschäftigt, findet heute weniger in der Musikszene Widerhall (auch wenn es hier immer noch viel Misogynie gibt, vor allem in der Welt des Trap Rap) als vielmehr in der Weltpolitik. Hier bilden ein wiederauflebender Kult alpha-männlicher Macht und der damit einhergehende, aggressive Antifeminismus die Grundpfeiler des Versuchs, weltweit traditionelle Werte, darunter auch Gender-Hierarchien und Geschlechterrollen, wiederherzustellen. Wie Angela Nagle in ihrer 2017 erschienenen Polemik Die digitale Gegenrevolution: Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump1 darlegt, beruht der Aufstieg der Alt-Right unter anderem darauf, dass provokative, auf Empörung abzielende Strategien, die vormals dem Lager der toleranten Kulturlinken zugerechnet wurden, an den finstersten und reaktionärsten Rändern von Protofaschismus und Anarcholibertarismus eine neue Heimat fanden. Eine in den 1950ern und 1960ern entstandene, mit Figuren wie den Beat-Poeten, Lenny Bruce und den Yippies2 verknüpfte Macho-Version von Freiheit – schonungslose Darstellungen der Wahrheit, Verweigerung von Selbstzensur, Profanität und Beleidigungen (vorgeblich um deren Macht zu entschärfen) – ist von genau denen vereinnahmt worden, die damals die Gegenspieler der Gegenkultur gewesen wären.
War es einst die prüde, verängstigte Bourgeoisie, die von der Gegenkultur ins Visier genommen wurde, sind es nun Progressive, die mit absichtlich beleidigenden Aussagen attackiert werden – und manchmal auch körperlich. Es gibt neue Normen, die es zu verletzen, und neue »Spießer«, die es zu provozieren gilt – und so trampeln die Alt-Right-Krieger gegen soziale Ungerechtigkeit schadenfroh auf allem herum, was Liberalen und Progressiven wichtig ist. Die libidinöse Ökonomie3 hinter dieser neurechten Gegenkultur ist ihrer Vorgängerin aus den 1950ern/60ern gefährlich nahe. Eine der berüchtigtsten und bekanntesten Figuren, die die Alt-Right hervorbrachte, wetterte gegen eine dominante Kultur der »Kindermädchen und Sprachpolizisten«. Der Begriff »Kindermädchen« – eine mütterliche, weibliche Autoritätsfigur, die unartige Jungs herumkommandiert und sie in Schach hält – erinnert sehr an die Figur der Oberschwester Ratched aus Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest, die die Virilität von Männern aus der Vorstadt unterdrückt, die in ihrer Psychiatrieabteilung gelandet sind. Die paranoide Ungeduld der Alt-Right gegenüber politischer Korrektheit, sicheren Rückzugsorten, Warnhinweisen auf mögliche Auslösereize etc. entstammt der tief sitzenden Überzeugung, dass diese mit untragbaren Beschränkungen des männlichen Rechts auf Gehässigkeit einhergehen würden.
Sensibilität – sei es die eigene oder diejenige gegenüber der Verletzbarkeit anderer – wird heute gemeinhin als Zeichen von Schwäche und übertriebener Empfindsamkeit (daher auch der Begriff snowflake – Schneeflocke) gedeutet, dem durch eine Verhärtung der charakterlichen Panzerung entgegengewirkt werden müsse. Auf ähnliche Weise werden Männer, die sich als Feministen sehen oder weniger aggressiv und dominierend durchs Leben gehen, als unmännlich und gezähmt angesehen (als cucks, ein Kürzel für cuckolded – ein Mann, dessen Frau ihm Hörner aufsetzt, indem sie ihn betrügt). Der Begriff cuck stammt aus der Online-Porno-Kultur, snowflake hingegen wurde ursprünglich von Chuck Palahniuk in dessen Roman Fight Club geprägt, der ein Jahr nach Sex Revolts erschien. In Fight Club wenden sich verwirrte, wütende junge Männer gegen die softness des »neuen Mannes« und die metrosexuelle Konsumgesellschaft, die aus ihrer Sicht für eine verführerische, hinterhältige Dekadenz steht, die Männer von innen schwächt. Ihre Lösungen verweisen auf Nietzsche: »Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.« Es ist nicht so, dass es heute eine Krise der Maskulinität4 gäbe. Die Maskulinität selbst ist die Krise: ein Nährboden für Widersprüche und Konflikte, für gespaltene Impulse und Sehnsüchte, die niemals in ein Gleichgewicht gebracht werden können, sodass sie sich entweder in einer Explosion Ausdruck verschaffen oder mit Beruhigungsmitteln unterdrückt werden müssen.
