Endstation Alpenparadies. Markus Michel
geschminkt. Ein Röckchen, weiße Socken. Krampfadern. Sie sieht Max mit Augenaufschlag an. Die glaubt wohl, er sei blind!
Falls das mit dem Alpenparadies Dolce Vita nicht nur ein Gerücht ist, dann … Ein bisschen leid tut sie ihm schon. Dann würde sie über kurz oder lang … So auffällig wie sie sich benimmt. Oder eben gerade nicht. Zu auffällig, um aufzufallen. Das ist es. Aber so etwas liegt ihm nicht. Und wer weiß, ob sie nicht trotzdem … wie sagt man dem wohl? Ausgewählt? Dennoch hat er das Gefühl, als hätten sie es darauf angelegt, ihn zu verhöhnen. Erst die Bettlerin und jetzt diese schrullige Alte als Lolita.
«Nero! – Nero!»
Und was biegt um die Ecke? Ein Rehpinscher, eine etwas vergrößerte Ausgabe einer Kellerassel, trabt jetzt hinter Frauchen her. Im Vorbeigehen mustert ihn die Dame mit dem Hündchen. In ihren Augen liegt ein Ausdruck, als wüsste sie Bescheid.
Bestimmt verdankt er es so einem Liebling, dass er gestern Abend kurz vor dem Metroeingang eine braune Fußspur hinterließ.
Er weicht zur Seite. Ein Scherenschleifer schiebt sein farbiges Wägelchen mit einem mit Tretpedalen angetriebenen Schleifstein aus einem Durchgang. Max hat gar nicht gewusst, dass es das überhaupt noch gibt.
– 8 –
Der Krämer steht unter der Tür seines Ladens, trägt einen verwaschenen Berufsmantel, «Heiland Sandalen». In der Hand hält er eine Blechschale voller farbiger Bonbons, schiebt ein Bonbon in seinem Mund hin und her. Plötzlich spuckt er es zurück in die Schale und verschwindet in seinem kleinen Laden. Beim Vorübergehen wirft Max einen verstohlenen Blick hinein. Vollgestopft mit allerlei Krimskrams, verstaubtem Kinderspielzeug, Scherzartikeln. An der Wand eine Maske. Eine bösartige Fratze. Max entziffert auf dem Schildchen darunter: «Seni – der Senior». Der Krämer ist gerade dabei, die Bonbons aus der Schale in ein großes Glas zu schütten.
Als ob ihn jemand in den Bauch getreten hätte, kommt plötzlich alles gleichzeitig wieder in Max hoch. Der Direktor, dessen Visage, giftiger Zwerg, die Kündigung, ein Tritt in den Arsch ist das, aber nicht mit ihm, das muss er sich nicht bieten lassen, und diese Weiber in der Metro, Alpenparadies Dolce Vita, so ein Blödsinn, Getratsche, Alpenparadies, er ist noch nicht alt, wozu hat man sich all die Jahre eingesetzt, so kann man nicht mit ihm umspringen, man ist doch ein Mensch, nur zu, her mit den neuen Computern, an die Steckdose mit ihnen, merde, die ganze Welt vernetzt, Menschlichkeit schon längst nicht mehr gefragt, veraltet, weg damit, man wird ja sehen, wohin das führt, die beiden Frauen in der Metro hatten völlig recht, nom de Dieu, und all die Jahre sich eingesetzt für drei Mal nichts, dabei hätte er, wenn er nur gewollt, zu spät, all die Jahre gibt ihm keiner zurück, kleben geblieben wie eine Fliege, ein Fliegenleben, und dieser elende Krämer schüttet Bonbons von einem Glas ins andere, Bonbons, die er vorher abgeschmeckt hat!
In der Rue St-Denis stehen die Damen wieder in schmalen Hoteleingängen Spalier, lehnen sich an die Hauswand. Etwas weiter oben stehen sie sogar splitternackt in einem Schaufenster. Ein Mann ist dabei, einer von ihnen einen Slip anzuziehen. Hier scheint es verkehrt abzulaufen. Und jedermann kann zuschauen. Erst beim Näherkommen merkt Max, dass die nackten Damen Schaufensterpuppen sind, die, so nackt, ganz traurig in die Welt schauen.
Sie sitzt auf der Bank nebenan. Jung, das Gesicht hinter einem Buch versteckt, trägt eine grüne Bluse, in der sich die Brustwarzen abzeichnen. Max schaut verstohlen zu ihr hinüber. Ganz unverhofft spricht sie ihn an, fragt, weshalb er die ganze Zeit zu ihr herüberschaue, ob sie ihm behilflich sein könne.
Das … das Buch, stottert Max, der rote Ohren bekommen hat. Er … er rätsle die ganze Zeit, wie der Titel heißen möge.
«Wenn es mehr nicht ist», sagt die junge Frau leicht spöttisch, «Nordwand».
