Endstation Alpenparadies. Markus Michel
Immer noch. Das Lager will und will nicht kleiner werden. Wünschen Sie selbständig zu arbeiten? Hohe Verdienstmöglichkeiten? Nach einem Einführungskurs hat sie sich überreden lassen, Waren für mehrere tausend Euro abzukaufen, die sie nun weiterverkaufen sollte. Sie hat gar nicht gewagt, Max zu sagen, wie hoch die Summe ist, der hatte eh schon vorher gemeckert, und gerade deshalb ist sie wohl darauf eingegangen. Nun liegt es an ihr, neue Mitarbeiterinnen anzuwerben, die bei ihr den Warenvorrat kaufen müssen, zudem würde sie vom Warenverkauf an deren neu angeworbenen Mitarbeiterinnen eine Provision bekommen, wovon sie zwar selbst einen Prozentsatz nach oben abliefern muss, aber mit der Zeit würde sie immer höher steigen, und somit auch ihr Verdienst. Bis jetzt ist sie ein Abstellgleis auf diesem Netz.
– 18 –
«Spuren im Schnee», sagt die Alte. «Fußspuren. Spuren von Frauenschuhen.»
Es ist wie verhext, von dieser Alten ist einfach nicht loszukommen!
«Schon dreimal bin ich abgehauen.» Der junge Bursche lächelt. Eine Narbe über dem linken Auge. «Wollte keinen Ärger mehr mit meinem Vater. Das erste Mal ging ich zum Place Pigalle.»
Die Polizei nahm Jules ein Springmesser ab, brachte ihn nach Hause ins kleine Dorf in der Picardie.
Max stutzt. Seine Frau ist in der Picardie aufgewachsen.
Beim zweiten Mal wollte Jules in Le Havre auf einem Schiff anheuern. Er lernte in einer Bar eine junge Frau kennen, verliebte sich, das Schiff fuhr ohne Jules ab. Er wollte sie heiraten. Dazu musste er das schriftliche Einverständnis des Vaters einholen, er war noch nicht achtzehn. Der Vater polterte, erst müsse er im Dorf die Lehre abschließen. Nach zwei Monaten bekam Jules einen Brief. Die Braut riet ihm, sich in Le Havre gar nicht erst wieder blicken zu lassen. Jules gab die Schreinerlehre auf, der Vater jagte ihn davon. Kein Geld, Jules hungert. Er beschließt, jemanden niederzustechen, dann komme er sicher ins Gefängnis. Es regnet. Niemand kommt ihm entgegen. Endlich wird er von einer alten Frau überholt. Jules umklammert das Messer in seiner Tasche. Er zittert am ganzen Körper. Die alte Frau scheint die Gefahr zu spüren. Sie beschleunigt ihren Schritt, rennt beinahe. Aber wieso denn? Ist doch sinnlos, denkt Jules. Er ist allemal schneller, er ist schließlich jung. Schon hat er sie eingeholt. Jules stößt ihr das Messer in den Rücken. Jules läuft zur Polizeiwache. Er hört die Sirenen der Ambulanz.
Wieso sitzt der seelenruhig in der Metro, fragt sich Max. Gilt jetzt das Niederstechen einer alten Frau bereits als Kavaliersdelikt? Jedenfalls eine hübsche Gesellschaft.
«Man kann ja schon nicht mehr den kleinsten Park betreten, dabei würde mir ein bisschen Grün guttun.» Die Alte wippt mit den roten Pantoffeln. «Immer mehr Frauen mit ihren Bälgern, von Tag zu Tag immer mehr. Eine richtige Epidemie, dieses Kinderkriegen.»
Jules lächelt. Max wird es unheimlich. Könnte der junge Bursche nicht jeden Augenblick ein Messer zücken. Die Alte mit den roten Pantoffeln weiß wohl nicht, in welcher Gefahr sie sich befindet.
«Ich hab nichts gegen die Alten», sagt Jules.
Vielleicht ist es besser, niedergestochen zu werden, denkt Max.
Die Metro fährt hoch, verlässt den Tunnel, fährt jetzt über der Straße auf Höhe der Hausdächer.
Unten auf dem Gehsteig wimmelt es von Menschen.
«Er ist tatsächlich gekommen», sagt der Schwarze. «Ich habe ihn eingeladen, und er ist gekommen!»
Max hätte schwören können, dass es der gleiche ist, der die Geschichte vom Paradies erzählt hatte. Jedenfalls trägt er ebenfalls einen weißen Schal. Wie kommt der jetzt …? Die heften sich an seine Fersen. Alle Verrückten dieser Stadt.
