Endstation Alpenparadies. Markus Michel

Endstation Alpenparadies - Markus Michel


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Tote in der Sackgasse. Die frappierende Ähnlichkeit mit Seifer. Nein, er kann es unmöglich sein. Aber was heißt unmöglich? Max atmet die frische Luft tief ein. Sollte er noch einmal hingehen? Inzwischen würde die Leiche längst entdeckt und abtransportiert worden sein. Abgesehen davon hat er keine Ahnung, in welcher Sackgasse sie lag, ist er doch bloß darauf bedacht gewesen, ungesehen zu verschwinden. Vielleicht würde er durch Zufall darauf stoßen. Er könnte sich im betreffenden Viertel nach dem Alten erkundigen. Aber möglicherweise wohnte er gar nicht dort. Ganz abgesehen davon ist er, Max, kein Detektiv, er hätte nicht die geringste Ahnung, wie vorgehen. Und in seiner Situation ist es nicht ratsam, aufzufallen.

      Max geht zurück ins Bett.

       – 13 –

      Max steht wie üblich auf. Claire hat wie üblich Kaffee gekocht, zwei Croissants, Butter und Konfitüre auf den Tisch gestellt. Max hastet wie üblich zur Tür hinaus, hastet zur Metro, zwängt sich in einen der überfüllten Wagen, zwängt sich zwischen die Verschlafenheit, die Schlaflosigkeit, die Übellaunigkeit, die Stumpfheit, schiebt sich in eine Wolke, einen Duft nach schweißigen Betttüchern, Deodorant, Eau de Toilette.

      Gegen Morgen muss er doch noch kurz eingeschlafen sein. Jedenfalls hat er von einem kleinen schwarzen Hund geträumt. Obwohl er sich jetzt nicht mehr erinnert, worum es ging. Ein kleiner schwarzer Hund mit einem weißen Fleck unter dem Schwanz. Irgendwie hängt es mit der Hundekacke zusammen, in die er neulich vor dem Metroeingang getreten ist. Die reinste Banalität. Das ist auch ihm klar. Und trotzdem.

      Als sie in der Station St-Lazare einfahren, sieht Max, dass der Bahnsteig schwarz von wartenden Menschen ist. Die graubuntschwarze Woge aus der westlichen Banlieue, die in vollgepferchten Vorortszügen im Bahnhof St-Lazare angerollt, die Treppen in den Untergrund hinuntergespült worden ist, flutet durch alle Türen der Metro, drückt die sich bereits darin stehenden Fahrgäste, die nicht das Glück haben zu sitzen, an die Wand, dass ihnen die Luft wegbleibt. Max, der einen Sitzplatz ergattert hat, sagt sich plötzlich, dass er nicht mehr dazu gehöre, sonst wäre ihm dies alles gar nicht aufgefallen. Der Straßenfotograf, der ihn gestern knipsen wollte, hatte doch die richtige Nase, obwohl er um diese Zeit ja noch gar nicht … Aber war er nicht schon am Vorabend in der Metro falsch umgestiegen? Dabei kennt er das gesamte Netz auswendig. Er fährt zwar seit über dreißig Jahren nur auf der Linie 3. Trotzdem kennt er das gesamte Netz, wenn auch rein theoretisch vom Schreibtisch her. Wenn Max im Büro gerade nichts zu tun hatte, studierte er mit großem Eifer den Metroplan, ließ Namen wie Trocadéro, Glacière, Robespierre, Jasmin, Malesherbes, Jaurés auf der Zunge zerschmelzen, konnte ohne zu überlegen sagen, wie man fahren und wo man umsteigen musste, um zum Beispiel von Plaisance nach Emile Zola zu gelangen, ohne den Bauch von Paris zu berühren.

      Buntgrauschwarz. Wo stiegen sie um, um wohin zu gelangen? Würden gleich den Mantel in einen Schrank hängen. Würden sich in großen Kaufhäusern auf die verschiedenen Abteilungen in den verschiedenen Stockwerken verstreuen, würden Büstenhalter, Krawatten, Schnuller, Käse, Wurst, Räucherstäbchen, chinesisches Porzellan verkaufen, würden durch Hinterhöfe und Magazine Kisten schleppen, am Fließband stehen, Maschinen überwachen, von Maschinen überwacht werden, an Computern sitzen, hastig an einer Zigarette ziehen.

      Nein, er, Max Berger, gehört nicht mehr dazu. Und so bleibt er in «Sentier» in sich zusammengesunken im Wagen sitzen, fährt weiter.

      Die fahren alle zur Arbeit, als wäre nichts geschehen. Max fängt an, sie zu beneiden.

