Das Chagrinleder. Оноре де Бальзак

Das Chagrinleder - Оноре де Бальзак


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      Der Unbekannte warf dem Knaben und dem armen Alten sein Geld hin, verließ den Uferweg und ging zu den Häusern hinüber, da ihm der quälende Anblick der Seine unerträglich geworden war.

      »Wir werden Gott um die Erhaltung Ihrer Tage bitten«, riefen ihm die beiden Bettler nach.

      An der Auslage eines Kunsthändlers sah der junge Mann, der den Lebenden schon fast nicht mehr angehörte, eine junge Frau aus einer glänzenden Equipage steigen. Hingerissen blickte er auf die reizende Erscheinung, deren zartes Gesicht sich von dem Atlas ihres eleganten Hutes harmonisch abhob. Die schlanke Gestalt, die anmutigen Bewegungen entzückten ihn. Das Kleid wurde beim Aussteigen aus dem Wagen leicht zurückgeschlagen und ließ ein wohlgeformtes Bein sehen, das ein weißer Strumpf fein umspannte. Die junge Frau betrat den Laden und ließ sich Alben, Sammlungen von Lithographien vorlegen und kaufte für mehrere Goldstücke, die auf dem Ladentisch funkelten und klangen. Der junge Mann, der an der Türschwelle scheinbar damit beschäftigt war, die Gravüren in der Auslage zu betrachten, sandte der schönen Unbekannten die glühendsten Blicke, zu denen ein Mann fähig ist, sie hingegen blickte nur einmal unbekümmert zu ihm hin, wie man zufällig irgendeinen Passanten ansieht. Für ihn war es ein Abschied von der Liebe, von den Frauen! Aber dieser letzte, inbrünstige Hilferuf glitt unverstanden ab, rührte das Herz dieser leichtfertigen Frau nicht, ließ sie nicht erröten, nicht die Augen niederschlagen. Was war es für sie? Ein Zeichen der Bewunderung mehr, ein Verlangen, das sie eingeflößt hatte und das ihr am Abend die schmeichelnden Worte eingab: ›Ich habe heute ,gut' ausgesehen.‹ Der junge Mann schritt rasch zu einem anderen Fenster und drehte sich nicht mehr um, als die Unbekannte ihren Wagen bestieg. Die Pferde zogen an, und diese letzte Vision des Luxus und der Schönheit schwand dahin, wie sein Leben dahinschwinden sollte. Melancholischen Schrittes ging er an den Geschäften vorbei und sah sich ohne großes Interesse die ausgelegten Waren an. Als die Läden aufhörten, betrachtete er den Louvre, das Institut, die Türme von Notre-Dame und vom Justizpalast und den Pont-des-Arts. Diese Bauwerke schienen traurig auszusehen unter dem grauen Widerschein des Himmels, durch den hie und da ein heller Strahl drang, der Paris bedrohlich wirken ließ, denn diese Stadt unterhegt wie eine hübsche Frau unerklärlichen Anwandlungen von Schönheit und Hässlichkeit. So schien sich die Natur selbst verschworen zu haben, den Todheischenden in schmerzliche Ekstase zu tauchen. Jener unheilvollen Macht ausgeliefert, deren zersetzende Wirkung mit dem Strom unserer Nerven den ganzen Organismus durchdringt, war es ihm, als ob sein Körper sich allmählich einem Schwebezustand näherte. Unter dem Ansturm dieser Todespein schwankte er gleich einer aufgepeitschten Welle und nahm Gebäude und Menschen wie durch einen Nebel wahr, in dem alles wogte und verschwamm. Er wollte sich dem Druck entziehen, den diese Auflehnung seiner physischen Natur auf seine Seele ausübte, und ging auf einen Antiquitätenladen zu, wo er seine Sinne abzulenken oder beim Handeln um Kunstgegenstände die Nacht zu erwarten beabsichtigte. Er tat dies sozusagen, um sich Mut zu machen und eine Herzstärkung zu sich zu nehmen, wie die Verbrecher, die auf ihrem Gang zum Schafott ihrer Kraft nicht trauen. Doch das Bewusstsein seines nahen Todes lieh dem jungen Mann für einen Augenblick die Sicherheit einer Herzogin, die zwei Liebhaber hat, und so trat er unbefangen, mit dem starren Lächeln eines Trunkenen, in den Laden des Antiquitätenhändlers. War er denn nicht trunken vom Leben oder vielmehr vom Tode? Bald befiel ihn wieder der Schwindel, und die Gegenstände erschienen ihm in seltsamen Farben oder verschoben sich leicht, als wären sie belebt, was höchstwahrscheinlich dem unregelmäßigen Kreisen seines Blutes zuzuschreiben war, das bald kaskadengleich brauste, bald matt und träg wie laues Wasser dahinfloss. Er erklärte einfach, die Lagerräume besichtigen zu wollen, um dort etwaige Kuriositäten ausfindig zu machen, die ihm zusagten. Ein frischer, pausbäckiger Bursche mit rotem Haarschopf, auf dem eine Ottermütze saß, übertrug die Aufsicht des Ladens einer alten Bäuerin, einer Art weiblichen Calibans, [*Caliban: Gestalt aus dem Drama »Der Sturm« (1611) von Shakespeare (1564-1616)] die gerade einen Ofen säuberte, ein Wunderwerk des genialen Bernard Palissy; [* Bernard Palissy (1510-1589 oder 1590): französischer Glasmaler, Kunsttöpfer und Naturwissenschaftler; entdeckte das Verfahren, Tongefäße mit farbigem Email herzustellen. Seine dekorativen Zwecken dienenden Tonarbeiten schmückten tierische und pflanzliche Darstellungen] dann sagte er mit sorgloser Miene zu dem Fremden: »Schauen Sie sich nur um, Monsieur! Hier unten sind nur ganz gewöhnliche Sachen. Wenn Sie sich aber die Mühe machen wollen, mit in die erste Etage hinaufzusteigen, kann ich Ihnen sehr schöne Mumien aus Kairo zeigen, mehrere inkrustierte Töpferarbeiten und ein paar Ebenholzschnitzereien, ›echte Renaissance‹ kürzlich erst eingetroffen und einfach wundervoll.«

