Das Chagrinleder. Оноре де Бальзак

Das Chagrinleder - Оноре де Бальзак


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Zeigefinger hochgehalten hatte, um es den Anwesenden zu zeigen. »Der ist so überspannt, dass er sich ins Wasser stürzen wird«, sagte ein Gewohnheitsspieler mit einem Blick auf die andern, die einander alle kannten.

      »Ach was!« rief der Saaldiener und nahm eine Prise Tabak.

      »Hätten wir es nur gemacht wie der Monsieur dort!« sagte einer von den Greisen zu seinen Kollegen und deutete auf den Italiener.

      Alle sahen auf den glücklichen Gewinner, dessen Hände beim Zählen der Banknoten zitterten.

      »Ich habe eine Stimme gehört, die mir ins Ohr rief, das Spiel werde gegen die Verzweiflung dieses jungen Mannes recht behalten«, sagte er.

      »Das war kein Spieler«, meinte der Bankhalter, »sonst hätte er sein Geld in drei Teile geteilt, um bessere Gewinnchancen zu haben.«

      Der junge Mann wollte hinausgehen, ohne seinen Hut zu verlangen; aber der alte Wachhund hatte den armseligen Zustand dieser Kopfbedeckung bemerkt und reichte sie ihm wortlos hin. Der Spieler gab mit mechanischer Bewegung die Garderobenmarke zurück und stieg die Treppe hinunter, indem er ›Di tanti palpiti‹ [* »Di tanti palpiti«: Anfangsworte der Schlusskabaletta aus der Oper »Tankred« (1831) von Rossini] pfiff, aber so leise, dass er die reizende Melodie kaum selbst vernahm.

      Er befand sich bald unter den Bogengängen des Palais-Royal, ging bis zur Rue Saint-Honore, schlug dann den Weg zu den Tuilerien [* Tuilerien: ehemaliges Stadtschloss der französischen Könige in Paris, Residenz Napoleons und der nachfolgenden Herrscher Frankreichs, mit einem großen Park] ein und durchquerte unschlüssig den Park. Er lief, als wäre er mitten in einer Wüste; Menschen stießen ihn, die er nicht sah, er hörte durch das Geschrei der Menge hindurch nur eine Stimme: die des Todes. Er war in ein lähmendes Nachdenken verloren, wie es einst jene dem Schafott Bestimmten befiel, die ein Karren vom Justizpalast zur Place de Grève führte, zu jenem Richtplatz, der getränkt ist von all dem Blut, das seit 1793 [* seit 1793: Anspielung auf die als »Schreckenszeit« bezeichnete Periode der Französischen Revolution, in der die revolutionär-demokratische Diktatur der Jakobiner herrschte] dort vergossen wurde.

      Etwas Großes und Entsetzliches liegt im Selbstmord. Bei den meisten Menschen ist ein Sturz so ungefährlich wie bei Kindern, die zu niedrig fallen, um sich ernstlich zu verletzen; aber wenn ein großer Mann zerschmettert, muss er aus großer Höhe gefallen sein, muss er sich bis zu den Himmeln erhoben und ein unerreichbares Paradies erschaut haben. Unerbittlich müssen die Gewalten sein, die ihn treiben, von der Mündung einer Pistole Frieden für seine Seele zu erlangen. Wieviel junge Talente verzehren sich und gehen, in einer Mansarde eingesperrt, zugrunde, weil ihnen ein Freund fehlt, eine Frau, die sie tröstet, und das inmitten von Millionen von Wesen, angesichts einer am Gold übersättigten, von Langeweile gepeinigten Menge! Wenn man dies bedenkt, erscheint der Selbstmord ungeheuerlich. Gott allein weiß, wieviel Entwürfe, unvollendete Dichtungen, wieviel Verzweiflung und erstickte Schmerzensschreie, wieviel misslungene Versuche und verworfene Meisterwerke zwischen dem freiwilligen Tode und der keimenden Hoffnung liegen, deren Stimme den jungen Mann einst nach Paris gelockt hat. Jeder Selbstmord ist ein Poem von erhabener Melancholie. Wo fände man im Ozean der Literaturen ein die Zeiten überdauerndes Buch, das sich an Poesie mit dieser Zeitungsnotiz messen könnte: ›Gestern um vier Uhr stürzte sich eine junge Frau vom Pont-des-Arts in die Seine.‹

      Vor diesem Pariser Lakonismus verblassen alle Dramen und Romane, selbst jenes alte Titelblatt: ›Die Klagen des ruhmreichen Königs von Kaërnavan, den seine Kinder in den Kerker warfen‹; der einzige Überrest eines verlorengegangenen Buches, das den harten Sterne, der doch selbst Frau und Kinder verlassen hatte, zum Weinen brachte.

