Endstation Alpenparadies. Markus Michel
hab ich mich. Reden nützt nichts, hat nichts genützt. Eine echte Liebesheirat war’s. Ehrenwort. Probleme gab’s erst, als sie das Kind bei der Geburt verloren hat. Hat die nie verkraftet. Zuerst hat’s mich nicht gestört. Hab selber nach der Arbeit gerne mitgetrunken. Dreißig Jahre bei der gleichen Firma. Verstehen Sie! Die haben mich geschätzt. Wenn es sein musste, konnte ich schon mal zwanzig Stunden ohne Unterbruch arbeiten. Ohne zu murren. Die haben mich geschätzt. Meine Frau ist manchmal tagelang besoffen gewesen. Erst hat’s mich nicht gestört. Beschimpft hat sie mich. Immer öfter. Dann hab ich zugeschlagen. Die Sicherung durchgebrannt. Eine Besserung hat’s nicht gebracht.»
Älter werden.
«Nur rumgelegen, tagelang. Irgendwo in der Wohnung gepisst. Bin nach Hause gekommen, nichts gekocht. Dann bin ich spazieren gegangen. Hab mir vorgenommen, sie ein wenig zu schütteln, wenn die Situation nicht bessert. Dann geraten wir wegen einer Kleinigkeit erneut in Streit.»
Die Metro hält an.
«Beschimpft hat sie mich. Hab sie von hinten gepackt und auf den Küchenboden fallen lassen. Die hört trotzdem nicht auf, mich zu beschimpfen.»
Menschen steigen aus …
«Hab ich ihr einen Faustschlag ins Gesicht versetzt. Soll sie endlich schweigen.»
… steigen ein.
«Die hört nicht auf. Ich hole aus und trete ihr mit dem Schuh ins Gesicht. Jetzt wird es still. Sie blutet stark.»
Die Metro fährt weiter.
«Auf allen Vieren ist sie bis zum Schlafzimmer gekrochen. Hab ihr dann aufs Bett geholfen. Eine Blutspur in der ganzen Wohnung, schöne Sauerei. Hab dann den Fernseher eingeschaltet, mich später im Wohnzimmer schlafen gelegt.»
Die Knollennase! Plötzlich fällt es Max wieder ein. Der Bürodiener seiner Lehrfirma, der Bürodiener, der an Krebs gestorben war!
«Um sechs bin ich arbeiten gegangen. Nach Feierabend auf ein Bier zu einem Arbeitskollegen. Gegen neun nach Hause. Sie hat nicht reagiert.»
Genau die gleiche Knollennase. Seltsam, denkt Max. Und gestern erst diese Ähnlichkeit des Toten in der Sackgasse mit dem alten Vertreter.
«Die Blutflecken auf dem Kopfkissen noch stärker. Der Körper kalt. Bleibt mir nichts anderes übrig, als den Rettungswagen zu benachrichtigen. Fragt mich der Richter, was sich nach dem Tod meiner Frau geändert habe.»
Gar nicht hinhören. Besser nicht.
«Nichts hat sich geändert. Eigentlich nichts.»
Die Knollennase. Max nagt an seiner Unterlippe. Eines Tages bleibt der Stuhl gegen das Pult geschoben, um kurze Zeit später schon von jemand anderem besetzt oder auch ganz einfach entsorgt zu werden. Eines Tages lässt man seine Frau verbluten oder stirbt an Krebs. Nachdem man jahrelang funktioniert hat, wie alle andern, geglaubt hat, eine Funktion zu haben. So ist das also! Oder aber eines Tages …
«Nichts hat sich geändert. Eigentlich nichts.»
«Japanische Leichenbestatter planen jetzt Bestattungen auf dem Mond!», sagt die Alte.
Max schüttelt verärgert den Kopf. Von einer mit roten Pantoffeln in der Metro ist nichts anderes zu erwarten. Wenn sie nur nicht wieder …
«Was ist schon ein Mond!», schnauzt ein Mann mit traurigen Hundeaugen.»
Der Mann mit der Knollennase stößt ein glucksendes Lachen aus. «Wir werden schon bei Lebzeiten von den Würmern gefressen. Tief in uns drin sitzen sie und knabbern.»
«Das Essen ist noch meine einzige Freude, und die ist leider immer zu schnell vorbei», sagt der Mann mit den traurigen Hundeaugen.
Max nagte an seiner Unterlippe. Er sitzt in der falschen Metro. Immer wieder.
Der Mann mit den traurigen Hundeaugen steigt aus. Die Alte winkt ihm. Der Mann mit den traurigen Hundeaugen dreht sich auf dem Bahnsteig um, hebt die Hand.