      In seiner entsetzlichen Lage empfand der Unbekannte dieses Ciceronengeschwätz, [* Cicero, Marcus Tullus (106-43 v. Chr.): größter Redner des römischen Altertums, seine philosophischen Schriften wurden zum Vorbild für den klassischen lateinischen Stil] diese dummen Kaufmannsphrasen wie die albernen Scherze, mit denen beschränkte Geister einen Mann von Genie peinigen. Aber er trug sein Kreuz bis zum bitteren Ende, hörte seinem Führer mit halbem Ohre zu und antwortete mit Gesten und vereinzelten Worten. Doch nach und nach wusste er sich das Recht zu erobern, in Schweigen zu verharren, und konnte sich bedenkenlos seinen letzten grauenvollen Betrachtungen überlassen. Er war Poet, und unvermutet fand seine Seele hier Nahrung in Hülle und Fülle vor: er sollte die Gebeine aus zwanzig Welten im voraus zu sehen bekommen.

      Auf den ersten Blick boten ihm die Lagerräume ein wirres Bild, auf dem sich Weltliches und Heiliges durcheinanderhäufte. Ausgestopfte Krokodile, Affen, Riesenschlangen grinsten Kirchenfenster an, es schien, als wollten sie ihre Zähne in Büsten schlagen, nach Lackarbeiten haschen oder an Kronleuchtern emporklettern. Eine Sèvresvase mit dem Bild Napoleons von Madame Jaquotot [* Jaquotot, Marie-Victoire (1776-1835): Porzellanmalerin der Manufaktur von Sevres (Ort an der Seine, berühmt durch seine 1763 im Park von Saint-Cloud errichtete Porzellanmanufaktur)] stand neben einer dem Sesostris [* Sesostris: griechische Form eines altägyptischen Königsnamens] geweihten Sphinx. Die Anfänge der Welt und die Begebenheiten von gestern fanden sich auf eine grotesk friedliche Art miteinander verbunden. Ein Bratenwender lag auf einer Monstranz, ein republikanischer Säbel auf einer mittelalterlichen Hakenbüchse. Madame Dubarry, [* Dubarry, Jeanne Becu, Comtesse du Barry (1743-1793): lothringisches Bauernmädchen, Mätresse Ludwigs XV., 1793] hingerichtet von Latour [* Latour, Maurice Quentin de La Tour (1704-1788): französischer Pastellmaler, berühmt für seine Porträtdarstellungen] in Pastell gemalt, nackt, in einer Wolke mit einem Stern auf dem Kopf, schien lüstern einen türkischen Tschibuk [* Tschibuk: lange türkische Tabakspfeife] zu betrachten, als wollte sie den Zweck der sich ihr entgegenschlängelnden Spiralen ergründen. Werkzeuge des Todes, Dolche, seltsame Pistolen, Geheimwaffen, Rüstungen, lagen in buntem Durcheinander neben den Gerätschaften des Lebens: Porzellanschüsseln, Meißener Tellern, hauchdünnen chinesischen Tassen, antiken Salznäpfen, Konfektschalen aus adligem Familienbesitz. Ein Schiff aus Elfenbein wogte mit geschwellten Segeln auf dem Rücken einer reglosen Schildkröte. Eine Luftpumpe stieß dem Kaiser Augustus, der es erhaben kaltblütig hinzunehmen schien, ein Auge aus. Gefühllos wie zu ihren Lebzeiten schauten französische Schöffen und holländische Bürgermeister bleich und kalt von ihren Porträts auf dieses Chaos von antikem Kleinkram hernieder. Alle Länder der Erde schienen Überbleibsel ihrer Wissenschaften, eine Probe ihrer Kunst hierhergesandt zu haben. Es war eine Art philosophischen Kehrichthaufens, auf dem nichts fehlte, von der Friedenspfeife des Wilden bis zum grün-goldenen Pantoffel aus dem Serail, vom Krummschwert des Mauren bis zum Götzenbild der Tataren. Ja sogar der Tabaksbeutel des Soldaten, der Kelch des Priesters und die Federn von einem Thron waren da zu finden. Überdies wurde diese monströse Szenerie von tausendfach wechselnden bizarren Lichtreflexen beherrscht, die dem Wirrwarr der Farbtöne und dem schroffen Kontrast von Hell und Dunkel entsprangen. Das Ohr vermeinte, erstickte Schreie zu vernehmen, der Geist, unvollendete Dramen zu erfassen, das Auge, einen verborgenen Lichtschein zu erspähen. Hartnäckiger Staub hatte seinen leichten Schleier über alle Gegenstände gebreitet, deren zahlreiche Kanten und Rundungen die malerischsten Wirkungen hervorriefen.

      Der Fremde verglich diese drei mit den Produkten der Zivilisation, den Zeugnissen der verschiedensten Kulte, mit Gottheiten, Meisterwerken, königlichen Insignien, mit Ausschweifung, Vernunft und Tollheit vollgepfropften Räume zunächst einem Spiegel aus zahlreichen Facetten, deren jede eine Welt zeigt. Nach dem ersten verworrenen Eindruck wollte er einzelne Gegenstände auswählen


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