Der Schwarze lacht laut heraus. «Für meinen Plan hab ich eine Hütte auf einer einsamen Alp gemietet.»
Max kratzt mit dem Nagel des Zeigefingers über die Kuppe des Daumens. Immer wieder die Alpen. Scheinbar ohne Zusammenhang. Die Alpen! Jedenfalls merkwürdig, dass hier in der Pariser Metro … Zufall?
Oder bildet er sich alles nur ein? Hinter allem und jedem.
«Diese Personen sind doch ohne Fleisch und Blut!» Der Schwarze schnalzt. «Das Blut werden sie gleich fließen sehen, sagte ich. Der Kritiker-Papst lachte nur.
Es ist ein Fehler, dass sie mich nicht ernst nehmen, sagte ich. Diesmal ist es ein Fehler. Da fing dieser Hund tatsächlich an, auch noch meinen geplanten Mord zu kritisieren. Als ob nicht er das Opfer sein würde, diesmal.»
Das wird ja immer besser, denkt Max.
Der junge Mann, der angeblich eine alte Frau niedergestochen hatte, hält sich die Ohren zu.
Der Schwarze fixiert Max. «All die Generäle und Generaldirektoren, die am Schreibtisch über Menschenleben entscheiden. Und die Politiker. Nur die Verwirklichung ihrer Ideen zählt. Erfinde ich lieber die Menschen ebenfalls dazu.»
«Aber die Menschen verlangen nach Führung», mischt sich eine junge Frau ein.
«Weil sie schon von klein an so abgerichtet werden.»
«Unsinn!»
Ein kleines Muttermal an ihrem Hals etwas unterhalb des Ohrrings. Sie scheint den Blick von Max zu spüren und schiebt ihren Seidenschal darüber.
«Heute wird es ihnen täglich eingeflüstert, tagtäglich», sagt der Schwarze. «Es heißt nicht mehr: «Du sollst», auf Schritt und Tritt wird ihnen «Du darfst» ins Ohr geträufelt.»
«Jeder ist so frei, zu folgen oder nicht.»
Der Schwarze lacht lauthals. «Für diese deine Freiheit werden auf tausendundeinem Werbekanal nicht Millionen verpulvert!»
«Sie müssen es ja wissen.» Die Stimme der jungen Frau voller Verachtung. «Im Grunde genommen hassen es die meisten Menschen, selbst irgend eine Entscheidung zu fällen. Am glücklichsten sind sie in Krankenhäusern, Gefängnissen und Kasernen.»
«Ich werde eine Hütte auf einer einsamen Alp mieten, werden ja sehen. Ich fahre jetzt zu einer Agentur.»
«Arschloch», zischt die junge Frau.
Der Schwarze hat die Augen geschlossen, singt mit weicher Stimme:
Sieben Elefanten
fraßen einen Kanten
Brot mit ihren Tanten
Nö das war nicht viel
kaum mehr als ein Spiel
Die sieben Elefant
bald wurden dünn genannt
Oh sie hörten’s gern
doch der Tag nicht fern
heißt es Kinder schaut
die sind nur noch Haut
Die Metro fährt hinunter, fährt in den Tunnel.
«Hab ich etwa nicht das Recht, etwas Hübsches anzuziehen?!» Die junge Frau schaut Max herausfordernd an.
Was will die von ihm. Max ist sich nicht bewusst, ihr nur den kleinsten Anlass gegeben zu haben, gallig zu werden. Sein Blick hat sie nur flüchtig gestreift.
«Wieso sollte ich nicht auch was Hübsches anziehen dürfen?!»
Ist jetzt ja Mode, sieht man laufend, und dass sie nicht die Figur einer Ballettratte hat, dafür kann sie nichts, wenn sie sich unbedingt lächerlich machen muss, bitte, kein Grund, ihn als Blitzableiter zu benutzen, lieber nicht reagieren, er sitzt bloß hier, niemandem darüber Rechenschaft schuldig, stört nicht, will nicht gestört werden, Irrsinn, seine Anwesenheit entschuldigen zu müssen, dieses Gefühl schon immer in ihm, seit jeher, sich dessen ganz plötzlich bewusst, was will die von ihm, such dir jemand anderes, sitzt bloß hier, und sonst nichts.
«Scher dich zum Teufel, Opa!», sagt die Frau und stapft nach hinten. In diesem Augenblick wird der Metrowagen hochgehoben, Max nach