      Plötzlich hat er eine Idee.

      Er steigt zwei Mal um. Fährt jetzt wieder die gleiche Strecke wie fälschlicherweise am Vorabend seiner Kündigung. So sehr er auch die Ohren spitzt, kein Wort davon, was er vorgestern gehört und ihn so in Verwirrung gebracht hatte. Das beweist nichts, obwohl er gehofft hat, gerade hier etwas zu vernehmen, irgendetwas, das ihm hätte helfen, oder wenigstens alles bestätigen oder entkräften können.

      Alpenparadies Dolce Vita. Ha! – Einfach lächerlich!

      Beim Place d’Italie steigt er um auf die Linie 6 in Richtung Nation, wechselt in Nation auf den nördlichen Halbkreis. Kein Wort davon, was er am Vorabend seiner Kündigung in der Metro gehört hatte.

       – 14 –

      «Lieber Herr Papst, Sie legen bestimmt keinen Wert darauf. Ich meine, dass ich Sie mit Seine Heiligkeit oder sonst welchen Titeln anrede.»

      Die alte Frau sitzt in einer Ecke des Metrowagens.

      «Wird doch Gott ebenfalls … nicht nur die Ungläubigen duzen ihn.»

      Die nackten Beine, roten Pantoffeln.

      «Erst später wurde Herr Jesus und Herr Gott …»

      Außer Max scheint ihr niemand zuzuhören.

      «Herr Papst, wahrscheinlich haben Sie noch nie … nackt in den Armen einer nackten Frau.»

      Ihr strähniges Haar.

      «Obwohl allgemein bekannt ist, viele Geistliche, und sie taten bestimmt nicht schlecht daran. Wer ist der größere Heuchler, derjenige, der es genießt und dagegen predigt oder derjenige …»

      Der Blick geradeaus. Die Alte hat er doch schon mal gesehen! Gestern Nacht auf der Straße. Kurz bevor er den Toten in der Sackgasse …

      «… und gegen etwas predigt, das er nicht kennt? Die Lebewesen sollen sich nun mal fortpflanzen.»

      Die roten Pantoffeln berühren kaum den Boden.

      «Liebe … Wie schön! Selbst wenn es zur Fortpflanzung keine … So wenig wie die Liebe die Fortpflanzung braucht.»

      Was will sie eigentlich, denkt Max. Der Stellvertreter fährt nicht Metro.

      «Fleischeslust, sündiges Fleisch, was für eine Schlachthaussprache!»

      Ob Gott die Metro nehmen würde? Oder eher den Autobus. Sieht er mehr.

      «So manche Frau ist daran verblutet. Ist dies Eure Liebe? Mütter und Huren. Weil Ihr Angst habt.»

      Die Metro hält. Ein paar Menschen steigen aus. Ein paar Menschen steigen ein. Die Metro fährt weiter.

      Max schielt nach links und nach rechts. Das Gefühl, auf dem Plastiksitz festzukleben. Ach, lass sie reden.

      Ein Schwarzer mit weißem Schal dreht sich nach Max um: «Der liebe Gott ist gerade aufgestanden und wandelt durch das Paradies.»

      Ein breites Grinsen auf dem Gesicht des Schwarzen. Max weiß nicht, wohin schauen. Auf keinen Fall will er hineingezogen werden. Er hat sich also getäuscht. Er ist nicht der einzige, der zugehört hat. Jetzt schweigt sie. Oder gibt es gar keinen Zusammenhang? Noch ein Verrückter?

      «Der liebe Gott nagt an den Fingernägeln. Seit er aufgestanden ist, quält ihn die Frage, ob er sich den Bart wieder wachsen lassen soll, den er neulich abgeschnitten hat.»

      Muss dieser Kerl gerade ihn fixieren? Max kratzt mit dem Nagel des Zeigefingers über die Kuppe des Daumens.

      «Es gilt zu bedenken, dass die Menschen ihn seit alters mit einem Bart kennen und ihnen dieses Bild lieb geworden ist. Andererseits kann eine Veränderung nicht schaden, gerade in diesen Zeiten, zu allen Zeiten, aber er kann ja nicht laufend die Visage wechseln ohne das Gesicht zu verlieren.»

       – 15 –

      Ein Herr im Zweireiher biegt um die Ecke.

      «Herrgott, wir müssen miteinander reden!»

      «Grüßgott», sagt Gott und fügt sichtlich geschmeichelt hinzu: «Wie ich sehe, haben Sie mich gleich erkannt. Mit wem habe ich die Ehre?»

      «Mac Piss, Generaldirektor des Mac Pissburger-Imperiums.»

      «Oh, sehr erfreut! Herzinfarkt?»


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