«Ah ja», entgegnet Max. Und nach einer Pause: «Sie sind ja angezogen, als hätten wir noch Sommer.»
Was das mit dem Buch zu tun habe, fragt sie erstaunt. Max versucht, ein Lächeln aufzusetzen.
Die alten Knacker sind doch einfach lächerlich, die jeder jungen Frau an den Arsch oder an die Brüste starren und sich noch einbilden, die würde für sie die Beine spreizen, das weiß er selbst.
Er ist noch jung, verdammt nochmal!
Sie könnte seine Tochter sein. Rechnen kann er noch, selbst als Buchhalter. Mit der eigenen Tochter. Der Gedanke wäre ihm nie … hatte ihn sich nicht verbieten müssen. Diese Frau ist jung, aber eben eine Frau, keine Tochter, und er … So ein kleiner Altersunterschied. Es gibt Männer, die werden mit siebzig noch … Ganz abgesehen davon. Bloß Fantasie.
Die junge Frau auf der Bank gegenüber klappt das Buch zu, latscht davon. Max schaut ihr nicht nach. Er fröstelt leicht. Zwar scheint die Sonne noch, aber ein Dunst ist aufgezogen, und die Bäume, die beiden Brunnen, die Bänke, die Stühle, die sitzenden, stehenden, gehenden Menschen, die umliegenden Häuser sind leicht milchig verwischt.
Er steht auf, verlässt auf der Rückseite den Square, ein leichtes Brennen im Bauch.
– 9 –
Sie hatten in der Firma eine junge Praktikantin. Sie war nicht einmal besonders hübsch. Trotzdem hatte sie etwas Bezauberndes. Ihr Auftreten, ihre Stimme, ihr Lächeln. Heute weiß er nicht, was ihn damals gestochen hatte. Jedenfalls fasste er sich ein Herz und lud sie eines Tages nach der Arbeit zu einem Kaffee ein.
Sie habe im Augenblick viel um die Ohren, entgegnete sie, aber ein andermal.
Es war kurz vor seinem Urlaub. Ja, vielleicht danach. Gerne.
Als er aus dem Urlaub zurückkam, begrüßte sie ihn mit drei Küsschen auf die Wangen. Er war verdattert und gleichzeitig geschmeichelt. Er wiederholte die Einladung. Sie saßen dann nach der Arbeit in einem kleinen Café. Er hätte sie gerne zum Essen eingeladen, aber wie sollte er das Claire, seiner Frau erklären. Er schrieb Sylvi, so hieß die Praktikantin, einen etwas zweideutigen Brief. Wahrscheinlich zu eindeutig. Jedenfalls wich sie ihm danach aus. Keine Küsschen mehr zur Begrüßung. Und er, er dachte die ganze Zeit an sie, obwohl er sich einen alten Esel schalt. Natürlich begegneten sie sich jeden Tag im Büro. Und er … Obwohl er sich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Er schrieb ihr noch mehrere Male. Einmal schrieb sie ihm zurück. Die Antwort war unmissverständlich. Und einmal antwortete sie, sie sei tief berührt, so einen schönen Brief erhalten zu haben. Er fing erneut Feuer. Doch im Betrieb wich sie ihm aus. Das Ganze wurde immer mehr zur Qual. Zum Glück war dann ihr Praktikum bald zu Ende und sie verließ die Firma. Das war schon so lange her. Der Straßenlärm reißt Max in die Gegenwart zurück.
– 10 –
Vor einer Eckkneipe gießt ein Mann mit gekraustem, schwarzem Haar, Zigarette schief zwischen den Lippen, eine teigige Masse aus einem Plastikeimer auf eine rauchende Platte, streicht den Teig mit einem Schieber dünn aus, wendet ihn gleich darauf, hebt ihn angebräunt von der Platte und legt ihn zu dem Haufen vorgefertigter Crêpes. Max kommt an ein paar kleinen Esslokalen vorbei, die alle Couscous anbieten. Wie wäre es, wenn er Claire wieder einmal zu einem Couscous royale einladen würde? Er sieht vor seinen Augen einen Berg aus Weizengrieß, daneben Lamm, Huhn, Merguez, sieht eine große Schüssel, worin in einer Hühnerbrühe verschiedenes Gemüse schwimmt, besonders Kichererbsen, er streicht in Gedanken Harissa an den Tellerrand, tunkt das Fleisch darin, die rote Paste aus Pfefferschoten brennt in der Kehle nach, während der Happen Fleisch schon längst gekaut und geschluckt ist. Aber womöglich würde Claire befinden, dieses Gericht sei zu scharf für sie und vor allem für ihn, er werde es später auf der Toilette zu büßen haben.
Er biegt in die Passage du Désir. Die Tafel ist nicht zu übersehen: «Urinieren verboten!» Freilich! Max lacht laut auf. Bei dem Namen – Durchgang des Wunsches – der Begierde – darf die entsprechende Verbotstafel nicht fehlen.
Die Passage mündet in eine Seitenstraße.