      Tausend ähnliche Gedanken stürmten auf den Unbekannten ein, jagten bruchstückhaft an seinem inneren Auge vorüber, zerfetzten Fahnen gleich, die mitten im Schlachtgetümmel aufflattern. Warf er einen kurzen Augenblick lang die Last seiner Gedanken und Erinnerungen ab, um vor einigen Blumen still zu stehen, deren Blüten sich auf der weiten Rasenfläche sacht im Wind wiegten, durchzuckte ihn dann das Leben, das sich noch bäumte unter dem lastenden Todesgedanken, hob er die Augen zum Himmel: doch dort rieten ihm die grauen Wolken, die trauerbeladenen Windstöße, die niederdrückende Atmosphäre zu sterben. Er nahm den Weg zum Pont Royal und sann über die letzten seltsamen Einfälle seiner Vorgänger nach. Er musste lächeln, als ihm einfiel, dass Lord Castlereagh [* Lord Castlereagh, Henri Robert Stewart, Marquis von Londonderry (1769-1822): englischer Staatsmann, Bevollmächtigter Englands auf dem Wiener Kongress, endete durch Selbstmord] erst das bescheidenste menschliche Bedürfnis befriedigt hatte, bevor er sich die Kehle durchschnitt, und dass Auger, [*Auger, Louis-Simon (1772-1829): französischer Literaturkritiker] sein Leben durch Selbstmord beendete. Mitglied der Akademie, seine Tabaksdose geholt hatte, um auf dem Weg zum Tode schnupfen zu können. Er durchdachte diese Absonderlichkeiten und befragte sich daraufhin selbst, wobei er sich dabei ertappte, wie er sorgsam den weißen Staub abschüttelte, mit dem ein Lastträger der Hallen, welchem er, dicht an das Brückengeländer gepresst, ausgewichen war, seinen Rockärmel beschmutzt hatte. Als er auf dem höchsten Punkt der Brückenwölbung angelangt war, starrte er trübsinnig ins Wasser.

      »Schlechtes Wetter, sich zu ertränken!« rief ihm ein altes, zerlumptes Weib lachend zu. »Die Seine ist kalt und schmutzig!«

      Er antwortete mit einem knabenhaften Lächeln, das den ganzen Wahnwitz seines Entschlusses bewies; aber plötzlich schauderte er, als er in der Ferne am Hafen der Tuilerien über einer Baracke in fußhohen Lettern die Aufschrift erblickte: ›Rettungsstation‹. Monsieur Dacheux [* Monsieur Dacheux: 1830 Inspektor der für die erste Hilfe Ertrinkender längs der Seine errichteten Rettungsstützpunkte] erschien ihm im Rüstzeug seiner Philanthropie, wie er jene tugendhaften Ruderstangen in Bewegung setzte, die den Ertrinkenden die Schädeldecke einschlagen, wenn sie unglückseligerweise noch einmal an die Wasseroberfläche gelangen. Er sah ihn die neugierigen Gaffer herbeilocken, einen Arzt auftreiben, Tabakrauch bereithalten; [* ... Tabakrauch bereithalten: mit Hilfe einer besonderen Spritze wurde den aus dem Wasser Geretteten Tabakrauch durch den After in den Dickdarm geblasen] er las die Todesmeldungen der Journalisten, die sie zwischen der Ausgelassenheit eines Gelages und dem Lächeln einer Tänzerin niedergeschrieben hatten, hörte die Taler klingen, die der Polizeipräfekt den Bootsführern für seinen Kopf auszahlte. Tot war er 50 Francs wert, lebend war er nichts weiter als ein talentvoller junger Mann ohne Protektion, ohne Freunde, ohne Strohsack als Lager, ohne Bedeutung, eine wahre soziale Null, ohne Nutzen für den Staat, der sich um ihn nicht scherte. Ein Tod am hellichten Tag erschien ihm würdelos, er beschloss in der Nacht zu sterben, um dieser Gesellschaft, die die Größe seines Lebens nicht zu schätzen wusste, einen unkenntlichen Leichnam zu hinterlassen. Er setzte also seinen Weg fort und wandte sich, schlendernd wie ein Müßiggänger, der die Zeit totschlagen will, zum Quai Voltaire. Als er die Stufen, in die die Brücke ausläuft, hinabstieg, wurde seine Aufmerksamkeit an der Ecke des Quais von alten Büchern angezogen, die auf der Brüstung ausgebreitet waren; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte einige davon erhandelt. Er musste wieder lächeln, steckte die Hände philosophierend in die Hosentaschen und nahm wieder die unbekümmerte, von kalter Verachtung durchdrungene Haltung an, als er zu seiner Überraschung in seiner Tasche einige Geldstücke auf eine wahrhaft phantastische Art klingen hörte. Ein Hoffnungsschimmer erhellte sein Gesicht, glitt von den Lippen über Wangen und Stirn und ließ seine Augen vor Freude strahlen. Doch dieser Funke Glück glich dem Aufglimmen eines Stück Papiers, das die Flamme bereits verzehrt hat; und so wie dieser in schwarzer Asche verlischt, verdüsterte sich das Antlitz des Unbekannten wieder, als er die Hand hastig aus der Tasche zog und drei große Sous erblickte.

      »Ach, lieber Monsieur, la carità! La carità! Catarina! Nur einen kleinen Sou für Brot!«

      Ein kleiner Schornsteinfeger mit aufgedunsenem schwarzen Gesicht, rußigbraunem Körper und zerlumpten Kleidern, streckte die Hand aus, um ihm das letzte Geld abzubetteln.

      Zwei Schritte von dem kleinen Savoyarden entfernt, stand ein armer, demütiger Alter, hinfällig, bedürftig und elend, in eine zerschlissene Tapisserie gehüllt, der ihn mit dumpfer eindringlicher Stimme bat: »Monsieur, geben Sie mir, was Sie wollen, ich werde für Sie beten...« Aber als der junge Mann den Alten angeblickt hatte, verstummte dieser und verlangte nichts mehr. Es mochte


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