Der Weg von Palahniuks düsterer Satire zum gegenwärtigen Protofaschismus führt über ein Revival des Momism, eines kulturellen Phänomens im Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg, das in Sex Revolts als Vorstufe zum Aufkommen von Gegenkultur und Rockrebellion gedeutet wird. Das Wachstum von Konsumgesellschaft, Massenmedien und Vorstädten wurde von manchen amerikanischen Kritikern mit einem Matriarchat gleichgesetzt, das Entmannung und Domestizierung vorangetrieben und den auf rauer, martialischer Männlichkeit basierenden Pioniergeist nahezu ausgerottet habe, auf dessen Prinzipien die Nation gegründet worden sei. Das Überleben dieser Reflexe kann man in Amerika etwa am paranoiden Waffenbesitzfetisch erkennen. Ein fanatischer Jäger wie der Hardrocker und Trump-Unterstützer Ted Nugent – der es trotz seines phallischen Gitarrenspiels und seines Images als »wilder Mann« nicht in Sex Revolts geschafft hat – zeigt, wie Rebellion zu streitsüchtiger Reaktion werden kann. Von Ted Nugents Sicht auf Mutter Natur als Selbstbedienungsladen für Jäger ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Rohstoffindustrie und ihren Bemühungen, Maßnahmen zum Umweltschutz zurückzudrängen, um die Rohstoffe der Erde besser plündern und missbrauchen zu können. Das englische Wort fracking klingt nach einem gewalttätigen sexuellen Akt, der es gewissermaßen auch ist.
Einer der wichtigsten Einflüsse für Sex Revolts war das 1977 erschienene Buch Männerphantasien von Klaus Theweleit, eine Studie der protofaschistischen Psyche, die zum Großteil auf Aufzeichnungen der Freikorps direkt nach dem Ersten Weltkrieg basiert. Es war besorgniserregend zu sehen, wie die bildlichen Ausdrücke, die sich durch Theweleits Analyse ziehen – der Sumpf der Korruption, verseuchende Flutwellen an Immigranten, die Krankheiten und Kriminalität mitbringen, die dringende Notwendigkeit, Verteidigungsmauern zu errichten, um diese Bedrohung abzuwehren –, in der gesamten westlichen Welt in Wahlkampagnen wieder auftauchen. Zwar können auch Frauen den Reiz faschistischer Sehnsucht spüren, doch gibt es keinen Zweifel, dass Männer besonders anfällig für die Ängste sind, die aktuell geschürt werden: Auch wenn reale politische Themen oder Probleme dahinterstehen, sind sie doch ebenfalls trügerische Platzhalter und Requisiten, Verdrängungen und Kompensationen in den inneren psychischen Konflikten eines erodierenden und immer irrelevanter werdenden Männlichkeitsideals.
Man muss gar nicht allzu weit blicken, um zu erkennen, dass sich Maskulinismus, Militarismus und die hyperindustrielle Ausbeutung von Mutter Natur auf der einen Seite befinden und Feminismus, Pazifismus und Umweltschutz logischerweise auf der anderen. In Sex Revolts verfolgen wir, wie sich diese Gegensätze in der Rockgeschichte spiegeln. Der Rockrebellion als einer dynamischen und dominierenden Abenteuerlust, die sich von den Zwängen des domestizierten Lebens löst und ihre Wildheit auf die Welt überträgt, setzen wir eine »soft-männliche« Passivität und eine von jeglichem Ego befreite Haltung entgegen, die ihren ersten Ausdruck in der Psychedelic und ihren Höhepunkt im Ambient findet (quasi eine Rebellion gegen die Rebellion).
Ein so deutlich umrissenes Schema läuft immer Gefahr zu übertreiben oder zu generalisieren: Blickt man einzig auf die größeren Wahrheiten dahinter, verpasst man die subtilen Ausnahmen. Andererseits will Sex Revolts aber auch gar nicht die komplette Rockgeschichte erzählen, weder des gleichnamigen Genres noch der dazugehörigen Kultur. Rock beinhaltet mehr als nur die Psychodynamik von Genderfragen: Da gibt es die elektrische Gitarre, die Tänze, das Konzept von Adoleszenz, die Kollision regionaler amerikanischer Musiktraditionen mit den Massenmedien, Drogen, Aufnahmetechnik und und und …
Aus diesem Grund berücksichtigt unsere Analyse der besprochenen Künstlerinnen und Künstler nicht alles, was an ihrem Werk oder ihrer Person interessant, wertvoll oder einzigartig ist. Wir versuchen uns an keinen definitiven Statements über das Werk und die Karrieren von, sagen wir, Nick Cave, Van Morrison oder Joni Mitchell. Das Werk wirklich origineller Künstlerpersönlichkeiten funktioniert über eine Interaktion unterschiedlicher Faktoren;