Endstation Alpenparadies. Markus Michel
einen kleinen Schluck vom roten Tischwein. Jedenfalls würde er Claire nicht erzählen, was er in der Metro gehört hat. Keinen Zweck. Die Bergers schweigen sich an, wie immer beim Essen.
Max schneidet wie immer einen Streifen von seinem Steak, schneidet den Streifen entzwei, steckt eine Hälfte in den Mund, kaut, schiebt ein paar Pommes frites nach, kaut. Immer wieder Pommes frites. Richtig fantasielos. Er trinkt einen kleinen Schluck vom roten Tischwein. Er hat beinahe die Hälfte des Steaks und der Pommes frites gegessen, als seine Frau unvermittelt das Schweigen bricht. Im ersten Stock würden neue Mieter einziehen. Zuerst habe man den alten Herrn nicht mehr gesehen, dann sei auch die alte Dame verschwunden, und jetzt würden bereits neue Mieter einziehen.
Was ginge sie das an! Muss man deshalb mitten im Essen …?!
Seine Frau schaut ihn an. Das merkt er, ohne den Blick zu heben. Er lässt die Hälfte des Steaks und der Pommes frites stehen.
Er liegt mit offenen Augen im Bett. Eine Polizeisirene schrillt durch die Nacht. Dreißig Jahre Buchhalter, erledigt gewissenhaft seine Arbeit, oft geht er sogar samstags hin, manchmal auch sonntags für ein paar Stunden.
Schritte im Treppenhaus. Die Schritte steigen hoch.
Und wenn es stimmen würde, was er in der Metro gehört hat?
Die Schritte steigen höher. Nichts mehr zu hören.
Sie kommen wieder herunter.
Die Schritte verstummen vor seiner Wohnungstür. Max starrt ins Dunkel des Schlafzimmers.
Unsinn! Alles Unsinn! Und alles nur wegen eines Hundedrecks! Sonst hätte er nie diese Metro genommen.
Die Schritte tappen weiter die Treppe hinunter. Dann ist es still.
Seine Frau neben ihm atmet ruhig und tief. Die hat natürlich ihre Wachskugeln in den Ohren! Soll er sie wecken! Er hat ja gar keinen plausiblen Grund.
Er ist hellwach. Wenn das, was die beiden Frauen erzählt haben, zutreffen würde, wie könnten sie in der Metro davon sprechen, als wäre es das Normalste der Welt!
Alpenparadies … Man ist doch kein Tier! Gut, irgendwie muss man die Überalterung in den Griff … Eine europäische Lösung drängt sich auf. Alpenparadies Dolce Vita … Irgendwo in der Schweiz. In den Bergen. Und erst dieser Test … Er ist noch nicht alt. Das leichte Schwindelgefühl heute Abend auf der Straße hat weiter nichts zu bedeuten, übrigens das erste Mal, ganz abgesehen davon leiden darunter Jüngere als er.
– 3 –
Max steht auf, zieht sich leise an, schleicht mit angehaltenem Atem aus der Wohnung. Erst auf der Straße wagt er normal zu gehen, normal zu atmen. Ein kühler Wind streicht durch die Äste der Bäume, treibt die Blätter über den Gehsteig. Etwas später steigt er die Treppen der Metrostation Villiers hinunter. Der Bahnsteig wie ausgestorben. Mitternacht ja schon vorbei. Ein Summen. Das Summen wird lauter. Gegenüber fährt eine Metro ein, fährt gleich darauf weiter. Ein paar Menschen verlassen den Bahnsteig. Max kratzt mit dem Nagel des Zeigefingers über die Kuppe des Daumens.
Er bemerkt ihn erst, als er direkt auf ihn zukommt. Der Mann mit Dreitagebart, brauner Lederjacke, auf dem Kopf eine Schiebermütze, hinter der die Haare leicht gelockt hervor wuchern, der Mann hat ihn ins Auge gefasst. Zu spät! Max kann nicht mehr ausweichen.
Dicht vor ihm bleibt der Mann stehen, fragt leise nach der Uhrzeit. Max versteht nicht, schaut nur verstört. Der Mann verneigt sich leicht und verschwindet im Korridor mit der Tafel «Ausgang».
«Reiß dich zusammen», befiehlt sich Max selbst. «Ein Mann in deinem Alter kann sich doch nicht einfach wegen eines Hirngespinsts aus der Bahn werfen lassen.»
Er steigt wie immer in «Sentier» aus. Er hat ganz zwangsläufig seinen Arbeitsweg gewählt. Kein Mensch zu sehen. Aus Pappschachteln am Straßenrand quellen bunte Stoffreste. Vor dem Hofeingang zu seiner Firma bleibt er kurz stehen, hastet weiter.