«Er sperrt meine Schwiegermutter zum Essen immer aufs Klo.» Die junge Frau streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Weil sie wie ein Schwein isst. Na, ein bisschen leid tut sie mir schon, aber es ist schließlich seine Mutter. Sie geht ja freiwillig. Sie weiß, dass es sonst nichts gibt. Die ist verfressen. Und er hat seine Prinzipien. Da rückt er nicht davon ab.»
«Um einen Augenblick zwischen zwei Schenkel zu stoßen, mein Gott, was nicht alles auf sich genommen wird, kopflos», sagt die Alte.
Max schüttelt den Kopf und erstarrt. Der Mann mit der braunen Lederjacke. Ganz hinten auf der letzten Sitzbank des Metrowagens. Der Dreitagebart, die Schiebermütze, hinter der die Haare gelockt hervor wuchern.
Max steht auf, geht zur Tür. Sobald die Metro hält, steigt er in den nächsten Wagen um.
Er will sich gerade setzen, schubst ihn ein Junge und lässt sich auf den Sitz plumpsen.
Unverschämter Lümmel, denkt Max, setzt sich ins nächste Abteil und starrt auf seine Schuhe. Wie er den Blick hebt, traut er seinen Augen nicht. Dort in der Ecke sitzt schon wieder die Alte. Und sie raucht einfach eine Zigarette, Rauchverbot, jetzt kichert sie noch, lacht ihn scheinbar aus, nicht hinsehen!
«Was soll mir schon passieren in meinem Alter!» Sie tippt die Asche auf den Boden. «Die dort, mit ihrem Bauch, die stört es, mir Wurst, selber schuld, wieso schafft sie sich einen Balg an! Oh, ich nehme keine Rücksichten mehr.»
Max nagt an seiner Unterlippe. Soll er einschreiten, die Alte zurechtweisen. Besser nicht. Wahrscheinlich würde er sich bloß lächerlich machen. Der rettende Ritter der schwangeren Frauen. Außerdem hat er keine Lust, in etwas hinein gezogen zu werden. Das hast du nun davon, würde Claire wieder einmal sagen. Zuweilen konnte sie gegen ihn Stellung nehmen, wo er sich wünschte, sie wäre ein bisschen solidarisch.
Was mag wohl Claire gerade machen? Komisch, bisher hat er sich dies kaum je gefragt. Aber sie hat sich ja auch nie für seinen Ärger mit seinem neuen Bürokollegen interessiert, diesem Schnösel.
Claire nimmt natürlich an, er sei zur Arbeit gefahren und sitze in seinem Büro. Wie immer. Soll er ihr alles erzählen? Nein. Keinen Zweck.
Sobald die Metro hält, steigt Max in den nächsten Wagen um.
– 17 –
Unterdessen dreht Claire Berger ihre Runden durch die Säle des Musée d’Orsay.
«Bitte nicht berühren!»
«Ich hab ja gar nicht», entgegnet die Besucherin. Dabei hat Claire es genau beobachtet.
«Aber atmen dürfen wir noch?», mischt sich der Begleiter der Frau ein. Claire zieht es vor, nicht zu antworten. Das hat keinen Sinn. Oft wäre es gescheiter, so zu tun, als hätte sie nichts gesehen. Es geht ihr nicht darum, die Besucher zurechtzuweisen, aber die Gedankenlosigkeit einiger Menschen ärgert sie. Ein Museum hat schließlich die Aufgabe, die Bilder auch für die kommenden Generationen im bestmöglichen Zustand zu bewahren. Und Finger hinterlassen nun mal Spuren, selbst wenn ein einmaliges Berühren ein Kunstwerk sicher nicht zerstört. Zum Glück gibt es mit den wenigsten Besuchern Probleme. Und wer es mit Menschen zu tun hat, darf keine allzu dünne Haut haben.
Sie ist für zwei Tage in der Woche im Aufsichtsdienst des Musée d’Orsay angestellt. Das reicht ihr auch vollständig. Am Anfang hatte sie oft das Gefühl, die Zeit gehe nicht um, alle fünf Minuten schaute sie auf die Uhr. Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt. Zwar langweilt sie sich manchmal immer noch. Und die Füße tun weh. Am Anfang hat Max sie jeweils gefragt, wie es gewesen sei. Na, wie schon! In letzter Zeit fragt er nicht mehr. Und das kränkt sie trotzdem ein bisschen.
Früher hatte sie ebenfalls im Büro gearbeitet. Zwar keine so gute Stelle wie Max. Immerhin. Eigentlich ist sie jetzt im Museum ganz zufrieden. Und die impressionistische Malerei, das Hauptgewicht des Museums, gefällt ihr wirklich gut.
«Aber atmen