Beim Seitenausgang des Grand Rex bleibt er wieder stehen, ohne zu wissen, wer der Held ist, der überdimensional von der gemalten Kinoreklame auf ihn herunterschaut, er nimmt ihn gar nicht richtig wahr. Max geht zurück, biegt ab, erreicht nach ein paar Schritten den Place du Caire. Kairo … Vom Morgenland ist selbst in der Nacht nicht viel zu sehen. Trotz Sphinx, Hieroglyphen und Lotosblumen im Schein der Straßenlampen. An der Fassade von Nummer 2. Und reiner Zufall, dass sein Blick darauf fällt. Bereits vorbei, besinnt er sich. Wieder umkehren? Nein. Bereits vorbei. Leise lächelt er in sich hinein.
Hier war im Mittelalter ein Cour des Miracles, ein Hof der Wunder gewesen, hier ereignete sich jeden Tag neu das Wunder. Max erinnert sich, dies in seinem Reiseführer gelesen zu haben, der damals, während seines Praktikantenjahrs, sein treuer Kompagnon in den Straßen von Paris gewesen war. Jeden Morgen verließen Scharen von Krüppeln, von Blinden, Versehrten jeglicher Art den Hof, um in der Stadt zu betteln. Jeden Abend strömten sie zurück, warfen ihre Krücken, warfen ihre Binden, warfen ihre Holzbeine weg, soffen, schlemmten, feierten Orgien die ganze Nacht. Und das war das große Wunder! Da lohnte es sich, einer Heiligen eine Kerze anzuzünden. Ganze Schafe, Schweine und Rinder wurden am offenen Feuer gebraten, der Wein wurde fassweise angerollt und einmal angestochen, der Hahn nicht mehr zugedreht. Tausende von gut organisierten Landstreichern, Bettlern und kleinen Ganoven hatten hier ihren Unterschlupf, ihr Reservat, ihr Paradies. Sie wählten sogar ihren eigenen König. Die Polizei wagte sich nicht in das Gewirr der Gässchen, Passagen, Sackgassen, ein Labyrinth, das sehr leicht zu verteidigen und dessen Zentrum der stinkende, schlammige Hof war.
Träum nicht von der guten alten Zeit; einem Generalleutnant der Polizei gelang es schließlich, sie aus ihrem Bau zu verjagen, sie zu massakrieren, und wer noch nicht tot war, wurde gefoltert, bis er krepierte und die Zuschauer vor Freude und Grauen jauchzten.
Das Gewirr der Gässchen, Passagen, Sackgassen ist längst verschwunden, einfach abgerissen, wegrasiert, es entstanden andere Straßen, Passagen, mit Glasdach überdeckte Galerien, in denen sich, wie im ganzen Viertel von «Sentier», der Stoffgroßhandel niedergelassen hat.
Krüppel, Blinde, Versehrte jeglicher Art sind geblieben, geht Max durch den Kopf. Nur das große Wunder bleibt aus.
Er tritt durch das halboffene Gittertor in die um diese Zeit düstere Galerie du Caire, hat bereits die Hälfte der Passage hinter sich, als er erstaunt feststellt, in welch dunklen Gang er geraten ist. Glas. Auf beiden Seiten und über ihm. Glasscheiben. Er schaut zurück, späht vorwärts in die unbeleuchtete Galerie. Als er endlich den Ausgang, eine helle Scheibe am Ende des Tunnels, wahrnimmt, beschleunigt er seine Schritte. Das Gittertor ist geschlossen. Das Gefühl beschleicht ihn, in eine Falle geraten zu sein. Trotzdem nähert er sich, wenn auch langsamer. Das Tor lässt sich ohne Mühe aufstoßen. Max stolpert erleichtert hinaus auf einen kleinen Platz mit Bäumen. Zwischen den Schornsteinen ein zerbeulter Mond.
Die Gegend um Strasbourg St-Denis gilt nicht umsonst als verrufen, besonders in der Nacht. Das ist kein Hirngespinst. Selbst all die heiligen Straßennamen könnten nicht helfen.
Er geht weiter durch die enge Rue St-Foy mit ihren schiefen Häusern.
Plötzlich steht Max in einer Straße, in der für diese frühe Stunde noch außergewöhnlich viel Betrieb herrscht. Eine Autoschlange schleicht vorwärts, auf beiden Seiten strömen Menschen über den Gehsteig, hauptsächlich Männer. Die Damen lehnen sich an die Hauswände, stehen in schmalen Hoteleingängen Spalier, sitzen auf geparkten Autos und lassen lange Beine pendeln, tragen bis zu den Hüften aufgeschlitzte Röcke, hüllen sich nur in einen Pelz.
Und wie sie ihn locken, ihm zuflüstern! Er wechselt rasch die Straßenseite. An der nächsten Ecke streicht er um eine große Bar Tabac, linst so unauffällig wie möglich hinein. An der Theke drängt sich ein Volk von Nachtbummlern, Zuhältern, Huren.
Max biegt in die stille Rue St-Sauveur ein. Ein Mann stiefelt auf und ab. Als dieser Max erblickt, gibt er ein Zeichen. Was hat dies zu bedeuten? Max beschleicht erneut ein ungutes Gefühl.
Hinter einem geparkten Auto taucht